Etwas andere Einleitung - zweite Runde

Philosophie

Wenn die Frage des Seins oder Nichtseins die Urfrage der Philosophie ist, dann ist es wohl an mir, diese zweite Runde unseres Gespräches zu eröffnen. Und ich will direkt an die erste anschließen und also an dich, Anthroposoph, zurückfragen: Wie sollen wir denn über den Tod oder das Ende vieles oder auch nur irgendetwas aussagen können? Gilt nicht - lass mich jetzt scherzen -, dass es über das Nichts nichts zu sagen gibt, außer vielleicht, dass es eben gar nicht existiert?

Nun ist der Tod zwar real, aber er ist eben das Ende des Realen, und wir können ihn möglicherweise hinauszögern, indem wir möglichst gesund leben, aber verhindern können wir ihn nicht.

Und auch der Gläubige kann ihn nicht verhindern, nur dass er sich im Gottesgedanken einen faulen Ausweg erfunden hat, einen Vorwand, den er über die unzufriedenstellende Realität darüberlegt, um sie ertragen zu können, oder vielmehr, um sie gerade nicht ertragen zu müssen.

Du bist also der Meinung, der Mensch könne Gott als Gott selbstlos anerkennen und hierbei nichts von ihm für sich selbst haben wollen?

Dann hast du in deinem theologischen Denken aber keinen Geringeren als einen Martin Luther zum Gegner, der in seiner "Disputation gegen die scholastische Theologie" (aus dem Reformations-jahr 1517) eine These 17 und 18 formuliert, die da lauten:

17. Der Mensch kann von Natur aus nicht wollen, dass Gott Gott ist.
(xvii Non potest homo naturaliter velle: deum esse deum.)

18. Vielmehr wollte er, er sei Gott und Gott sei nicht Gott.
(xvii Immo vellet se esse deum. et deum non esse deum.)

[Text-/Übersetzungsnachweis siehe: 3. ABC-Versuch unter F. Unser, Kap. 12]

Was sagst du nun!?

Auch ich glaube nicht, dass es dem Menschen je gelingen könne, Gott bzw. einen Gott selbstlos anzuerkennen. Und das genau ist der Grund dafür, dass die Religionskritik nicht nur die Religion des Menschen hinweggefegt hat, sondern den von ihm erdachten Gott gleich mitwegnehmen musste.

Es ist freilich schon bemerkenswert zu sehen, dass ein Luther bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts in eine tiefenpsychologische Denkrichtung voraus-blickt.

Ja, so könnte man sagen.

Auf die oder eine angebliche Dialektik muss ich ja jetzt wohl nicht näher eingehen.

Was aber das Leben und Sein betrifft, so ist ja allgemein offensichtlich, dass der Mensch über einen irrealen Lebenswillen verfügt, den wir in die Worte fassen könnten "Ich will sein." Aber diese Worte greifen noch zu kurz, denn eigentlich besagt dieser Lebenswille auch: "Ich will bleiben."

Und wenn wir uns die Natur ansehen, wie sie sich uns zeigt und wie wir in sie eingebunden sind, so würde sie, wenn sie sprechen könnte, uns und unserem Lebenswillen entgegnen: "Du willst bleiben? Nein, das geht nicht. Mein Wirklichkeitsprozess ist ein solcher, dass ständig für Neues Platz gemacht wird, so dass eine möglichst große Vielfalt im Sein zu stehen kommen kann. Alles kann eine Weile bleiben, muss aber dann wieder gehen, damit Neues und Anderes nachkommen kann. Dein Wunsch nach Dauer stört diesen organisch-lebendigen Prozess. Er ist unvernünftig. Bist du sicher, dass du ein animal rationale bist?"

Wer sagt denn, dass das Seinsganze einen Sinn ergeben muss? Es kann doch sehr wohl letztlich in sich sinnlos sein. Und dies ist auch tendenziell das Denken des Materialismus-Atheismus: Ein Materie- oder Energieprozess spult sich ab, der dann auch einen fragenden Menschen aus sich hervorbringt. Und diese Fragen bleiben letztlich unbeantwortet, weil der Prozess des Nachdenkens nicht wesentlich zum Universum gehört, sondern als bloße Schaumkrone, Blasenbildung oder rationales Blubbern obendrauf kommt, wie ein Überbau, ein Luxus und Überfluss, ohne tieferen Sinn und Zweck.

Der entscheidende Grund liegt darin, dass es mir mit dem philosophischen Streben zur Wahrheit ernst ist, und da der Mensch nun einmal ein Sozialwesen ist, erachte ich es als gut und richtig, die Erkenntnis der Wahrheit mitzuteilen und nicht für mich zu behalten.

Den Terminus "einlullen" finde ich trefflich gewählt. Nur würde ich ihn in einer Art und Weise adressieren, die dir, Theologe, wohl kaum gefällt.

Denn ich denke hierbei an die Vermittlung des sog. Wortes Gottes in der Kirche, in den Predigten. Dieses Evangelium scheint mir nämlich von unseren Predigern und Theologen emotional dargereicht zu werden als eine "Alles-wird-gut-Stimmung".

So wie es in Schlagern gar nicht auf die Worte im Einzelnen ankommt, sondern nur auf die genannte Stimmung, die über den zwischendurch thematisierten Sorgen und Nöten des Alltags im Refrain immer wieder durchschlägt. Ebenso muten mich die Predigten an: "So hört doch die Frohbotschaft: Wir sind gerettet worden!" - seit 2000 Jahren immer die gleiche Leier, mehr fällt den Theologen und Kirchen nicht ein.

Und es wundert mich in keinster Weise, dass die Kirchen leerer und leerer werden, wobei sich die Konfessionen hinsichtlich ihrer Erfolglosigkeit gegenseitig in nichts nachstehen. Die Aufklärung hat offenbar doch etwas gefruchtet, und so ist das Schafsein der Schafherde nicht mehr so groß, dass das kerygmatische Einlullen nicht bemerkt würde.

Und so sehen die Gläubigen zunehmend weniger ein, weshalb sie Pfarrer, Pastoren, Hirten für eine überflüssige, weil unglaubwürdig gewordene Leistung bezahlen sollten?

Diese Leistung mag ja alles mögliche sein, nur nicht das, was du, Theologe, von Anfang an als wichtig herausgestellt hast: Die Vermittlung des Wortes Gottes in unsere Wirklichkeit und Gegenwart.

Und wenn dieser "Heilige Geist" wirksam sein sollte, dann müssten Theologie und Kirche ein Doppeltes darlegen können: Das Wirksamwerden des Wortes Gottes in unserer Wirklichkeit, und zugleich umgekehrt: Das Enthaltensein unserer Wirklichkeit und Gegenwart im Wort Gottes, also auch oder schon in der Bibel, die m.E. ja nicht zu knapp auch über die Zukunft spricht und sogar eine "Offenbarung der künftigen Ereignisse" am Ende mitumfasst, allerdings in einer sehr rätselhaften Form, was einen theologischen Terminus wie "Offenbarung" doch sehr "kryptisch", um nicht zu sagen: madig, erscheinen lässt.

Ja, das sehe ich auch so. Und es freut mich, wenn wenigstens hier im Gespräch zwischen uns endlich einmal auffällt, dass man die Philosophie völlig zu Unrecht zurückgesetzt hat. Nichts und niemand ist so eng und ursprünglich an der menschlichen Existenz dran wie die Philosophie. Deshalb konnten die Wissenschaften auch keine Existenz-Wissenschaft hervorbringen, weil im Terminus "Existenz" das Ganze des Seins mitgesetzt ist und sein muss. Das ist unserer Wissenschaft aber "zu viel", sie will das Einzelne und Überschaubare und übersieht daher die menschliche Existenz in ihrer Ganzheitlichkeit geflissentlich, zerlegt sie vielmehr in viele, für sich selbst genommen lebensunfähige Einzelbestandteile.

Und so hat sich in der modernen Wissenschaft eine falsche Priorisierung ergeben: Naturwissenschaften vor Geisteswissenschaften, und die Philosophie unter ferner liefen. In Wahrheit ist die Philosophie am nächsten an der Problemlösung dran, zumindest stellt sie die Forschungsproblematik an der Stelle heraus, an welcher sie - eigentlich - besteht: in der Existenz des Menschen, die ja das Fragen und Forschen aus sich selbst heraus überhaupt erst hervor- und auf den Weg gebracht hat.

Unsere Wissenschaft aber hat diese ihre eigene Verursachung und Wurzel vergessen und glaubt doch nun tatsächlich, unabhängig von dieser menschlichen Existenz irgendetwas Eigenständiges, Wertvolles und Brauchbares sein zu können. - "Brauchbar" ja, aber nicht zum Voranbringen des Menschen in seiner Existenz, mit der "die Wissenschaft" - ein nichtexistentes Abstraktum -  überhaupt nichts anfangen kann.

"Seelsorge" ist ein gutes Stichwort! Warum heißt es denn nicht "Geistsorge", wenn doch der Geist im christlichen Glauben so ganz besonders hervorgehoben, nun ja, hofiert wird?

Spar dir die Antwort auf meine rhetorische Frage, ich gebe sie selber: Weil der Mensch sich nun einmal mit der Todesrealität, mit seiner Endlichkeit nicht abfinden kann. Also muss die Realität so gedacht werden, dass der Mensch nicht nur physisch, sondern auch seelisch lebensfähig ist. So kommt zuerst "Gott" ins Spiel, und dann der "Seelsorger", der nicht nur Mitleid hat, sondern die Sache im Grunde genauso sieht, nur dass er seine Selbststärkung durch Gott als Sozialstärkung an seine Mitmenschen weitergibt.

Damit sein eigenes Verstehens- oder Geist-Defizit nicht so auffällt (auch vor sich selbst nicht), übertüncht er es also mit seiner gewiss überaus großen Fürsorge für Andere, was ihm ein gutes Existenz-Grundgefühl gibt, das in die unausgesprochen und unbewusst bleibenden Worte gefasst werden kann: "Jemand, der sich wie ich so sehr für die Anderen einsetzt, wird doch wohl von Gott ganz gewiss nicht fallen gelassen werden" usw.

Und deshalb muss in einer solchen "seelischen Religiosität" ein Satz über die Maßen hochgehalten werden, der eine Wendung wie "höher als alle Vernunft" oder "alles Verstehen übersteigend" enthält - so viel zur angeblichen Geistbetonung des kirchlich angeblich gelebten Christentums...

Womöglich kennt unser Anthroposoph ja ein anderes und besseres Christentums-Verständnis, das mehr Stringenz und Konsequenz aufweist?

Ich unterstütze diesen Vorschlag. Mir erscheint der Anthroposoph ein wenig wie Sokrates, der womöglich Hörer seiner Gespräche magisch anzog, indem man immer gespannt sein konnte, wie Sokrates auf eine vorgebrachte Aussage reagieren würde und mit welcher Antwort-Überraschung er dann auch immer aufwarten konnte.

Nur dass man bei Sokrates immer auf der Hut sein musste, besser nur passiver Hörer zu bleiben und nicht aktiver Gesprächsteilnehmer zu werden, weil jederzeit zu befürchten stand, man könne die Aufmerksamkeit des Sokrates erregen und am Ende selbst in die Treibjagd und Fänge seiner Befragungstechnik hineingeraten.

Allerdings hat es bei dir, Anthroposoph, den Anschein, als wärest du - verzeih mir diesen Spott oder Scherz - ziemlich "blutlos", im Gegensatz zum warmherzig-impulsiv-jovialen Sokrates. Es mag daran liegen, dass Anthroposophen vielleicht glauben, sich möglichst nach dem Vorbild ihres Lehrers Rudolf Steiner verhalten zu sollen, der seine Emotionen wohl so sehr im Griff hatte, dass ihm schwerlich jemals ein Lachen hätte auskommen können, so vermute ich einmal, was ja in gewisser Weise auch wiederum einen lebensbefremdlichen Eindruck macht, nicht unbedingt den eines Menschen unter Menschen, wenn ihr versteht, was ich meine.

Eines jedoch erbitte ich mir unbedingt hierbei: Der Glaube kann nicht einfach vorausgesetzt bleiben, sondern er muss von meiner Vernunft aus als vernünftig einsehbar werden, soll heißen: Ich bin zu keinem "Sprung in den Glauben" bereit. Es muss eine Vernunftgrundlage vorhanden sein, von welcher aus die Annahme und Akzeptanz einer "Geistwelt" plausibel wird. Ist sie nicht möglich, werde ich euer "Glaubensgespräch" boykottieren und untergraben, als unannehmbar und unver-nünftig.

Ich schließe mich diesem Protest an! Anstatt dich mit meinem Glaubenssprung zu befassen, um mir über meinen begrifflichen Graben zu helfen, was du angeblich kannst, aber nicht machst, tust du nun einen zweiten Graben und Sprung auf, wie unser Theologe ja eben feststellte!?

Du bist dabei, unsere Kommunikation, unsere Begrifflichkeiten und Sprachen voneinander zu entfernen, anstatt sie einander näherzubringen oder gar zusammenzuführen.

Gut, dann lasst doch mich bitte den Anfang machen. Denn mich und euch trennt ja ganz offensichtlich mehr als euch beide, die ihr gewillt seid, den Geist als Substanz des Universums anzusehen. Und der Unterschied ist nur, dass der Theologe zu einer Zweiheit der Wirklichkeit und Welt tendiert, irdisch-gegenwärtig-vorübergehende und himmlisch-zukünftig-dauerhafte, während der Anthroposoph sie einheitlich denkt, wonach die gegenwärtige Trennungs-Wahrnehmung des Irdischen und Himmlischen das Vorübergehende sei und in eine Einheits-Wahrnehmung in die zukunft hinein übergehen werde.

Ich greife meine Darlegung von oben wieder auf: Der Mensch findet einen Lebenswillen in sich, den wir sprachlich fassen können in ein "Ich will sein. Ich will bleiben." Unsere Natur und Wirklichkeit zeigt uns aber, dass es sich hierbei um einen irrealen Willen handelt. Und deshalb sollte ein philosophischer Denkprozess im Menschen greifen, der sein Denken berichtigt und mit den Wirklichkeitsfakten in wahrheitsgemäße Überein-stimmung bringt.

Dieser Sachverhalt insgesamt ist doch gar nicht so sehr schwer begreifbar und zeigt, wie alles theologische und spiritualistische Denken ein überflüssiges Sprudeln und Luft-Verpuffen ist, zu dem Sinn und Zweck, dass der Mensch erfolgreich vermeiden könne, dem kosmischen Nein zu seinem Ewigkeits-Wunsch ins Auge zu sehen.

Glaube, Theologie, Spiritualismus sind daher als Abwehrmechanismen des menschlichen Ich anzusehen, das Aufrichten und Aufbauschen einer Pseudo-Wirklichkeit, letztlich gründend in einem Willen zur Unwahrheit. Denn die Wahrhheit will ja offensichtlich nicht ertragen und nicht angenommen werden.

Jetzt bin ich aber sehr gespannt auf deine weiteren Ausführungen! Ich halte meinen Denkschluss für richtig, konsequent, vollständig, ja, evident. Man kann ihn nicht mehr in Frage stellen, sondern wir sind in ihm bereits ans Ende alles Fragens gelangt, so dass bestenfalls noch ein "Glaube", ein "Glaubenssprung" möglich ist, der mir aber nach wie vor unzulässig erscheint.

So halte mich doch nicht länger hin! Alles, was du eben sagtest, weiß ich doch längst und räume es auch ein. Das, was mich hier und jetzt brennend interessiert, ist, mit welcher ausgeklügelten "dialektischen Denkkunst" du mich nun eines Besseren belehren willst?

Also gut, dies kann ich auch noch alles einräumen. Nun möchte ich aber doch wissen, wie du in der Frage um Leben oder Tod, Sein oder Nichtsein weiterverfahren können willst, denn ich kann keine Möglichkeit tiefergehender Reflexion erkennen.

Deine Ausdrucksweise gefällt mir!

Bitte jetzt weiter im Gedanken. Ich will ihn unbedingt zu Ende gebracht wissen.

Dies möchte ich hier aber schon als ganz gewiss behaupten. Und wenn ich berücksichtige, was alles Menschen innerhalb der uns näher bekannt gewordenen Geistesgeschichte - sagen wir: seit den Vorsokratikern - an Gedankengut darüber entwickelt haben, so scheinen mir diese beiden Urteile als fix und gültig bestehen zu bleiben.

Und das ist ja wohl auch der Grund, weshalb es innerhalb der Menschheit nach wie vor weltanschauliche Meinungsverschiedenheiten gibt und die Menschheit Welten davon entfernt ist, geistig eins zu werden.

Freilich kenne ich selbst dieses Gedankengut nicht komplett, aber, wenn einer darüber hinaus-gekommen wäre, so wäre es gewiss kommuniziert und also publik geworden.

Ja, das ist richtig. Nur macht mich die Bestimmtheit und Zielsicherheit deines Redens jetzt etwas stutzig... Fahre also fort.

Nun es ist eben eine fixe Idee, die er hat und die nicht weiter rückführbar ist.

Das ist meine Überzeugung. Das siehst du völlig richtig. Und ich bleibe mir und meiner Weltanschauung darin auch treu und bin konsequent.

Ja, und? Es ist meine Überzeugung, und ich bleibe meiner Weltanschauung immer noch treu.

Jetzt spielst du aber mit unserer Wirklichkeit. Du flüchtest dich in ein Denk- und Sprachspiel. Es ist doch allgemein evident, dass das Sterben und der Tod des Menschen ein Faktum ist, das nicht ernsthaft bezweifelt werden kann.

Ja, gut, können wir. Man könnte zwar auch die Ansicht vertreten, es sei Zeitvergeudung, sich mit Gedanken zu befassen, die man bereits als falsch erkannt hat, oder - meinetwegen - die man für falsch hält. Aber das soll mein Problem nicht sein. Denn im Materialismus hat der Mensch eine ganze Menge Zeit für sein Denken, um nicht zu sagen: die volle Ewigkeit. Denn das Denken hat mit dem Wirklichkeitsprozess selbst nichts zu tun, sondern kommt als Überschuss und Überfluss oben drauf. Und dann bleibe ich ja auch hierin mir selbst treu, wenn ich überflüssige Gedanken anstelle, weil es im Grunde andere gar nicht gibt.

Lasst uns nicht den Faden verlieren, sondern bei der Sache bleiben. Die momentane Fragestellung lautet, ob der Existenz-Widerspruch, in welchem wir uns als Menschen befinden, auch von der anderen Seite her auflösbar sei, also: Das "Ich will sein" ist wahr, und das "Du musst gehen" ist falsch. - Und ehrlich gesagt halte ich dies immer noch für eine krankhafte, unsinnige, absurde Fragestellung, bleibe aber bei meiner Bereitschaft, diesen umgedrehten Gedankengang einmal versuchsweise auszuhalten.

Auf dieses Nachdenken bin ich aber nun gespannt. Ich wüsste nicht, was an diesem "Gegenstand" groß erkennbar wäre?

Ich bin fasziniert, wie intensiv Platon - selbst über die Jahrtausende hinweg - seine absurden Gedanken scheinbar plausibel weiterreichen kann. Du führst ihn hier so anschaulich vor, gehst auch, wie ich meine, über seine eigene, eher sporadische Darstellung hinaus, aber in einer Weise, dass man meinen könnte: Platon selbst habe dir das gesagt, und zwar über das von ihm schriftlich Überlieferte hinaus!? So dass man neugierig werden möchte, ob es von ihm nicht vielleicht doch auch noch eine "Geheimlehre" gibt, die er dem Schriftlichen nicht anvertrauen wollte, etwa die "großartige", vielmehr geheimnisvolle Schau der Idee des Guten, wie z.B. in seinem sog. Siebten Brief angedeutet, und die nur im engsten Schülerkreis kommuniziert und besprochen wurde?

Und dann frage ich mich, wie kommt denn ein solcher Schüler Platons ins 21. Jahrhundert? Hast du dich etwa geistesgeschichtlich verirrt, wie denn auch Rudolf Steiner alle möglichen Lehren der gesamten Menschheit zusammenzuziehen scheint, nicht nur des Westens, auch des Ostens, um irgendetwas Neuartiges oder Aufsehenerregendes daraus zu zimmern und etwas auszusagen, was noch keiner vor ihm getan hat?

Ich gebe zu: Die Sache wir nun ungeheuer interessant. Fahre bitte fort, und lass dich von mir nicht unterbrechen.

Jetzt enttäuschst du mich aber, Anthroposoph. Denn dein Gedankengang kommt ja nun wohl bei der "fixen Idee" heraus, die ich längst festgestellt habe.

Also schön, also schön. Ich habe einen Fehler gemacht und nicht abgewartet. Ich will versuchen, mich zu disziplinieren. Obwohl ich nicht sehen kann, wo im Materialismus Disziplin und Rücksichtnahme einen besonderen Platz hätten...

Nur um Eines will ich dich bitten: Behalte doch deine Bibelweisheiten für dich, zumindest solange, bis du mir meinen Glaubenssprung aufgelöst hast.

Nun möchte ich aber doch endlich etwas einwenden dürfen. Es wird doch jetzt überdeutlich, wie dieses "dialektische" Denken drauf und dran ist, jeglichen Realitätssinn zu verlieren und zu einer Donquichotterie zu werden!? Die entscheidenden Adjektiva hast du ja selbst schon benannt: subjektiv und objektiv. In diesen Termini liegt doch schon der Realitätsbezug einerseits, der Nichtrealitätsbezug anderseits, oder etwa nicht?

Wenn ich etwas "objektiv" nennen kann, so erkenne ich damit seine Realität an. Das Wort ist abgeleitet von obicere - entgegenwerfen, und aus diesem "Entgegengeworfenen" wurde vorüber-gehend "Gegenwurf" und schließlich unser "Gegenstand" daraus [vgl. DWDS, Objektiv - Etymologie]: das, was uns entgegensteht oder dem wir entgegenstehen. Also kann man sagen: Das Objektive ist das Wahre, das Gültige, das Starke, das Unbezweifelbare, das Evidente. Wer das nicht glauben will, laufe doch einmal gegen eine Mauer; dann wird er schon begreifen.

Dem steht entgegen der Mensch als Subjekt, der diesem Gültigen, Evidenten, Machtvollen ohnmächtig gegenübersteht und der realistischeweise diese Macht und Gesetzlichkeit anzuerkennen hat, zumindest dann, wenn er einen aufrichtigen Willen zur Wahrheit in sich trägt.

Der Existenz-Widerspruch ist damit restlos erledigt, wie mir scheint.

Ein Denken, das sich der Realität verpflichtet weiß, kommt hier an sein natürliches Ende, das nicht willkürlich von uns festgesetzt wird, sondern welches uns objektiv vorgegeben ist, auch wenn es unliebsam und ungewünscht sein sollte.

Und wenn man die Denkrichtung an dieser Stelle "dialektisch" umkehren möchte, um in die andere, "gewünschte" Richtung zu kommen, dann führt dieses Denken unweigerlich ins Irreale hinein. Und die Parallele zur Religiosität des Menschen liegt doch auf der Hand!

Na ja, gut. Eine Seelen- und Geist-Ebene kann ich schon noch anerkennen, aber nicht als spirituelle Plane, die als höhere Wirklichkeits-Schichten über der unsrigen, sinnlich wahrnehmbaren lägen. Beide Ebenen finden sich nur in Subjekten, und mit ihrem Tod erlöschen sie. Die sinnlich-sichtbare Natur aber bleibt.

Ich jedenfalls kann keineswegs sehen, du, Theologe, habest soeben eine wunderbare, die Wirklichkeit wahrhaft aufschließende Entdeckung gemacht.

So ist es, und ich bin immer noch dieser Meinung. doch will ich jetzt auch die Möglichkeit und Gefahr einräumen, mit meinem eigenen Erkennen und Wahrnehmen dasjenige anderer - na ja - nicht gerade zu zertrampeln, aber immerhin zu beeinträchtigen und womöglich zu verzeichnen. Also will ich mir hier in aller Ruhe anhören, was du, Anthroposoph, uns hierüber nun noch ausführen möchtest.

Warum forderst du so etwas Unsinniges? Wie sollten wir jemals zu einem Erkennen der Wirklichkeit kommen können, wenn wir schon nicht einmal voraussetzen, unser Denken sei wirklichkeitsbezogen?

Halt! Stopp! Genug! Du willst uns jetzt soch tatsächlich mit alten Kamellen kommen, und als Beleg führst du dann vielleicht auch noch Platons "Phaidon" an, der Sokrates unterstellte Argumentationen bzgl. der Unsterblichkeit der Seele enthält?

Mein eigentliches Gegenargument soll aber ein ganz anderes sein: Wenn der Mensch aus verschiedenen Leibern oder Kleidern besteht, warum hat er dann kein Bewusstsein davon? Ein Bewusstsein hat er nur von seinem eigenen physischen Leib, von welchem er aber nicht einmal sagt: "Das ist meine Leiblichkeit", sondern: "Das bin ich".

Gut also. Wir waren beim hypothetischen Denkverfahren. Du, Anthroposoph, sagtest, jedes Denken habe sein Voraussetzungen, und wenn ich recht sehe, sind die Denkalternativen die, seine Voraussetzungen im Bewusstsein einholen zu können oder nicht einholen zu können. So weit, so gut.

Welche Hypothese willst du aber jetzt für das Folgende voraussetzen, meinen Materialismus oder dann doch lieber deinen Spirutualismus? Wer von uns soll den Verzicht leisten, damit unser Gespräch vorankomme?

In der Theorie bin ich damit einverstanden. In der Praxis scheint mir aber niemand so zu verfahren im Denken. Sondern jeder entscheidet sich für eine "Setzung der Wahrheit", wenn du so willst, und daraus ergeben sich dann diejenigen Kon-sequenzen für sein Denken und Leben, die sich daraus eben ergeben.

Die Methodik erscheint überzeugend, ihre Handhabung aber zweifelhaft. So zeige sie uns also in der Praxis.

Du führst diese Seite der Widerspruchs-Auflösung theatralisch ausführlich aus. Die Schlüsse verstehen sich doch dann ganz von selbst, so dass du deinen Vortrag um einiges raffen könntest.

Nun ziere dich doch nicht so, sondern führe endlich aus, was du im Grunde schon lange vor uns darlegen möchtest.

Es sind Grundgedanken der platonischen Philosophie, von der ich wenig halte.

Was meinst du denn mit: noch besser? Der Anselmsche Gottesbeweis ist ein Sprach-, Wort- und Selbstbetrug. Und dieser Betrug liegt bereits in seinem Ausgangspunkt, nämlich der Formel: id quo maius cogitari non potest, also: Das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann. Die Schlussfolgerung versteht sich ja dann von selbst: Ein wirklich existierender Gott ist sozusagen größer als ein bloß gedachter. Also muss Gott wirklich existieren.

Der Schwindel liegt schon in der Formel oder Behauptung, es müsse ein Etwas geben, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann. Man kann eine solche Behauptung aufstellen, aber dennoch bleibt es eine Behauptung, die jemand sich ausgedacht hat.

Der Anselmsche Gottesbeweis ist ein logisches Schlussfolgern auf der Grundlage einer Formelbehauptung, die einfach - autoritär und unbegründet - behauptet wird. Gott existiert genau dann notwendig, wenn die Formel "id quo maius cogitari non potest" notwendig existiert. Aber diesen Beweis der notwendigen Existenz seiner Formel ist Anselm uns in seinem Proslogion schuldig geblieben.

Ein stümperhafter, sprich: gar kein Beweis. Das ist ja noch nicht einmal besonders beeindruckend! Bestenfalls für Leichtgläubige, die vielleicht auch auf anderes hereinfallen wie: "Da liegt ein Stein. Der muss irgendwie ins Sein gekommen sein. Also muss ein Gott sein, der ihn ins Sein gesetzt hat. Also muss Gott notwendig existieren." Und dass hier die Logik nicht in derselben Weise "zwingend" ist, mag für einen Logiker von Relevanz sein, aber nicht für den Leichtgläubigen, der seine Leichtgläubigkeit an das Schlussverfahren ja bereits heranträgt.

Wirst du jetzt nicht spitzfindig, Anthroposoph? Du hast uns doch sozusagen in uns selbst unser eigenes Ich von einem von Ewigkeit her existierenden "Geist" unterschieden. Und wenn in der Religion dafür der Terminus "Gott" gebräuchlich ist, so ist das doch - gewissermaßen sachlich - dasselbe!?

Dein Schlussverfahren ist ja ganz nett. Aber um die Setzung "Geist" kommst auch du nicht herum. Du setzt ihn hier und jetzt voraus.

Und wenn es aber ein Hinausgehen können nicht gibt?

Ich kann hier ein Weiterkommen können nicht erkennen.

Das könnten wir schon tun, nur, wie ich den Anthroposophen zwischenzeitlich kenne, ist er noch nicht am Ende seiner Weisheit angelangt?

Aber dann hätte diese Geistwelt oder Gemeinschaft von Geistwesen sich ihr Evangelium und die Bibel sparen können!? Und Jesus Christus hätte gar nicht zu kommen brauchen?

Warum sollte ich, oder auch der Mensch ganz allgemein, von seiner eigenen Unzuverlässigkeit im Denken ausgehen?

Kein Kommentar. Sprich einfach weiter. Allerdings: Was meinst du mit "dem Gedankengang der Philosophie"?

Welche Frage sollte das sein? Du meinst doch nicht etwa die Frage der Religionskritik: Ob Gott vielleicht nur eine Projektion des Menschen sei?

Du machst auch mich neugierig.

Na, von mir aus! Und wie weiter? Du bist mir ein wenig arg theatralisch. Komm bitte zum Punkt.

Du sprichst sehr gut über die Philosophie, so dass unverkennbar wird, dass du dir hier eine tiefere Erkenntnis erworben hast. Indessen dein Sprechen über Esoterik und Okkultismus geht mir zu weit, wiewohl ich einräumen muss: Tiefe kann nur finden, wer sie vermutet oder erahnt; alle andern bleiben notwendig an der Oberfläche und Oberflächlichkeit ihrer selbst haften. Es ist eine Frage der Voraussetzung, der Voraussetzung unserer selbst.

Aber wir wissen doch gar nicht, ob es Ewigkeit des Lebens überhaupt gibt!? Der Anschein spricht dagegen. Und warum wollte man ein Ziel durchdenken, das man schon als irrsinnig voraussetzt?

Einverstanden.

Ja, ich gebe dem Theologen Recht. Wir sind am Ende, und du, Anthroposoph, willst dieses Ende irgendwie nicht wahrhaben, und so versuchst du es sprachlich hinauszuschieben und hinaus-zuschieben, als hätten Worte Wirklichkeitsmacht, analog zur Wort-Gottes-Vorstellung in der Theo-logie.

Ja, was denn?

Ja, was denn?

In der Tat, im gegebenen Zusammenhang ein theoretisch guter und plausibler Gedanke.

Welche denn?

Wenn du mich nach einer Erklärung dafür fragst, so würde ich jetzt unterstreichen, was du soeben formuliertest: Das Denken der Individuen, die wir nun einmal geworden sind, ist so sehr verschieden, dass das, was für den einen "auf der Hand liegt", liegt für den andern überhaupt nicht nahe, sondern erscheint sogar womöglich weit hergeholt.

Das ist nicht nur akzeptabel: Das ist gut gesprochen!

Und wie erklärst du diese inhaltliche Begriffsverschiebung? Sie mutet irgendwie inkongruent an.

Was? Wieso denn! was soll jetzt schon wieder "passiert" sein?

Vielen Dank für dieses Statement. Doch kannst du deshalb nicht von mir erwarten, eine Kehrtwendung meiner selbst vorzunehmen.

Wenn ich dich recht verstehe, bist du dann der Meinung, es gebe letztlich nur ein einziges Ich, dasjenige des Seins selbst, welches der Geist schlechthin ist. Alle anderen Ich sind abgeleitet, herausgesetzt und allesamt nicht ursprünglich und können nur eine vorübergehende Gültigkeit haben.

Alle Iche heben sich letztlich in das höchste und einzige Ich-selbst "Gottes" hinein wieder auf.

Als könnten wir das, was er kann, auch selbst. Einfach aus uns selbst heraus...

Theologie

Gewiss kann man, so will ich dir, Philosoph, antworten, an Gott aus einem falschen, niederen, rein egoistischen Antrieb eigener Lebenssicherung heraus glauben. Es ist aber auch aufrichtige Religiosität möglich, indem man sozial denkt und lebt und auf das Allgemeinwohl achtet und hierbei auch den einzelnen Menschen, egal, wo in der Gesellschaft er steht, beachtet und wertschätzt und auch unterstützt.

So wie man ja auch sagen kann, es gebe rechte, anständige Art und Weisen zu leben, während du mir dazu zu neigen scheinst, alle Menschen und Lebensweisen verwerfen und abtun zu wollen, vielleicht, außer ein paar wenigen Atheismus-Heroen, die sich ein "Leben im Angesicht des Todes" vorgenommen haben und glauben, hierbei nun einen elitären "Realitäts-Alleingang" durchzuführen, während alle andern das Leben und Sein nicht ernsthaft verstanden hätten oder auch nicht ertragen wollten.

Ja, so könnte man sagen.

Zeigt sich hier nicht deutlich, dass der Mensch als reines Vernunftwesen einseitig und falsch angesehen wäre? Ebenso, dass unsere Vernunft ihre Grenzen hat, und so muss der Mensch in seiner Existenz also umfänglicher gedacht werden, damit diese überhaupt einen Sinn ergibt.

Ja, es ist richtig. Die Bibel enthält viele Warnrufe. Würde man eine Zusammenstellung machen, käme ein ordentliches Quantum an Gefahrenhinweisen heraus.

Du sprichst sehr direkt und unverblümt, aber vielleicht liegt es daran, dass in deiner Weltanschauung "Respekt" keinen besonderen und keinen konstitutiven Platz hat, wie in der meinen und auch in der anthroposophischen.

Deine Worte sind scharf, und ich könnte mich angegriffen fühlen, verzichte aber darauf. Denn mit einer gewissen Bewunderung muss ich anerkennen, dass du die vom Anthroposophen geforderte Achtsamkeit und Konzentration im Gespräch außerordentlich gut erfüllst, was grundsätzlich sehr erfreulich ist, wenn denn unser Gespräch zu etwas Fruchtbarem führen soll.

Ja, du hast mich ertappt! Wenn ich eingangs den Geist und sein Wirksamwerden in unserer Wirklichkeit und Gegenwart so besonders hervorhob, so deshalb, weil mir die desolate Situation des christlichen Glaubens in der Gegenwart allzu offensichtlich ist. Und ich bin sehr, sehr unzufrieden damit.

Ich räume ein, dass es meine Profession und Aufgabe ist, das Wort Gottes in unsere Gegenwart zu vermitteln und zugleich als enthalten in unserer Gegenwart zu erweisen. Und unsere Predigten erwecken nicht den Anschein, als könne dies gelingen, auch nicht dadurch, dass sich die Pastorinnen und Pastoren oder die Pfarrer alle Mühe geben, das Evangelium durch Bezugnahme auf gegenwärtige Lebenssituationen aktuell, up to date und relevant zu halten.

Die Vermittlung klappt einfach nicht, und ich stehe kurz vor dem Verzweifeln...

Lassen wir ruhig die Konfessionenfrage hier einmal außen vor; die Ausführungen des Philosophen hierzu kann ich auch nicht von der Hand weisen. Mich interessiert jetzt vielmehr die Frage: Hast du etwa konkret benennbare Versäumnisse unsererseits im Auge?

Das ist aber jetzt sehr spekulativ.

Wenn ich recht sehe, würde ich die Dinge wiederum verzeichnen, wenn ich mich nun als Theologe durch deine Worte angegriffen fühlte. Es geht ja nicht allein um die Theologie, sondern offensichtlich um die Fehlausrichtung unserer kompletten Wissenschaft?

Ich weiß nicht, ob ich dies recht glauben kann: Die Philosophie steht näher an der menschlichen Existenz dran als der christliche Glaube? Zur menschlichen Existenz gehört ja wohl das konkrete Leben der Menschen, zur Theologie gehört aber auch die Kirche, die Verkündigung, der Mensch in all seinen Lebenssituationen, begonnen mit der Geburt und Taufe, und nicht endend mit letzter Ölung und Tod, sondern sogar darüber hinausgehend.

Die Philosophie aber bringt ein paar abstrakte Gedanken hervor - und in diesen soll die menschliche Existenz besser eingefangen und umfasst sein als in der Theologie, in der ihre praktische, seelsorgerliche Seite ja immer mitzudenken ist?

Mir scheint, ich bin hier eingeschlossen zwischen zwei Kritikern und komme mir vor wie ein Sandwich oder Burger, der gleichzeitig von zwei Seiten her Druck erhält, von oben und von unten. Bei dir, Philosoph, habe ich den Eindruck, dass du auf alles, was mit dem Glauben zusammenhängt, gar nicht gut zu sprechen bist und deshalb scharfe Kritik am Menschen übst, den du als grundsätzlich unaufrichtig ansiehst.

Und bei dir, Anthroposoph, habe ich den Eindruck, dass du über eine Reihe guter Erkenntnisse verfügst, dass du aber gar nicht unbedingt gewillt bist, diese vor uns auszubreiten, sondern womöglich für dich zu behalten, was ja dem Prinzip unserer Wissenschaft widerspricht, die auch wiederum von euch beiden kritisiert worden ist, indem in ihr sich die einzelnen Wissenschaftler grundsätzlich kollegial verstehen, mit dem stillschweigenden Konsens: "Wer immer eine Erkenntnis gefunden hat, der teilt sie auch allgemein mit und behält sie nicht für sich." Und dieser Sachverhalt der Mitteilung von Erkenntnissen ist in unserem Gespräch auch schon berührt worden.

Und ich komme damit zum Punkt meines jetzigen Anliegens: Nach meiner Einschätzung haben wir im Gespräch eine Menge an Ideen oder auch Erkenntnissen aufgeworfen. Aber sie sind nur aufgeworfen, nur lose neben-einandergestellt worden. Können wir sie nicht nochmals zusammenziehen, um vielleicht eine sicher und dauerhaft weiterführende Erkenntnis daraus zu gewinnen und als Resultat unserer Kommunikation zu behalten?

Stopp! Jetzt springst du aber! Du bist dabei, den bibeltheologischen Boden zu verlassen und deinen eigenen, anthroposophischen Boden zu betreten. Machst du damit nicht genau das, was du angeblich bewusst unterlassen wolltest, nämlich, das Gespräch in eine von dir gewünschte Richtung zu lenken?

Deine Argumentation gefällt mir nicht. Sie klingt ja so, als könne auch der glaubenslose Mensch zur Wahrheit finden!? Der Ungläubige erkennt aber kein "Evangelium" an, und  er blickt ja nicht einmal in die Bibel hinein, um darin deinen tollen Satz zu finden!?

Also schön. Du weißt schon, Anthroposoph, dass du hier eine Gratwanderung unternimmst!?

Solcherlei Gedanken finden sich tatsächlich in der Bibel. Es ist mir aber nicht geläufig, sie bezögen sich auf das menschliche Denken. Man müsste die Bibel diesbezüglich nochmals eingehender durchforsten.

Mir ist dieser Rückwärts-Gedanke nicht plausibel. Was soll denn daran, eine Analyse des Lebenswillens zu versuchen, rückwärtsgewandt sein?

Philosoph, ich will dich jetzt ermahnen! Lass ab davon, dich über den Anthroposophen lustig zu machen, wie du es offenbar auch schon über Platon längst getan hast!

Was hältst du denn von dieser großartigen Idee: Deinen tiefenpsychologischen Scharfsinn versuchsweise auch einmal auf dich selbst und deine Anschauung zur Anwendung zu bringen?

Du wirfst mir und den Gläubigen vor, sich selbst zu betrügen. Was du aber jetzt gerade tust, ist doch gar nichts Anderes? Du hältst den anthroposophischen Ausführungen deine materialistischen Tentakel entgegen, warum? Weil du keine andere als deine eigene Lichtquelle zulassen willst!

Wir waren aber doch darin übereingekommen, dass man, um neue, weitergehende Erkenntnis finden zu können, die Bereitschaft haben muss, das Eigene auszusetzen, um dem Anderen Raum zu geben, auch dann, wenn es fremdartig, ungewohnt, gefährlich, vielleicht auch feindselig aussehen mag.

Ich selbst kann diesem Gedanken eines Rückwärtsdenkens sehr wohl etwas abgewinnen, und in Bezug auf das platonische Höhlen-gleichnis scheint dies jetzt sogar richtig spannend zu werden, denn der Rückwärtsgedanke wird hierdurch ja verknüpft mit dem platonischen Gedanken der Umlenkung der Seele, dann aber insbesondere auch mit dem christlichen Gedanken der Umkehr.

Deshalb schlage ich vor, wir lassen nun einmal den Anthroposophen sachlich gewähren, und wir intervenieren nur dann, wenn es sachlich erforderlich sein sollte. Denn auch ich brenne jetzt darauf zu erfahren, ob und wie der brisante Existenz-Gedanke tiefer durch drungen werden könne...

Ja, das habe ich verstanden. Nun wäre es schön, wenn du mit dieser "Reflexion" endlich beginnen würdest!?

Ich will deine Aussagen als wichtig und wertvoll zur Kenntnis nehmen, möchte aber trotzdem fragen: Können wir nicht endlich diszipliniert und konzentriert bei der Sache bleiben, anstatt ständig wieder abzuschweifen?

Halt! Augenblick! Moment! Mir schwant da gerade etwas. Das Bild vom Elefanten im Porzellanladen tritt mir soeben in einer sehr anschaulichen, lebenerfüllten, zum Greifen nahen Form vor Augen...

Wartet bitte, und lasst mich versuchen, diesen meinen ad hoc entstandenen starken Seelen-eindruck in angemessene Worte zu fassen...

Kann es sein, dass unsere Begrifflichkeit und Sprache vom Festen, vom Physisch-Sinnlichen hergenommen ist?

Von diesem Festen her leiten wir unseren Realitätsbegriff ab. Und etymologisch gesehen steckt die res, das Ding, die Sache in der "Realität".

Damit ist aber "die Wirklichkeit" noch gar nicht erschöpft, noch gar nicht umfänglich erfasst, sondern da ist auch noch eine Seelen-Ebene und eine Geist-Ebene. Und wer weiß, welche Wirklichkeits-Ebenen oder Plane es darüber hinaus geben mag...

Entschuldige bitte, Anthroposoph, ich unterbreche dich nur sehr ungerne, doch scheint mir der Zeitpunkt meiner Intervention gerade sehr günstig, um uns an unseren wiederholt unterbrochenen Gedankengang zu erinnern.

Wir waren ja bereits darin übereingekommen, den aufrichtigen Willen zur Wahrheit als unser Gemeinsames zu betrachten. Und ich bin wirklich hoch erfreut darüber, dass es dir nun gelungen ist, deutlich zu machen, dass das Streben nach Erkenntnis in einem wesenhaften, ja existenziellen Zusammenhang zum Menschen steht.

Aufrichtigkeit ist von existenzieller Bedeutung! Und wer Unaufrichtigkeit sich selbst gegegnüber duldet und praktiziert, wird niemals zu wahrhafter Erkenntnis kommen können. Zugleich räume ich ein, dass unsere "sachliche" Wissenschaft davon keine Ahnung zu haben scheint.

Auch kann ich die Bibel hier anführen:

"Siehe, ich komme wie ein Dieb. Selig ist, der da wacht und seine Kleider bewahrt, damit er nicht nackt gehe und man seine Blöße sehe." (Offb. 16,15, Lutherbibel 2017)

"Selig sind, die ihre Kleider waschen, dass sie Zugang haben zum Baum des Lebens und zu den Toren hineingehen in die Stadt." (Offb. 22,14, Lutherbibel 2017)

Wenn du also sagst, Aufrichtigkeit bestehe primär vor sich selbst, so möchte ich als Theologe ergänzen: Sie besteht auch vor dem Himmel. Niemand kann vor dem Himmel einen falschen Anschein erwecken. So etwas ist nur einer den Schein zulassenden Welt wie der unsrigen möglich.

Und nun aber hurtig zurück zu unserer gemeinsamen Fragestellung. Es ging um den existenziellen Widerspruch zwischen subjektivem Bleibenwollen und objektivem Gehenmüssen. Gemeinhin wird der Widerspruch zuungunsten des Subjektes aufgelöst, und du, Philosoph, hattest dies nochmals dadurch unterstrichen, dass du aufseiten des Subjektes eine Beliebigkeit des Wollens veranschlagtest, aufseiten des Objektes aber die Gesetzlichkeit der Natur.

Nun aber kommt der Anthroposoph daher und kommt plötzlich auf die Idee, man könne diesen Widerspruch auch andersherum aufzulösen versuchen, und du, Philosoph, hast sofort Protest erhoben, indem du - aus der Erfahrung heraus - aufseiten des Subjektes eine Beliebigkeit des Wollens veranschlagtest, der aufseiten des Objektes aber die Gesetzlichkeit der Natur gegenüberstehe, was den Vorschlag des Anthroposophen im vorab als illusorisch zu erweisen scheint.

Wenn unser Gespräch eine musikalische Komposition wäre, so würdet ihr beide die Parts von Stimme und Gegenstimme, Melodie und Gegenmelodie, von Thema 1 und Thema 2 innehaben, während mein Part der ostinat wiederkehrende Basso continuo wäre. Und um meinem Part gerecht zu werden, will ich fragen: Was haltet ihr davon, wenn wir zu unserem eigentlichen Thema zurückkehrten?

Jetzt machst du aber auch mich sehr neugierig auf deine weiteren Ausführungen, Anthropo-soph.

Nimm den Einwand des Philosophen nicht allzu wichtig, Anthroposoph. Ich persönlich glaube, dass er momentan seine Aktien fallen sieht, und so wäre es ihm lieb, wenn wir über die materialsitische Weltanschauung möglichst schnell hinweghuschten.

Ich gebe dem Philosophen Recht.  Deine wiederholte Rückversicherung ist - zumindest unter uns - nun wirklich nicht nötig.

Und den christlichen Glauben, speziell die Lehre von der Sünde, wollen wir nicht vergessen. Auch unser glaube lehrt eine Verkehrung unserer Wirklichkeit und die Notwendigkeit einer Umkehr, wenngleich dieser Umkehrgedanke zumeist moralisch verstanden wird, nicht intellektuell.

Ich bin durch deine Ausführungen schwer beeindruckt, und zugleich bin ich aufs Höchste irritiert!

Denn streng genommen bedeutet deine Dar-legung ja: Wenn der Mensch sich in seiner eigenen Existenz gründlich analysiert, ergibt sich das Zukommen eines Evangeliums auf die (gefallene) Menschheit mit einer logischen Notwendigkeit!?

Diese Idee des Seins in uns scheint mir ein noch viel besserer Gottesbeweis zu sein als der Anselmsche Gottesbeweis.

Könnte es nicht jetzt hilfreich sein, in unsere Geistesgeschichte hineinzusehen, um zuerst Zusammenhänge zu finden, um dann vielleicht sogar eine konkrete Zielrichtung ausmachen zu können?

Es scheint mir leicht, die Idee des Seins mit der christlichen Theologie zu verbinden. Wenn Kant meinte, durch die Beseitigung des metaphysischen Wissens Platz für den christlichen Glauben geschaffen zu haben, so ist darin die Religion auf eine Lücke oder ein Leerfeld verwiesen.

Die Idee des Seins aber ermöglicht das genaue Gegenteil: Hier findet die menschliche Vernunft aus sich selbst heraus den "Platz Gottes", nämlich die Ewigkeit des Seins, um sich vernünftigerweise danach auszurichten. Das ist doch viel besser. Das ist grandios!

Die Idee des Seins ist die wahrhafte Rechtfertigung des Glaubens. Der Mensch findet in sich die Idee des Seins, findet dadurch die Ewigkeit des Lebens als die wahre Wirklichkeit und kann sich dauerhaft danach ausrichten.

Sagtest du nicht eben selbst, wir hätten ein gewisses Ende erreicht? Es ist doch auf diese Weise ein Niveau gefunden, auf welchem sich der Mensch nun existenziell niederlassen kann, oder etwa nicht?

Wieso meinst du das? Die Entfernung des Menschen in seiner Existenz zu Gott in seinem ewigen Sein ist doch schon die ganze Strecke, nicht nur die halbe!?

Ich verstehe nicht. Was machst du für eine merkwürdige Unterscheidung? Kannst du sie mir bitte erklären?

Ich kann nicht sehen, was falsch daran sein soll? Es ist das Verdienst Martin Luthers gewesen, des Menschen Stehen vor Gott klar und deutlich herauszustreichen, was ein evangelischer Theologe die Coram-Relation genannt hat [vgl. 3. ABC-Versuch, Kap. 13]. Gott wird nicht als Substanz ins Auge gefasst, ebensowenig der Mensch, sondern es kommt gerade auf die Relationalität an. Der Mensch steht zwar im Sein, aber das ist abstrakt gesehen, konkret existiert er im Angesicht Gottes, coram Deo.

Was also ist deiner Meinung nach zu tun?

Mir wird ganz mulmig zumute. Ich bin nicht sicher, ob das, was du vorhast, legitim und gottesfürchtig ist.

Dann beginne einmal dein ..."Spiel".

Aber so ist es doch auch! Wie kommst du denn dazu, etwas derart evident Selbstverständliches in Frage zu stellen?

Du liest die Bibel aber sehr ..."flexibel"; außerdem wiederholst du dich. Das Thessaloniker-Zitat hatten wir schon.

Zurück also zur angefangenen Fragestellung, wenn ich bitten darf, schon wieder einmal. Mir scheint, ich muss mich wiederholen...

Schön und gut: Gott findet sich von Ewigkeit her in sich selbst vor und hat also niemanden mehr über sich, dem er sein Dasein zu verdanken hätte. Gewiss, eine kuriose Vorstellung.

Aber wie willst du im Gedankengang jetzt noch weiterkommen? Sind wir nicht jetzt tatsächlich ans Ende gelangt?

Ja, was denn?

Ja, was denn?

Nun, ich möchte mich mitteilen und Andere an meinem Glück teilhaben lassen.

Ja, welche denn?

Auch ich sehe den Ernst der Situation bzw. der zwischenmenschlichen Kommunikation. Wie wollen wir Drei nun konstruktiv damit umgehen, die wir uns doch bereits auf ein Wesentliches und Grundsätzliches geeinigt hatten: dem Willen zur Wahrheit verpflichtet zu sein und alle drei in gleicher Weise eine Aufrichtigkeit in unserem Erkenntnisstreben pflegen zu wollen?

Es scheint mir nun sehr fraglich, ob die Menschheit jemals die Vernunftkraft finden kann, sich in sich selbst zu verständigen, wenn schon uns Gutwilligen im gemeinsamen Gespräch Grenzen gegenseitiger Verständi-gungsmöglichkeit deutlich werden?

Ich stimme dem zu.

Ich bitte darum.

Dann gib uns doch bitte jetzt diesen fehlenden Gedanken, damit wir uns die begriffliche Nichtübereinstimmung oder Begriffsverschie-bung einsichtig machen können.

Mir scheint, Goethe denkt in seinem Gedicht "Wiederfinden" in dieselbe Richtung:
...
Und mit eiligem Bestreben
Sucht sich, was sich angehört;
Und zu ungemeßnem Leben
Ist Gefühl und Blick gekehrt.
...
Beide sind wir auf der Erde
Musterhaft in Freud und Qual,
Und ein zweites Wort: Es werde!
Trennt uns nicht zum zweitenmal.

Ja, was denn?

Entschuldige bitte, aber ich kann wirklich nicht sehen, von welchem "neuen Niveau" du jetzt sprichst. Im übrigen habe ich noch anderes zu tun, als dieses Gespräch hier mit dir, und so kannst du nicht von mir erwarten, dass du meine komplette und ungeteilte Aufmerksamkeit hast. Oder wer bist du denn, dass du solches vom Menschen fordern könntest?

Ich verstehe nicht...

Nun, zunächst einmal wird er ihm sagen, dass er ihn verstehen kann. Er zeigt Mitgefühl, Empathie. Und dann wird er versuchen, Vorschläge zur Problembehebung zu unter-breiten.

Stopp! Halt! Bleib stehen! So warte doch!? Ich will noch eine ganze Menge von dir wissen!

Weg ist er... Und läßt uns einfach als Waisen zurück...

Und warum weißt du etwas, was wir andern beiden nicht wissen?

Anthroposophie

Lass mich mit einer methodischen Anmerkung beginnen: Indem wir das Sein, über welches wir ja grundsätzlich sprechen, nun von seinem Ende her, vom Nicht(mehr)sein zum Gegenstand wählen, tun wir das, was Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie, "Rückwärtsdenken" genannt hat und was nicht irgendeine Spielerei oder Knobelei sein soll, sondern etwas, das uns in unserem Denken und Leben grundsätzlich verändern könnte, wenn wir es intensiv genug üben.

Wir reißen uns dadurch los von der gewohnten Laufrichtung der Dinge, die wir als ein "ständiges Vorwärts-Denken" charakterisieren könnten. Und indem wir uns davon losreißen und die Gegenrichtung einschlagen, kommen wir gerade in die Geistigkeit des Daseins hinein und aus der - ich sage mal - natürlichen Fahrtrichtung unserer Leiblichkeit und Physis heraus.

Mag sein, dass ihr mich jetzt nicht verstehen könnt. Das macht aber nichts. Ich will euch später, wenn wir ein Stück Gegenrichtung zurückgelegt haben werden, wieder daran erinnern. Dann solltet ihr verstehen können.

Entschuldigung, wenn ich mich in euer Gespräch nun einmische, aber meine obige Anmerkung sollte meine eigentliche Aussage nur einleiten, nicht schon diese selbst sein. Und so möge mir jetzt erlaubt sein, diese Aussage nachzuholen.

Du, Philosoph, sagst aus, du wüsstest über Tod und Nichtsein nichts auszusagen und hältst also ein Weiterdenken in dieser Richtung für ausgeschlossen?

Dann, so schlage ich vor, sprich doch einfach über das Gegenteilige, über das Leben und Sein, worüber du dann vermutlich so einiges oder gar sehr vieles aussagen kannst?

Nach meiner Meinung ist dies nämlich in gewisser Weise dasselbe, über das eine oder über das andere zu reden, um Große deiner Kollegen mit in unser Gespräch hereinzunehmen, Hegel und Heraklit, die eine gewisse, auch vielen Philosophen dubios erscheindende "Dialektik" gelehrt haben, eine Zusammengehörigkeit der Gegensätze.

Du sprichst hier deine Sichtweise des Materialismus aus, und wir können jetzt unschwer sehen, wie deine und meine Prinzipien diametral einander gegenüberstehen. Denn im Spiritualismus ist der Prozess des Nachdenkens ein geistiges Geschehen, und dieses Geschehen ist nicht nur der wichtigste, sondern im Grunde der eine und einzige Sinn und Zweck im Universum: kein Überbau, sondern der Kern und Nerv der Sache des Seins, der im sinnlich-physischen Daseins-bereich lediglich einen materiellen Unterbau erkennen lässt.

Und wenn deine Denkungsweise die richtige ist: Warum sprichst du denn dann überhaupt hier und jetzt mit uns und unternimmst also etwas ganz und gar ...Sinnloses - rein kosmisch gesehen?

Gut, diese Argumentation und Motivation kann ich anerkennen.

Im Spiritualismus hat unser Gespräch einen tieferen Sinn, so dass wir hierbei möglichst aufmerksam und konzentriert sein sollten, denn wir rühren damit an das Wesenhafte des Seins überhaupt, weshalb wir im Erkenntnisprozess jederzeit damit rechnen sollten, solche Ideen, Einfälle, Eingebungen, Inspirationen zu bekommen, die uns und unser bisheriges Leben völlig aus den Angeln heben könnten.

Und, um unsern Theologen im Gespräch nicht zu verlieren: Enthält nicht auch die Bibel, speziell das Neue Testament eine variantenreiche Fülle an Warnungen wie "Gebt acht! Seht euch vor! Lasst euch nicht einlullen!", womit biblisch doch schon angedeutet ist, die Wirklichkeit halte eine Überraschung im Sein für die Menschheit bereit?

Und wenn es nun daran liegt, dass das Wort Gottes nicht ohne weiteres verstehbar ist, sondern erst einmal eine Zeit, eine Heils-Geschichts-Zeit ins Land gehen muss, ehe aus einer sündhaften Vernunft eine unter dem Wirken des Geistes heil gewordene Vernunft werden kann?

Das Evangelium wurde Sündern gegeben, als Botschaft ihres Gerettetwerdens, nicht ihres Gerettetseins. Und die Bibel ist das entscheidende Hilfmittel, das unter dem Wirken des Geistes doch erst wahrhaft lesbar wird, so wie wir es auch hier schon versucht haben.

Und Lessing, den wir bereits erwähnten, trifft wohl das Richtige, wenn er in seiner EdM über die Zeilen hinweg sagt: "Die menschliche Vernunft könnte wohl aus sich selbst heraus zur Wahrheit kommen, aber sie kann einfach nicht. Denn sie hat sich vom Wahren allzu weit entfernt, so dass sie darauf angewiesen ist, von Gott oder dem göttlichen Geist immer wieder Richtungsstöße zu erhalten, um so allmählich wieder auf Kurs gebracht werden zu können."

Der Kurs der Heilsgeschichte ist ein Korrektur-Kurs und streng genommen zu unterscheiden vom natürlich-richtigen Lauf der Dinge. Die Heils-geschichte will ein unheil oder schadhaft Gewordenes wieder heil machen, also in ihrer ursprünglichen Richtigkeit wiederherstellen.

Deshalb auch ist die oben genannte Jesusfrage

"Warum findet ihr nicht schon von selbst das rechte Urteil?"

auf der einen Seite richtig, auf der andern Seite falsch. Und wir erkennen es daran, dass Jesus Christus uns diese Frage nicht von oben herab zuruft, sondern er stellt sie unter uns, womit er ja selbst faktisch schon die Zweiseitigkeit seines Wortes bestätigt, folgend der Zweiseitigkeit unserer Vernunft, zu können und zugleich doch nicht zu können.

Analog müssen wir die Bibel in all ihren Äußerungen erst angemessen lesen lernen, und wir können hierbei nicht schneller sein, als es der Geist in der Zeit ist oder gewesen ist oder erst noch sein wird.

Allerdings sollten wir hierbei auch den Gedanken in Betracht ziehen, wir hätten bereits Versäumnisse begangen, seien also dem Wirken des Geistes in der Zeit nicht gefolgt, sondern dahinter zurückgeblieben.

Und wegen dieses Zurückgeblieben seins unseres Denkens hinter dem heilsgeschichtlichen Vorangeschritten sein unserer Wirklichkeit klappt der Vermittlungsversuch eines zurückgebliebenen theologischen Denkens nicht. Ich will dich aber mit dieser Aussage nicht etwa beleidigen, sondern sehe hier die sachliche Ursache deiner Problematik.

Als einen konkreten Beleg hierfür will ich das andersgeartete Selbstverständnis der Anthroposophen benennen, für die die konkrete Wirksamkeit des Geistes keine Glaubenssache mehr ist, sondern sich - zwischenzeitlich - von selbst versteht.

Anders in der Theologie, wie an deiner eigenen Auffassung erkennbar wird, indem du als eine reife Frucht deines theologischen Denkens zu Beginn anführtest, eine ernsthafte Theologie müsse vom dritten Glaubensartikel ausgehen und diesen sozusagen in die Konkretion unserer Lebenswirklichkeit hinein auslegen. Also: Dein Resultat ist bei uns zur selbstverständlichen Ausgangssituation geworden. Siehst du den Unterschied?

Und ich gebe dir noch ein handgreifliches oder auch himmelschreiendes Beispiel - den Papst. Ich meine aber keinen bestimmten, sondern die Rolle und Figur des Papstes, wie sie sich über die Jahrhunderte und Jahrtausende der bisherigen Kirchengeschichte entwickelt hat. Ist nicht die päpstliche Führung der römisch-katholischen Kirche wie eine zum Leben erweckte Donquichotterie? Ich kann in einer solchen Theologie und Konfession keine Wirksamkeit des Geistes erkennen, allenfalls eine Fadenscheinigkeit des Geistes, die sich im Schlussfolgern befleißigt, um zu erweisen, dass das, was faktisch in ihr nicht da ist, die Gegenwärtigkeit des Geistes, doch - irgendwie - da sei? - Ich spreche hier aber meine persönliche, nicht allgemein-anthroposophische Überzeugung aus.

Mir ist jetzt nicht klar, wen du mit "uns" oder "wir" meinst - aber gut. Ja, z.B. die bereits genannte Zersplitterung unserer Wissenschaft, die dazu führt, dass leider nur theologisch in die Bibel hineingeblickt wird, nicht zugleich z.B. auch tiefenpsychologisch.

Unser Philosoph kommt ja aus seiner Warte zu demselben Ergebnis, wie in dem Bild des Davongelaufenseins der Gegenstände sehr anschaulich beschrieben, nur dass er seine Erkenntnis nicht auf die Bibel bezieht, weil er sie nicht als Denk-Gebrauchsanleitung ins Auge fassen kann, indem er die Glaubenssicht nach wie vor als unzulässig ablehnt.

Besonders fruchtbar schiene mir auch eine literarische Betrachtung der Bibel zu sein. Nun umfasst die Theologie zwar auch die historisch-kritische Methode der Literarkritik, aber an eine echt literarische Textsichtung kommt sie damit noch nicht heran, wie mir scheint.

Ich führe das Johannesevangelium als Beispiel an, in welchem Jesus Petrus dreimal auffordert, die Schafe zu weiden (Joh. 21,15-17). Dies ist ja, oder sollte sein, sein eigentlicher Auftrag - und mit der dreimaligen Liebesfrage und der dreimaligen Aufforderung zur Auftragsumsetzung ist ein Zweifel Jesu an der Erfüllung durch Petrus in den Raum gestellt.

Bei genauerem Hinsehen sieht man, dass Jesus beim ersten Mal nicht von Schafen, sondern von Lämmern spricht. Und daraus kann man - literarisch - schlussfolgern, dass es dem Textverfasser auf das Verstreichen von Zeit ankomme. Diese Vermutung erhärtet sich in den Folgeversen, indem Jesus bezugnehmend auf das Schicksal des Petrus wieder zeitunterscheidend differenziert: "Als du jünger warst... - Wenn du aber alt bist..." (Joh. 21,18). Und in der sehr merkwürdigen Schlussperikope des Johannes-evangeliums (Joh. 21, 20-23), in der Jesus Petrus gegenüber sogar eine schroffe Kommunikations-verweigerung übt, wird vom geliebten Jünger Johannes ein "Bleiben bis zum (Wieder)Kommen (Christi)" ausgesagt, was im Grunde nur dann Sinn ergibt, wenn die beiden (engsten) Jünger Jesu hier als Repräsentanten ganzer Christentums-Traditionen angesehen werden, nicht nur Petrus.

Dann wird die Textbetrachtung insgesamt wesentlich komplexer, und es muss für die Bibelworte ein größerer Ernst und eine größere Tragweite angenommen werden: Johannes ist der Jünger, den Jesus liebt, Petrus ist der Jünger, der dreimal (vergeblich) nach seiner Liebe zu Jesus gefragt wird.

Im Petrusschicksal wird zwar ausdrücklich eine Individualdeutung gegeben (V. 19), im Johannes-schicksal wird eine Individualdeutung ausdrücklich als falsch abgelehnt. Damit muss doch der Johannes-Schicksals-Satz als "traditionsbildend" ins Auge gefasst werden? Und sekundär, also nach erfolgter Reflexions- oder Geistumwandlung des (literarisch später gegebenen) Johannessatzes, auch der (literarisch früher gegebene) Petrus-Schicksals-Satz, wobei wir diesen Reflexionsprozess mit der christlichen Kirchen-geschichtserfahrung parallelisieren können. Und dieser Schicksals-Satz enthält ja sogar schon die Geste des modernen Papsttums: das Händeausstrecken (wobei wir uns das Winken noch hinzudenken können).

Dann kommt für die (anzunehmende) Johannes-Tradition eine gewisse, länger währende Unsichtbarkeit heraus, für die äußerlich dauerhaft sichtbare Petrus-Tradition eine von außen einschreitende Intervention ("und ein anderer wird dich gürten und führen...", V. 18). Und dann kann man auf der christlichen Glaubensgrundlage, dass das Wort Wirklichkeit werden wird, die Reformation als eine solche, erstmalig einschreitende Intervention zu denken versuchen usw.

Abgesehen davon, dass Kant den Begriff der Spekulation zu Unrecht abqualifizierte (im Gegensatz zu Lessing), bleibt das Versäumnis bestehen, dass die Theologie einseitig theologisch in die Bibel blickt und dasjenige, was sich parallel wissenschaftlich getan hat, nicht angemessen mitberücksichtigt.

Ich nenne ein weiteres Beispiel: Die Relativitätstheorie hat den Begriff des Bezugssystems naturwissenschaftlich hervorge-bracht. Warum wird theologisch nicht gesehen, dass dieser kosmische Begriff punktgenau in die Sündensituation des Menschen passt? Wir befinden uns - aus dem Glauben heraus gesehen - in einem Bezugssystem des Gefallenseins. Dies gilt aber nur irdisch. Der Kosmos hat damit nichts zu tun. Und wenn dies theologisch-kirchlich kommuniziert worden wäre, wäre unsere Wissenschaft insgesamt vielleicht nicht auf die Idee verfallen: Die Bibel kann keine Wahrheit enthalten.

Man hätte vielmehr richtig geschlussfolgert: "Das" Wort Gottes haben wir konkret zu nennen "unser" Wort Gottes. Es wurde nicht in die Welt schlechthin hineingesprochen (wie man in geozentrischer Zeit noch vermuten konnte), sondern nur in unsere irdische Welt. Daher hat es keine absolute Gültigkeit, sondern eine nur relative Gültigkeit, bezogen auf unsere irdische, gefallene Menschheit, nicht auf jedwede Menschheit im Universum, die vielleicht gar keinen Sündenfall erlitten haben mag und daher auch gar keine Rettung und kein Evangelium braucht und selbstverständlich auch niemals bekommen hätte.

Es sollte uns ja auch nicht als ausgemacht gelten, dass Menschheiten definitiv oder konstitutiv in kosmischer Isolation leben müssen wie wir. Eine solche Annahme erscheint mir als über die Maßen spekulativ, spekulativ hochgerechnet aus einem uns bekannten Einzelfall, nämlich unserem eigenen. Und selbst diese unsere Isolations-situation währt ja erst - aufs Ganze der Menschheitsgeschichte gesehen - seit "Sekunden" und kann daher doch wohl unmöglich als Norm und Regel unserer oder gar aller Menschheitssituation genommen werden?

Was soll denn an einem solchen (willkürlichen) Menschheitsauffassen kritisch und wissenschaftlich sein?

Begeht hier nicht unsere angeblich objektive Wissenschaft eine Verzeichnung der wahren Verhältnisse? Und zwar unglaublich empörenden Ausmaßes, so dass sie sich in ihrer allzu grob zupackenden Begrifflichkeit - kosmisch gesehen - benimmt wie der Elefant im Porzellanladen, der uns Menschen gegenüber noch den Vorteil hätte, dass er sein Zerschlagen des Porzellans wenigstens selbst hören würde, während uns unsere eigene Zersetzungs- und Zerstörungs-Begrifflichkeit als solche entgeht und wir uns vielleicht auch noch einbilden, hierbei konstruktiv und kreativ zu sein?

Ich bedanke mich für eure positive Aufnahme meines Redens, und will versuchen, euer beider Interessen gerecht zu werden.

Was den Glaubenssprung betrifft, so sah ich schon an früherer Stelle eine gute Möglichkeit einer Gesprächsfortführung, nur entwickelte sich dann unser Diskurs in eine andere Richtung. Und da ich mich nicht als Gesprächsführer oder Schiedsrichter unter uns sehe, sondern als gleichberechtigter Teilnehmer, hielt ich es für unangebracht zu intervenieren, um dem Disput eine von mir gewünschte Stoßrichtung zu geben.

Sokrates ist jetzt angeklungen, und an dieser frühen Stelle unserer Geistesgeschichte konnte man immer schon eine wichtige Erfahrung über den Menschen machen, nämlich, dass er Schüler und Lehrer zugleich ist. Der Geist hat die Besonderheit an sich, dass ihm sowohl das Schüler-sein-im-Geiste als auch das Lehrer-sein-im-Geiste zukommt.

Sokrates suchte nach der verlorenen Weisheit, und er suchte sie in den Menschen seiner Umgebung. Bei der diskursiven Prüfung des Wissens, das er vorfand, stellte er fest, dass er selbst über diese Wissensstände bereits hinausgekommen war, wodurch er sie als Grade des Nichtswissens qualifizieren konnte. Sokrates wollte Schüler sein und wurde unfreiwillig zum Lehrer.

Nur hat er dann nicht die Konsequenz gezogen, von der Prüfung seiner Mitmenschen abzulassen und seine eigene, fortgeschrittene Erkenntnis-methodik zu vertiefen, wenngleich im Alleingang.

Wenn der Mensch nun aber in Wahrheit seine Erkenntnisse nicht von Anderen erhält, sondern aus sich selbst heraus findet, sollten wir dann nicht etwas wie ein merkwürdiges "Selbst in uns" näher ins Auge fassen, um dem Erkenntnisprozess - nun ja - "Erkenntnis-Geheimnis" auf die Spur zu kommen?

Im Johannesevangelium spricht Christus von einem Beistand, den er in der Zeit seiner Abwesenheit senden wird. Von diesem sog. Heiligen Geist wird ausgesagt, dass er "sagt, was er hört" (Joh. 16,13), und er "hört" von Christus, der laut Mt. 23,10 der einzige Lehrer der Christen ist. Also steht dieser Heilige Geist zugleich im Schülerverhältnis (er "hört" von Christus) und im Lehrerverhältnis (er "spricht" zu den Christen).

Es geht also um ganz allgemeine Seins- oder Geist-Verhältnisse, wobei wir im Johannes-evangelium nicht nur dieses "Hinauf-hören" und "Hinunter-sprechen" finden, sondern auch noch ein "In-Sein", z.B.:

"...dass sie alle eins seien. Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen auch sie in uns sein..." (Joh. 17,21)

Und so kommen wir diesem "Selbst in uns" näher, es ist nämlich der allen gemeinsame Geist selbst, der nur dann gewahrt ist, wenn er die Verhaltensweisen des Hinauf- (oder Hinüber)hörens, des Hinunter- (oder Hinüber)sprechens und des In-Seins wahrheits-gemäß praktiziert.

Zur Verdeutlichung mögen wir uns vorstellen, dass ein wahrhaft im Sein ausgerichtetes menschliches Ich gar keine festumrissene Identität haben darf, mit welchem es sich auf seine Umgebung und seine Zeitverhältnisse festlegt. Mit einer solchen Ich-Identität verkürzte sich der Mensch als ein Geistwesen unendlich. Wir werden also ein "offenes Ich" entwickeln müssen, welches "mehr" ist als seine Umgebung und Zeitverhältnisse, welches darüber hinausragt, gleichsam mit dem Vorbehalt eines geistig-erkennenden Spiel-Raums, der als ein Lösepotenzial in der vorübergehenden Identitäts-Setzung bestehen bleibt.

Und als Ur- und Vorbild können Christen Jesus Christus sehen, der ein solches offenes Ich vor uns Menschen, die wir in die Sünde (der Festlegung) gefallen sind, hingestellt hat. Wir sehen es in seiner Betonung seines Vater-Bezuges. Und wenn die Heilsgeschichte richtig läuft, muss ein jeder Mensch (zumindest jeder Christ) zu einem unmittelbaren Geist-Bezug finden, so dass sich unser Hinauf-hören mit seinem Herunter-sprechen begegnen kann, und dadurch erhält der Christ auch einen unmittelbaren Christus-Bezug, gewinnt das In-Sein, und in Christus gewinnt er dann auch einen unmittelbaren Vater-Bezug - und hat also dann ein solches offenes Ich, das den wahren kosmischen Seins- und Geistverhältnissen wieder entspricht.

Anthroposophisch können wir diese Verhaltensweisen des Geistes als höhere Erkenntnisstufen identifizieren, nämlich als Inspiration und Intuition. In der Inspiration ist der Geist erkennend ausgerichtet auf ein höher stehendes Geistwesen (Hinauf-hören), in der Intuition versetzt der Geist sich an die Stelle des höheren Geistwesens (In-Sein), was selbstverständlich nichts mit Überheblichkeit zu tun hat, sondern den Sinn und Zweck hat, ein Gesprür für den "höheren Standpunkt" oder "Standort im Sein" zu finden, vergleichbar einem Kompass oder einer Selbst-Justierung.

Es ist schwer, einen Anfang zu machen. Und es ist schwer, Dinge stringent und im Zusammenhang darzulegen, ohne kaum Zeit und Raum zu verbrauchen; das ist in der Wirklichkeit, in der Schöpfung nicht anders als im kreativen Denken und Erkennen. Komprimiert man sie zu stark, so können sie keinen Aufschluss mehr geben, sondern erscheinen als Verschlüsselung oder Kodierung. Legt man sie ausführlich dar, so dass sie möglichst gut und leicht nachvollziehbar und verstehbar sind, droht die Aufmerksamkeit der Hörer verloren zu gehen, indem es ihrer womöglich schnelleren Auffassungsgabe wie Zeitvertrödelung und unnötige Ausschweifung erscheint.

Jeder Mensch steht an einer je anderen, eben an "seiner" Raum-Zeit-Stelle, von welcher aus sich ihm seine individuelle Aussicht im Sein ergibt, aufgrund der Besonderheit seiner Persönlichkeit und der Einzigartigkeit seiner Erfahrungs-zusammenhänge. Und folglich hat das Denken jedes Individuums auch seinen individuellen Ausgangspunkt und ein je eigenes Selbst-verständnis, von welchem aus es kommunikativ abgeholt werden müsste, um sich selbst wieder individuell ins Sein und seine Zusammenhänge angemessen hineinzufinden.

Man müsste also, um einem Mitmenschen etwas klipp und klar darlegen zu können, speziell auf ihn und seine geistige Herkunft eingehen, was allein schon dadurch schwierig bis unmöglich ist, dass wir in dem, was wir bewusst denken und aussagen, noch nicht einmal unbedingt das im eigenen Unbewussten Liegende eingeholt und mitberücksichtigt haben müssen.

Ein Jeder und eine Jede ist also sein und ihr eigener Anfang, und deshalb kann es auch nicht richtig sein, mir, dem Vortragenden, einseitig vorzuwerfen, nur das "Seine" berücksichtigen zu wollen. Es muss auch von Seiten der Hörenden der Wille und die Bereitschaft vorhanden sein, Neues kennenzulernen, denn anders ist ein Erkennen doch überhaupt nicht möglich, ohne Bereitswilligkeit, sich von Altem und Altbekannten zu lösen und zu trennen, um Neues und Fruchtbringendes in sich hereinnehmen zu können?

Nun bin ich der Überzeugung, unsere drei Standpunkte - ein philosophischer, ein theologischer und ein anthroposophischer - müssten sich ineinander überführen lassen können, zuetzt gar alle von Menschen eingenommenen Standpunkte, gemäß meiner spiritualistischen Weltauffassung.

Und die Sozialproblematik einer menschheitlichen Gemeinschaftsbildung hängt demnach davon ab, inwiefern es zwischen Individuen oder Gruppen oder Institutionen gelingt, ihre Kommunikation miteinander entsprechend auszurichten, so dass die Offenheit ihres Ich gegenseitig gewahrt bleibt und der eine den andern nicht hindert.

Insofern schlage ich vor, ihr legt mir konkrete Anstoßnahmen oder Auslöser eures Denkens vor. Dann kann ich auch versuchen, von dort aus Erkenntnisverbindungen herzustellen.

Es freut mich außerordentlich, dass du, Philosoph, den Willen zur Wahrheit, also das Streben nach Erkenntnis, für dich geltend machst, wenngleich ungerechtfertigterweise für deinen eigenen Standpunkt sogleich auch vereinnahmst. Wir drei waren uns darin doch schon übereingekommen, dass das aufrichtige Streben nach Erkenntnis unsere gemeinsame Gesprächsbasis sei, und ich will nur nochmals unterstreichen: Lasst uns einfach dabei bleiben!

Zunächst will ich ein Argument anführen, welches du - momentan - als unzulässig ansehen magst, weil es - derzeit - außerhalb deiner liegt, weshalb ich sogleich hinzufügen will: Das muss ja nicht so bleiben, wenn denn die Aufrichtigkeit deines Erkenntnisstrebens deine Grundlage und Konstante ist.

Die Bibel selbst sagt nämlich aus: Die Liebe zur Wahrheit wird den Menschen retten (2 Thess. 2,10). Sie sagt damit aus, die reine Vernunftentfaltung wird den Menschen zur Wahrheit führen, und sie spricht ja sozusagen aus einem spiritualistischen Selbstverständnis heraus.

Das Bedeutsame oder auch Bemerkenswerte hierbei ist, dass in dieser Aussage auf die Voraussetzung des Glaubens verzichtet ist! Diesen Punkt, bitte ich, deutlich zur Kenntnis zu nehmen.

Also sagt doch die Bibel - ich betrachte sie jetzt auch einmal als Person, die zum Menschen sprechen kann, so wie du eben die Natur hast zum Menschen sprechen lassen: "Lieber Mensch, du musst keinen "Glaubenssprung" tun, um zur Wahrheit kommen zu können. Es genügt schon voll und ganz, wenn du deine eigene Vernunft konsequent entfaltest. Aber du musst es konsequent tun und nicht in Pseudo- oder Fehl-Schlüssen stecken bleiben!"

Das ist richtig gesehen, doch muss ich dich um Einhaltung der von mir bzw. von der Bibel geforderten Vernunft-Konsequenz bitten. Wenn der Ungläubige, Atheist, Materialist - sofern er ein aufrichtiges Streben zur Wahrheit in sich trägt - in seinem diskursiven Denken konsequent bleibt, so wird er auch zur Annahme der Geistwelt, des Spiritualismus, der Bibel, des Evangeliums, des Glaubens kommen.

Und dann wird er irgendwann doch noch in die Bibel hineinblicken, und er wird dann allen Gläubigen die Erkenntnis voraus haben, dass er aus sich selbst heraus den genannten Bibelsatz bestätigt findet, denn im Gegensatz zum Gläubigen war er zuerst in seiner Vernunft tätig und findet dann erst die Bestätigung der Richtigkeit seiner Vernunftbetätigung in der Bibel!

Ich erinnere dich an unsere Geistesgeschichte: Zuerst war die Philosophie, das aufrichtige Streben zur Wahrheit, dann erst sind Evangelium und Glaube und Bibel dazugekommen, und mit Lessing will ich den Grund bestimmen: als neuer, besserer Richtungsstoß für die menschliche Vernunft. Und hattest du nicht selbst festgestellt, dass platonische Philosophie und christlicher Glaube darin merkwürdig konvergieren, dass zuerst die reine Philosophie eine Verkehrung des Seins behauptete, was später dann biblisch-theologisch sozusagen als wahr bestätigt wurde? Wie kann denn die bloße Vernunft auf Dinge kommen, die dann durch den Glauben bzw. durch höhere Mitteilung bestätigt werden?

Und deshalb habe ich diese Vernunft-Konsequenz als wichtig herausgestrichen, denn du, Philosoph, meinst sie zwar zu haben, aber ich sage dir: Du hast sie gar nicht! Sie fehlt dir noch! Du steckst in Fehl- und Falsch-Schlüssen fest!

Das In-Frage-Stellen ist die Urdomäne der Philosophie, ihre große und allergrößte Kunst. Und große Philosophen erkennt man daran, dass sie genau dort, wo gemeinhin "Selbstverständlichkeit" besteht, meinetwegen "Evidenz"; dass sie genau dort auch nochmals Fragen aufzuwerfen imstande sind, Unklarheiten also erkennen, die noch niemand zuvor gesehen hatte, obwohl sie tatsächlich möglich und berechtigt sind.

Ich will einmal Kant hier anführen, wenngleich mir seine "geistige Größe" überaus zweifelhaft erscheint und m.E. stark relativiert werden muss. Immerhin, er warf die echt philosophische Frage auf: Die Philosophie befleißigt sich seit vielen Jahrhunderten in der Erkenntnis des Universums - sollten wir nicht zuvor schon die Frage aufgeworfen und geklärt haben, ob sie das denn überhaupt könne!?

Ich halte dich gar nicht hin, sondern möchte, dass du bewusst zur Kenntnis nimmst, dass die Philosophie prinzipiell keinen weltanschaulichen Standpunkt einnehmen oder vertreten kann, weil sie gar kein inhaltliches, sondern ein rein formales Anliegen verfolgt: die Suche nach bzw. Erkenntnis der Wahrheit.

Und wenn das so ist, dann kann sie weder vom Spiritualismus noch vom Materialismus vereinnahmt werden, oder noch präziser: Der Philosoph an sich ist zunächst einmal welt-anschaulich indifferent, denn sein eigentlicher oder auch einziger Gegner ist die Selbstverständlichkeit, die er als solche grundsätzlich in Frage stellen muss, und zwar deshalb, damit er nicht Opfer einer eigenen Annahme oder Voraussetzung wird, die er sich als solche nicht bewusst gemacht hat. Auf dieses wichtige Thema geht Kant dann ja wenigstens in seinem Opus postumum ein, in der er die Frage geheimer oder unbewusst bleibender Urteile unserer Vernunft aufwirft.

Und da nun ein jeder Mensch gewissermaßen auch sein eigenes Selbstverständnis oder seine eigenen Selbstverständlichkeiten hat, so kann man auch sagen: In der Philosophie hat der (zur Wahrheit strebende) Mensch einen weltanschaulichen Kampf mit sich selbst aufgenommen oder Geisteskampf in sich selbst begonnen.

Lass mich ein von dir benutztes Stichwort aufgreifen, das dir selbst nicht gefällt: Dialektik. Die Dialektik basiert auf einer Beobachtung von gegensätzlichen Sachverhalten oder Aussagen, wobei sie meint, auf einer höheren Ebene die Widersprüchlichkeit aufheben zu können.

In unserem Fall bist du selbst es gewesen, der die einander gegenüberstehenden Positionen formulierte, die Widersprüchlichkeit feststellte und diesen Widerspruch dann auflöste. Und so, wie es jetzt den Anschein hat, bist du der Auffassung, für diesen Widerspruch gebe es überhaupt nur eine einzig wahrhafte Auflösungsmöglichkeit, nämlich die von dir benannte.

Konkret:  Der Mensch sagt: "Ich will bleiben", die Natur sagt: "Du musst gehen". Das ist der Widerspruch. Die Auflösung des gläubigen oder religiösen Menschen, für welche uns hier der Theologe geradestehen muss, besteht darin, dass er seinen Ewigkeitswunsch personifiziert sieht, realisiert in dem Gott, und von ihm her löst sich der Widerspruch auf, zwar nicht im Irdischen, aber zumindest hinterher im Himmlischen; und damit diese Lösung nicht allzu platt erscheint, gibt es also im Irdischen die Hürde des moralischen Lebenswandels usw. usw.

Sie gefällt dir deshalb, weil ich meine Formulierung deiner Perspektivik angepasst habe. Sie ist nicht die meine, und ich kann mir gut vorstellen, dass unser Theologe sie selbst entsetzlich platt und unangebracht findet. Aber es geht ja momentan weder darum, wie der Theologe sich selbst versteht, noch darum, wie ich mich selbst verstehe, sondern darum, dass du meiner Argumentation bestmöglich folgen kannst. Insofern bitte ich dich, Theologe, hier einfach einmal zu schweigen und mich in meiner Gedankenführung gewähren zu lassen; deine Anstoßnahme an meiner Terminologie: geschenkt.

Wie ist das nun mit diesen beiden Sätzen und Urteilen - "Ich will bleiben" und "Du musst gehen": Sind sie denn wirklich ein Letztes und Höchstes, das nicht weiter rückführbar ist?

Dann schlage ich vor, wir nehmen uns den ersten dieser beiden "fix und gültigen" Sätze vor, um ihn in sich selbst genauer zu betrachten zu versuchen. Ich sage bewusst "versuchen", denn nach deiner vorgetragenen Meinung, Philosoph, ist dies ja gar nicht möglich.

Meine Frage - aus meiner spiritualistischen Weltauffassung heraus, die, wie du weißt, den Geist als ein Erstes und Oberstes voraussetzt - ist: Wo nimmt der Mensch die Idee der Ewigkeit denn her? Denn aus der Erfahrung kann er sie ja wohl schlecht gewonnen haben, da uns diese die Vergänglichkeit von allem lehrt oder wenigstens: zu lehren scheint.

Wählst du jetzt ganz bewusst diesen Terminus der klinischen Psychologie und Psychiatrie, um damit zum Ausdruck zu bringen: Nur ein gestörtes Denken, nur eine abnorm entwickelte Vernunft kann auf einen solchen irrealen Gedanken verfallen?

Damit machst du aber einen Schluss. Du schließt, die Idee sei krankhaft und gestört, indem du das von uns beobachtbare Werden und Vergehen der Natur, zu welchem dann auch das Sterben und der Tod gehören, als das Natürliche, Normale, Gesunde ansetzt.

Es ist aber nur die eine Möglichkeit, den Widerspruch zu lösen. Man muss die Sache nur vollständig vor sich hinstellen.

Der Widerspruch "Ich will sein - Du musst gehen" kann gewiss so aufgelöst werden, dass man sage, das "Ich will sein" sei das Falsche, und das "Du musst gehen" sei das Wahre.

Prinzipiell wäre aber auch die umgekehrte Auflösung denkbar: Das "Du musst gehen" ist das Falsche, und das "Ich will sein" ist das Wahre.

Ich stellte dir vorhin dar, dass die Philosophie ein formales Wahrheitsinteresse hat und gut daran tue, weltanschaulich nicht Partei zu ergreifen, also keine inhaltliche Festlegung innerhalb ihrer Erkenntnissuche vorzunehmen.

In unserm konkreten Fall heißt das, wir sollten uns bemühen, weder einseitig einen materialistischen noch einseitig einen spiritualistischen Standpunkt zu vertreten, vielmehr anerkennen, dass es faktisch unter uns Menschen verschiedene Standpunkte oder Ansichten des Seins gibt.

Und so sollten wir sie auch zur Kenntnis nehmen und also gedanklich durchspielen. Denn wir wissen ja beide, dass uns hierbei nichts geschehen kann. Und wenn nun einer von uns die Erfahrung machen sollte, dass er seinen Standpunkt nicht in Wahrheit halten kann, dann muss er anerkennen, dass unser Gespräch für ihn sehr wertvoll gewesen ist. Und wenn er aber seinen Standpunkt bestätigt findet, dann wiederum weiß der Andere, dass das Gespräch für ihn sehr wertvoll war.

Können wir uns also darauf einigen, dass es - auch der gedanklichen Vollständigkeit halber - richtig, gut, vernünftig ist, alle Möglichkeiten, die wir sehen können, durchzuspielen?

Das ist gut von dir beobachtet. Der Mensch scheint in seinem Denken grundsätzlich zur Einseitigkeit zu tendieren. Er kommt im Laufe seines Lebens zu einer weltanschaulichen Überzeugung, zu einer Idee des Wahren, sei es durch andere, sei es durch sich selbst, und dann neigt er dazu, alles in dieser Idee zu schauen und alternative Denkmöglichkeiten gar nicht mehr in Betracht zu ziehen, was wir hier aber versuchen und üben wollen.

Und was dein Nichtproblem betrifft: Im Spiritualismus könnte das genaue Gegenteil greifen: Das Denken - eines Geistwesens - ist nicht nur ein Erkenntnisprozess, sondern dieser Erkenntnisprozess ist selbst Wirklichkeitsprozess des Geistes. Und insofern räume ich ein, dass die Möglichkeit und Gefahr der Zeitvergeudung auf meiner Seite liegt. Denn es könnte ja sein, dass der Mensch nur ein gewisses Quantum an Zeit zur Verfügung gestellt bekommen haben könnte, um zu einem bestimmten Denkergebnis und zu einer gewissen Reife zu kommen. Und dann könnte ein Schnitt, eine Abrechnung auf ihn zukommen. Solcherlei Gedanken finden sich ja auch nicht zu knapp in der Bibel. So ist es doch, Theologe?

Das "Ich will sein" kann als eine Ausformulierung des Lebenswillens im Menschen angesehen werden.

Wenn wir aber in diesen Lebenswillen selbst zurückfragen, dann, scheint mir, können wir tatsächlich kein Anderes mehr anführen, durch welches er bedingt oder hervorgerufen sei. Er ist ein Erstes und Ursprüngliches, und jeder Mensch hat ihn schlicht aus sich selbst heraus, das heißt, er ist gleichursprünglich mit dem Menschen da.

Dieser Lebenswille ist freilich auch im Tier da, aber im Gegensatz zum Tier kann der Mensch diesen seinen Lebenswillen reflektieren und zum Gegenstand seines Nachdenkens erheben.

Dann höre gut zu, welche Gedanken sich die menschliche Vernunft hierüber dennoch noch machen kann, auch wenn du persönlich ans "Ende des Denkens" gelangt zu sein glaubst.

Wir wollen jetzt also - versuchsweise - ernsthaft in die anderer Richtung denken. Und jetzt kann ich euch an das oben genannte Rückwärstdenken des Begründers der Anthroposophie erinnern.

Und wenn ich sage "versuchsweise", so möchte ich diesen Terminus verstanden wissen ganz im Sinne der Experimetierfreudigkeit unserer Naturwissen-schaft.  Mir ist nämlich nicht bekannt, die materialistisch infiltrierten Naturwissenschaften hätten ein Ausschließlichkeitsrecht darin, die Natur oder unsere Wirklichkeit oder das Sein auszuprobieren. Wir stellen hier also ein echtes Experiment an, nur durchgeführt von einer spiritualistisch denkenden Geisteswissenschaft.

Von einem "rückwärts" will ich hier deshalb sprechen, weil der vom Philosophen so genannte Existenz-Widerspruch des menschlichen Daseins wie ein unabänderliches Faktum vor uns zu stehen scheint. Und auf dieses unser Davor-Stehen lege ich jetzt die Betonung, nicht auf den unseren Geist absorbierenden Gegenstand selbst. Beide sind nicht miteinander identisch, sind nicht eins, und können - oder könnten - auseinander gehalten werden.

Sieh doch: Es ist im Grunde dasselbe Davor-Stehen, welches uns Platon in seinem Gleichnis vom Höhlen-Menschen beschreibt. Von Kind auf nimmt dieser Höhlen-Mensch sich selbst und seine Umgebung in einer Blick-Fixierung wahr, von welcher er nicht weiß, dass es eine Fixierung seiner Blickrichtung ist. So hält er sie für natürlich und normal, weil er sich im Lauf der Jahre daran gewöhnt hat oder auch daran gewöhnt worden ist. Und seine Mitmenschen haben dieselbe Gewöhnung angenommen, und so entsteht der Anschein einer gemeinsamen, wahrheitsgemäßen Common-Sense-Wahrnehmung, die für alle gleich ist und die sich alle gegenseitig als natürlich und normal bestätigen können.

Dann aber kommt im Gleichnis der große, besondere Moment oder auch Auftritt des Philosophen, der plötzlich ein ganz und gar Irrsinniges behauptet: "Steht doch auf, liebe Freunde und Mitmenschen, und dreht euch endlich einmal um! Dreht euch und eure Blickrichtung herum. Dann seht ihr eine - wie soll ich sagen? - Beleuchtungs-Problematik menschlicher Existenz. Ihr nehmt eure Begrifflichkeit und Wahrnehmung als bare Münze, aber das ist sie nicht. Sie ist das Produkt eurer Fixierung! Ihr selbst seid zu dieser eurer Falsch-Wahrnehmung geworden, und ich habe eine Alternative gefunden. Aber sie ist nur sichtbar, wenn man sich von den Dingen lösen kann.

Und wenn man das kann, passiert Folgendes: Es ist dann, als würde Wasser des Geistes in unsere Begrifflichkeit und Wahrnehmung einfließen, und dieses Wasser würde beginnen, uns unsere Begrifflichkeit und Wahrnehmung aufzuweichen, so dass sie in Wahrheit gar nicht jene Starre und Fixiertheit hat, als welche sie uns aber erscheint.

Und dann kommt irgendwann auch ein noch weitergehender Schritt: Unsere Begriffe werden uns sichtbar wie die vielen Ranken einer Pflanze, die sich an einem Festen damit verankert hat. Unsere Begriffe sind unsere Fangarme oder Tentakel, mit welchen wir fälschlich glauben, die Wirklichkeit selbst festzuhalten. In Wahrheit ist es so, dass wir uns mit ihnen selbst fixiert haben.

Und nun müssen wir zusehen, wie wir uns wieder davon lösen können. Und das Wunderbare an diesem Ungewohnten und scheinbar Riskanten ist: Indem wir uns von der vermeintlichen Wirklichkeit lösen, kommt die wahre Wirklichkeit überhaupt erst zum Vorschein vor uns!"

So viel zum Rückwärts-Gedanken.

Wir waren beim Lebenswillen, den wir nicht mehr weiter "zurückführen" können, indem er gleichursprünglich mit uns da ist.

Nun sollte einem animal rationale wie dem Menschen auffallen können, dass es sich hier in einer unterschiedlichen Grundposition befindet zum Tier. Das Tier hat den Willen auch, und es hat keine moralischen Bedenken, ein anderes Tier zu reißen, um das eigene Überleben zu sichern, und für das Tier, so will ich einmal behaupten, macht es auch keinen Unterschied, ob die Beute ein anderes Tier ist, oder auch ein Mensch; er fällt genauso unter den Begriff oder das Raster der Beute (für ein Raubtier, das groß genug ist).

Mir kommt es aber hier gar nicht auf die Moralität an, sondern darauf, dass die Moralität eine Form der Reflexivität ist. Der Mensch kann also - prinzipiell - den Lebenswillen reflexiv zu durchdringen versuchen, was das Tier eben nicht kann.

Wir gehen jetzt also, vom Lebenswillen als einem Unbedingten ausgehend, das mit zu unserer Wirklichkeit gehört, wieder in die andere Richtung: das ist diejenige der Reflexion oder des Geistes.

Und ein kleines Stückchen sind wir in diese Richtung ja bereits gegangen, indem wir den Lebenswillen qualifizierten als den Willen zum Sein, den wir in die Worte fassten: "Ich will sein - ich will bleiben."

Nun kommt ein wichtiger Schritt, und du, Theologe, hast recht daran getan, wissbegierig darauf zu sein, wie nun im Geiste weitergegangen werden kann, indem du feststelltest, das Rückwärtsdenken habe zu tun mit Platons Umlenkung der Seele oder auch mit dem christlichen Gedanken der Umkehr.

Wir - als Menschen, im Gegensatz zum Tier - können nun nämlich auch Voraus- oder Vordenken, nicht nur Zurück- oder Nachdenken. Und was ist dieses Vorausdenken? Wir können den unbe-wussten Lebenswillen in die Theorie heraussetzen, also Schlussfolgerungen anstellen, nur in diesem Fall nicht zurück, sondern nach vorne.

Wenn wir den Lebenswillen, oder nun: den Willen zum Sein, in die Theorie heraussetzen, so scheint es, als habe der Mensch ein ursprüngliches Wissen darüber, dass Sein anzudauern habe. Und phänomenologisch von unserem Hier und Jetzt aus beurteilt können wir nur sagen: Dieses "Wissen" nimmt der Mensch aus sich selbst heraus.

Du bist ungeduldig, Philosoph, und willst meinen Gedankengang gar nicht erst abwarten, sondern ziehst ihn vorschnell in jene Richtung aus, die dir bekannt, geläufig, angenehm ist und von der du vielleicht auch noch glaubst, es sei die einzig mögliche, einzig wahrhaftige Schlussfolgerungs-möglichkeit.

Wir sagten aber doch auch, der Erkenntnisprozess sei grundsätzlich unberechenbar. Und jeder, der es unternimmt, sich aufs Erkennen und Forschen einzulassen, müsse darauf gefasst sein, Überraschendes zu finden, nicht etwa Altbekanntes oder nur solches Neue, das auf der Grundlage des Altbekannten noch annehmbar ist, weil es vom eigenen Standpunkt oder Standort im Sein doch noch nicht so sehr entfernt ist, dass es unannehmbar und unerträglich wäre?

Beiläufig sei erwähnt, dass die Bibel darum weiß:

"Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr könnt es jetzt nicht ertragen." (Joh. 16,12, Lutherbibel 2017)

Du tust gut daran, dich in der Selbstbeherrschung zu üben. Rudolf Steiner benennt sechs sog. Nebenübungen, in welchen der Mensch sein Denken, Fühlen und Wollen üben und kontrollieren lernen kann. Das "neben" bezieht sich darauf, dass das Erkennen - innerhalb einer spiritualistischen Weltauffassung - als Zugang-finden zur Wirk-lichkeit in ihrer höheren, ontologischen Struktu-rierung und Funktionsweise gilt. Je höher man im Erkennen steigt, desto übersichtlicher wird das Ganze des Seins. Damit steigen aber auch die Handlungsmöglichkeiten, die Machensmöglich-keiten, und somit die Macht des Menschen.

Und ausdrücklich sagt Rudolf Steiner auch einmal, wer einen Schritt in der Erkenntnis vorwärts tut, solle parallel drei Schritte in seiner Moralität vorwärts tun, damit die gewonnene Macht sich nicht verselbständige, sondern sicher rückgebunden bleibe an die eigene Verantwortlichkeit, die durch die Erkenntnis-fortschritte und das Hineinwachsen in die Wirklichkeit und ihre Zusammenhänge immer mehr zunimmt.

Und es hat ja für uns heute ganz den Anschein, als würde die Menschheit daran zugrunde gehen können, dass Menschen ein Teile-Wissen erworben haben, welches ihnen ein Teil-Machen ermöglicht (nicht etwa: erlaubt), mit welchem sie in den gesamten Wirklichkeits-Organismus enorm störend hineinwirken können, um ihre kurzsichtigen Teil-Interessen zu befriedigen.

Allein daran sehen wir doch jetzt schon deutlich die Hochgefährlichkeit von Wissenserwerb. Und solange kein ausreichendes Bewusstsein vorhanden und kultiviert ist, dass Moral und Verantwortung eine conditio sine qua non alles Erkennens und Wissens zu sein habe, solange schwebt ein "freies, beliebig-willkürliches Erken-nen" wie ein unberechenbares Damoklesschwert über der Menschheit.

Ich fahre also fort. Wenn wir den Lebenswillen richtig in die Theorie heraussetzen wollen, so müssen wir über die Aussage "Ich will sein - ich will bleiben" noch hinausgehen.

Aber zuvor sei der "wichtige Schritt" dargelegt, der mit dem Nach- und Vordenken zusammenhängt. Im Nach- oder Zurückdenken kommen wir zum Lebenswillen als einem Obersten, Letzten, Unbedingten, so dass unser Denken hier an ein Ende gekommen zu sein scheint.

Im Vor- oder Vorwärtsdenken aber können wir uns diesen unseren Lebenswillen nochmals reflexiv vornehmen, zu einem Gegenstand unseres Denkens erheben und eben in die Theorie ausziehen oder extrapolieren.

Und dann können wir bei dem "Ich will sein - ich will bleiben" nicht stehen bleiben, sondern müssen uns diesen Gedanken oder auch diese Empfindung noch deutlicher zu Bewusstsein bringen.

Vergegenwärtigen wir uns nochmals den grundsätzlichen Existenz-Widerspruch, in welchem sich der Mensch angesichts der wahrgenommenen Natur stehen sieht: Der Mensch stehe uns jetzt für die subjektive, menschliche Seite, die Dauer haben möchte. Ihm gegenüber steht die Natur als Repräsentant der objektiven Seite, die Veränderung haben will, Platzschaffen für Neues und dadurch auch Abtreten der Menschen als Individuen, die von ihr diesen ihren Dauer-Wunsch nicht erfüllt haben können.

Diesen Widerspruch scheinen wir zugunsten der Natur auflösen zu müssen, weil sie doch für die objektive Seite steht, gegen welche die subjektive Seite des Menschen sozusagen keine Chance hat, keine Berechtigung und daher - so scheint es zunächst - ins Irreale verwiesen werden muss, wie du, Philosoph, uns ja zu verstehen gegeben hast mit deiner "Letzt-Erklärung: fixe Idee"?

Das ist jetzt keine Frage an dich, lass mich einfach weitermachen.

Ein Widerspruch, sofern er überhaupt lösbar ist, ist prinzipiell von zwei Seiten her lösbar, in unserem konkreten Fall: Von Seiten der (scheinbar übermächtigen) Natur. Diese Auflösung haben wir schon kennengelernt, und wir "übersetzen" sie uns sogleich in die uns interessierende Wahrnehmung, aus welcher das Urteil resultiert: Der menschliche Dauer-Wille ist nichts, der naturhafte Platz-schaffens-Wille ist alles.

Man könnte aber doch denselben Widerspruch auch andersherum auflösen, also: "Der menschliche Dauer-Wille ist alles, der naturhafte Platz-schaffens-Wille ist nichts"? Oder auf das Erkennen bezogen könnte man ihn in die Worte fassen: "Der subjektive Wille zum Bleiben ist wahr, der objektive Eindruck der Vergänglichkeit ist falsch."

Du bemerkst es vielleicht selbst nicht, Philosoph, aber du trampelst gerade sprachlich-begrifflich auf dem neuartigen Wahrnehmungs-Schimmer des Theologen herum. Du lässt seine Ahnung gar nicht erst zu, weil sie dir und deiner Begrifflichkeit nicht entspricht, ihr vielmehr widerspricht. Also tilgst oder negierst du sein Wahrnehmen als solches, bist nicht gewillt, dich versuchsweise in es hinein-zuversetzen, und so löschst du es einfach sprachlich aus. Du bestreitest - streng genommen - dem Theologen seine Wahrnehmung.

Der Grund dafür ist gewiss keine Böswilligkeit deinerseits, vielmehr ist es deine Erfahrung und Gewöhnung an die sinnlich-physische Welt, der sich auch niemand von uns entziehen kann. Sie hat eben eine unheimlich naheliegende, bestechende Überzeugungskraft, insbesondere dadurch, dass sie eine unser Wahrnehmen überwältigende Konstanz im Verlaufe unseres Lebens aufweist, und wir glauben, von Kindesbeinen darin festgestanden zu haben.

Und ich möchte hier Zweifel anmelden, ob das zuletzt Genannte wirklich zutrifft: dass wir von Kindesbeinen an darin festgestanden haben?

Ich selbst habe eine Kindheitserinnerung (die in mein Erwachsenen-Bewusstsein mit eingegangen ist), in welcher ich im damaligen Wohnzimmer meines Elternhauses stand (mit 4-5 Jahren, wir sind mehrfach umgezogen): Die Zimmermauern waren nicht fest, hart, undurchlässig - physisch gesehen schon -, aber sie hatten eine Transparenz, waren keine Grenze und Abschottung nach außen, sondern das eigentliche Außen - die umgebende Geistwelt - drang einfach durch, war immer und überall präsent, nicht nur draußen, sondern genauso drinnen.

Damit habe ich mir ein Bewusstsein davon bewahrt, dass sich das Stehen des Menschen im Sein im Lebensverlauf gravierend ändert, zumindest in heutiger Zeit. Und zugleich sehe ich aber, dass diese mit dem Menschen vorgehende Selbstveränderung für die allermeisten Individuen - und damit für die Gesellschaft - verlorengeht, also nichtexistent wird, und somit in das Denken der Gegenwart keinen Eingang finden kann.

Wir finden ein Bewusstsein darüber auch beispielweise bei Martin Heidegger, der im Blick auf unsere Geistesgeschichte, insbesondere auf die vorsokratische Philosophie, von einer "Seins-vergessenheit" spricht, die den Menschen trifft. Er sieht dies völlig richtig, nur ist wiederum das Problem, dass sein philosophischer Begriff nur von denjenigen wirklich verstanden werden kann, die diese Seinsvergessenheit in sich selbst nachempfinden können. Und wenn keine Empfindung oder Anschauung darüber entsteht, so bleibt der Terminus abstrakt, leer, unverstanden.

Ich will damit sagen: Unsere Begrifflichkeit hängt an unserem Wahrnehmen. Wenn das Wahrnehmen beim Physisch-Sinnlichen stehenbleiben möchte, so kann es nicht tiefer in die Wirklichkeit eindringen und kann auch keine tiefergehende Begrifflichkeit entwickeln. Folglich wird auch das (begriffliche) Urteilen über das Wahrnehmen des anderen zu einem Verurteilen, Abqualifizieren, Annullieren, wodurch dann eine zwischenmenschliche Kommunikation entsteht, die in Wahrheit ein Aneinander-vorbeireden ist, ein gegenseitiges Sich-missverstehen.

Und dann kommt ein jeder wieder bei seinem Grundsatzproblem des Erkenntnissstrebens und Verstehenwollens heraus, indem als Ursache des gegenseitigen Missverstehens ein mangelnder eigener Erkenntnis- oder Verstehenswille resultiert. Das Gelingen des Erkennens hängt an der Intensität des eigenen Erkenntniswillens.

Und im Disput mag sogar der eigene Erkenntnis-wille sogar dahinschwinden, indem das Schwergewicht des Gespräches gar nicht mehr auf einem Erkenntnisgewinn liegt, sondern darauf, dem Gesprächspartner gegenüber Recht zu behalten und als Sieger aus dem Gespräch hervorzugehen. Dieser "Sieg" hat dann aber viel mit gesellschaftlichem Anschein zu tun, und der eigentliche Verlierer ist man aber selbst, indem man - heimlich - seinen eigenen Erkenntniswillen zurückgesetzt oder Lügen gestraft hat.

Der Schaden an sich selbst wird verdrängt und unsichtbar gemacht, und der Übergang zu Rhetorik, Suggestion und Ideologie ist fließend.

Es ist eine Frage der Aufrichtigkeit. Und Aufrichtigkeit besteht primär vor sich selbst, nicht gesellschaftlich. Denn was vom Individuum aus gesehen innen ist, wird gesellschaftlich zu einem Außen. Und so muss man als ein nach Erkenntnis Strebender immer auf der Hut sein, ob man Gefahr läuft, das Sich-selbst-sehen gegegnüber dem Gesehen-werden in die Zweitrangigkeit zurückzusetzen. Und wer einen tiefergehenden Blick auf sich selbst scheut, der muss sich auch nicht wundern, wenn er in die Wirklichkeit nicht tiefer hineinfinden kann.

Gut also. Grundsätzlich möchte ich dennoch vorausschicken, dass es schon auch richtig ist und zugelassen werden muss, Einwände zu Vorgetragenem zu erheben, und zwar zeitnah zum Gesagten. Denn damit signalisiert der Einwendende doch, er könne nicht verstehen, wolle aber verstehen. Und wenn er dem Ganzen folgen können soll, muss ich doch das Einzelne verständlich dargelegt sein?

Ich beginne damit festzustellen, dass wir alle unsere Urteile streng für sich fällen und nicht miteinander vermischen sollten. Ansonsten schlittern wir in Assoziations-Schlüsse und in ein Assoziations-Schlussverfahren hinein, mit welchem wir die Wahrheit und Wirklichkeit gar nicht treffen, sondern daran vorbeizielen und -laufen.

Als Beispiel führe ich deinen Schluss, Philosoph, an, unsere Wahrnehmung unserer Natur als objektiv und daher wahr anzusetzen und dieser den in uns auftretenden Willen zu sein als subjektiv und daher unwahr entgegenzusetzen. Es ist ein Schlussverfahren, das zuerst einen "Wahrheits-Haltepunkt" bestimmt, um daraus dann "Unwahrheits-Schlussfolgerungen" zu ziehen.

Auf solche Weise verhindern wir uns dauerhaft einen klaren, reinen Erkenntnisprozess.

Freilich kann man auch in seiner Religiosität ein solches Schlussverfahren praktizieren, wohl mehr unbewusst als bewusst, z.B.: "Es muss ein Gott sein, damit Ewigkeit des Lebens sei, damit das menschliche Leben sinnvoll sein kann, und zwar dauerhaft."

Was nun unsere Fragestellung betrifft, so müssen wir ein assoziatives Zusammenwerfen von "subjektiv" und "unwahr" ebenso unterdrücken, wie ein Ineinssetzen von "objektiv" und "wahr".

"Objektiv" bedeutet "entgegengeworfen" oder "entgegenstehend", und es kann uns ja im Leben auch vielfach bloßer Anschein "begegnen", die Sinnestäuschung als einfachste Form, woraus evident sein sollte, dass "objektiv" und "wahr" nicht bedeutungs- und deckungsgleich sind.

Umgekehrt kann aber auch nicht alles, was von Subjekten kommt, nur deshalb als illusorisch betrachtet und für nichtig erklärt werden. Der Klimawandel beispielsweise ist auf menschliche Subjekte zurückzuführen; ist er aber deshalb irreal, nicht existierend?

Wenn wir nun unseren Existenz-Widerspruch ins Auge fassen wollen, so müssen wir uns ganz bewusst in einem hypothetischen Denkverfahren bewegen, ohne von unserem Denken von vorneherein zu behaupten, es sei faktisch, realitätsbezogen, gültig, wahrhaftig, wahr.

Du missverstehst mich. Wir sollen nicht voraussetzen, wir kämen mit unserem Denken an die Wirklichkeit niemals heran, sondern wir sollen vor uns selbst das zugeben oder setzen, was in unserem faktischen Denken schon immer der Fall ist. Und dies ist, dass es hypothetisch ist in dem Sinn, dass es Voraussetzungen in sich enthält, die es an die Wirklichkeit heranträgt.

Ein voraussetzungsloses Denken gibt es nicht. Jedes menschliche Denken enthält seine Voraussetzungen, und diese sind nach Zeit und Raum unterschiedlich, denn diese Voraussetzung ist die eigene Existenz. Es gibt daher keine zwei Menschen, die gleich denken, sondern jedes menschliche Individuum hat bzw. ist seine eigene Voraussetzung.

Die große Frage, um die es mir geht, ist nur, ob es uns gelingen kann, die Voraussetzungen unserer selbst einzuholen oder nicht. Um sie aber einzuholen, muss man sie sich bewusst machen. Und deshalb sollten wir unser Denken als hypothetisch voraussetzen, damit wir die Möglichkeit haben, unsere Voraussetzungen einzuholen.

Konkreter: Wir sagten schon, man könne die Welt materialistisch oder spiritualistisch ansehen. Dann ist es aber richtig und konsequent, den Materialismus oder auch Spiritualismus hypothetisch vorauszusetzen. Und wenn wir dann das Ganze des Seins gedanklich durchgehen oder durchlaufen, kann das eine oder das andere als wahr erwiesen werden.

Noch konkreter: Materialistisch gesehen kann man das Sterben von Menschen beobachten. Der Mensch ist ein physisch-sinnliches Lebewesen, welches als ein solches eine nur begrenzte Lebensdauer hat. Im Materialismus erscheint der Mensch eingeschlossen zwischen Geburt und Tod. Wenn der Tod eintritt, ist die Existenz dieses Menschen ausgelöscht, und er "ist" nicht mehr.

Spiritualistisch gesehen ist eine alternative Sichtweise möglich. Das Sterben von Menschen kann nicht beobachtet werden, wenn der Mensch aus mehreren Schichten oder Leibern besteht (die Bibel spricht von "Kleidern", vgl. die vom Theologen zuletzt angeführten Zitate). Dann kann die physisch-sinnliche Leiblichkeit als nur vorübergehendes "Kleid" des Menschen angesehen werden, welches ein unsterbliches Seelen-Geist-Wesen angezogen hat, um auf der Erde einen Aufenthalt absolvieren zu können. Und streng genommen...

Ich verstehe deine Argumentation, und unser Theologe sollte eigentlich etwas dazu sagen können. Nur ist es in unserer westlichen Theologie so, dass sie das von dir geltend gemachte materialistische Argument mehr oder weniger in sich aufgenommen hat.

Sehen wir aber in die Religionen der östlichen Hemisphäre, so ist dort ein Bewusstsein vorhanden, neutraler formuliert: eine Möglichekit des Denkens realisiert, in welcher sich der individuelle Mensch nicht mit seiner (momentanen) Leiblichkeit identifizert, sonder sich in Differenz dazu "weiß".

Und was nun den "evidenten Eindruck" des Einssseins mit der eigenen Leiblichkeit betrifft, so wäre eine spiritualistische und auch christlich-theologische Erklärung dafür die Sünde, in welche die Menschheit gefallen ist und welche sich dann von Generation zu Generation weiter"vererbte" oder sogar noch schlimmer und schlimmer wird. Wir werden so erzogen, als seien wir mit unserer Leiblichkeit, eingeschlossen zwischen Geburt und Tod, identisch. Und diese "Lehre" haben wir angenommen und zu unserem Wahrnehmen und unserer Begrifflichkeit gemacht. In der östlichen Hemisphäre werden die Menschen anders erzogen, und siehe da: Sie haben eine andere Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung.

Wir täten also gut daran, bei uns selbst unterscheiden zu können, was an Wissen wir uns bewusst erworben haben und was davon uns durch Erziehung unbewusst überkommen ist. Ich fürchte nur, wir können es nicht, denn unser derzeitiges Differenzierungs- oder auch Sichtvermögen reicht dazu bei weitem noch nicht aus...

Ich bin einverstanden, möchte aber meinen zuvor unterbrochenen Gedanken zuerst zu Ende bringen.

Wir werden strikt darauf achten müssen zu unterscheiden, was wir beobachten können und was wir nicht beoachten können und uns nur erschließen. In Bezug auf das Sterben des Menschen können wir es unter Voraussetzung des Materialismus und des Einsseins unserer Leiblichkeit und unserer selbst beobachten können. Denn dieses Einssein erlischt.

Unter Voraussetzung des Spiritualismus und einer Mehrgliedrigkeit des Menschen, wobei sein Selbst nicht konstitutiv an seine Leiblichkeit gebunden wäre, können wir das Sterben des Menschen nicht beobachten, sondern wir sehen nur die Außenseite des eigentlichen Geschehens des Todeserlebnisses. Die Innenseite des Geschehens erlebt der Sterbende selbst, und vermutlich gehört die Erfahrung dazu: "Hoppla, ich habe mich getäuscht! Ich bin ja gar nicht eins mit meiner Leiblichkeit!?'"

Niemand von uns soll und muss einen Verzicht leisten, und wir müssen auch nicht - wie in unseren Wissenschaften - von vorneherein eine Prämissensetzung vornehmen. Wir lasen vielmehr unserem Gedankengang seinen Lauf, und wenn wir sehen, dass eine Setzung erforderlich, weil sich eine Weggabelung des Denkes auftut, wie im obigen Fall des Beobachtens des Sterbens, dann nehmen wir eine bewusste Setzung vor, abaer nicht nur eine, um einen nur einseitigen Wahrheitsweg einzuschlagen und den andern geflissentlich aus dem Auge zu verlieren, sondern ggf. beide (oder auch mehrere), um und bewusst zu bleiben, dass da mehrere Wahrheitsmöglichkeiten sind, von welchem im vorab vielleicht auch noch gar nicht entschieden werden kann, ob es sich nun um den Wahrheitsweg oder um einen Irrtumsweg handelt. Bist du damit einverstanden?

Du magst Recht damit haben. Du kannst aber schon den großen Vorteil meiner (wenn auch komplizierteren) Verfahrensweise erkennen? Im anderen Verfahren ist es so: Wenn die Erstsetzung, von welcher des Menschen komplettes weiteres Denken und Leben abhängt, falsch gewesen sein sollte - dann hat der Mensch niemals wieder die Möglichkeit, aus dem Irrtum herauszukommen, sofern er nicht von außen eine Korrektur oder ein Korrekturverfahren angetragen bekommt, welches er dann aber auch noch annehmen müsste; denn er könnte es ja auch ausschlagen, indem er sich sagt: "Ich weiß es besser. Ich bleibe bei meiner Erstentscheidung."

Wenn aber nun die Erstsetzung eine wenigstens zweifache ist, entsprechend der Weggabelung, die mehr als eine Denkmöglichkeit auftut, so versteht sich ja bereits von selbst, dass man sich auf der Erstsetzung niemals ausruhen kann, weil man sich mit und in ihr ja ganz bewusst in die "Ungewissheit der Wahrheitssetzung" hineinbegeben hat und in ihr aufhält, und zwar solange, bis sich die Alter-nativen dann ganz von selbst ent-scheiden, irgendwann, und sozusagen nicht mehr aus-können.

Und diese Methodik scheint mir sogar die ur-philosophische zu sein: Den Zweifel über das Sein nicht vorschnell zu entscheiden, sondern lieber solange wie möglich durch- und auszuhalten, damit sich möglichst wenig Fehlurteil in das philosophische Denken über das Sein einschleichen könne.

So lasst uns also unser eigenes philosophisches Stehvermögen austesten und zusehen, wieviel an Zweifel wir in unserer eigenen Existenz bereit oder überhaupt fähig sind auszuhalten, bevor wir jenen Punkt erreichen, an welchem wir uns "unbedingt fest niederlassen" wollen, weil uns der Zweifel oder die Zweiheit oder Zweigleisigkeit übergroß und unerträglich zu werden scheint.

Womöglich liegt hier ja der wunde Punkt der menschlichen Existenz, weil sie sich selbst ein Festes und Verlässliches voraussetzen können möchte, um kein Larifari- oder Beliebigkeits-Leben führen zu müssen?

Die Tiefenpsychologie z.B., so scheint mir, hat dafür den Begriff des Über-Ichs gefunden. Und in der Philosophie wird versucht, dieses Über-Ich längstmöglich auszusetzen, hinauszuschieben, zu verschieben, wo auch immer hin...

Ich jedenfalls bin für mich selbst der Meinung, mein Über-Ich nicht den Tiefenpsychologen überlassen zu wollen, indem ich mir - wissenschaftsgerecht - sage: "Mein Über-ich ist meine Sache nicht. Darum sollen sich die Tiefenpsychologen kümmern." - Ich fürchte, der moderne Mensch hat sich selbst aus der Hand gegeben, bis zu seinen Akademikern, Wissenschaftlern und scheinbar Besten hinauf.

Oder du, Theologe, weißt vermutlich aus reichlich Erfahrung, wie doch viele Menschen ein an sie von außen herangetragenes "Existenz-Korrekturver-fahren des Evangeliums" schlichtweg ablehnen, indem sie meinen, die Dinge besser zu wissen und zu kennen als die Bibel?

Gehen wir nun daran, unseren Existenz-Widerspruch versuchsweise in die andere Richtung aufzulösen.

Die bereits genannte Widerspruchs-Auflösung können wir dem Materialismus überlassen: Das subjektive Bleiben-wollen ist falsch und irreal, und das objektive Gehen-müssen ist wahr und real, denn wir sehen den Menschen ja sterben; wobei wir jetzt hinzufügen müssen: wenn wir uns selbst und das Sein im Ganzen materialistisch verstehen.

Im Spiritualismus kann die Möglichkeit gedacht werden, dass wir womöglich den Menschen doch nicht sterben sehen, denn streng genommen wechselt er dann ja nur seinen Schauplatz, selbst dann, wenn er sich selbst materialistisch missverstanden haben sollte, als Einsseiend mit seiner Leiblichkeit und durch den Tod in nichts zerstiebend.

Und dann muss der physisch-irdische Tod des Menschen - konsequenterweise - als eine Täuschung, Illusion, als ein falscher Anschein angesehen werden, was der Verstorbene dann ganz klar erkennen kann, während wir Zurück- oder Hinterbliebenen dies nur vermuten können.

Damit ist der Natur-Pol des Widerspruches als unwahr und irreal gesetzt, indem er uns einen falschen Anschein unserer Vergänglichkeit erweckt sowie den Anschein der Lebensvernichtung.

Mag sein, dass du theoretisch Recht hast. In der Praxis sind wir aber dabei, unbewusste Schlüsse zu vermeiden, um alle Setzungen als solche klar vor Augen zu bekommen. Aus diesem Grund will ich ausführlich schlussfolgern, nicht etwa, weil ich mir in der Rolle des Lehrers gefalle oder aus sonstigen Gründen. Du sollst zu jedem Schritt die Gelegenheit haben, Einwände zu erheben; du, Theologe, freilich ebenso.

Also weiter. Wenn der Natur-Pol, wie er uns erscheint, unwahr und irreal sein sollte, so müssen wir ja nun also den Menschen- oder Ich-Pol einmal als wahr und real annehmen, oder nicht?

Sehr schön, eure Voten gefallen mir, und sie ermutigen mich, nun in die Vollen zu gehen.

Denn momentan war ich ja dabei, das spiritualistische Schlussverfahren - vorsichtshalber - von hinten her zu beginnen oder, wie man sagt, das Pferd von hinten aufzuzäumen.

Denn das Eigentliche, Ursprüngliche und einzig Authentische ist ja unser "Ich will sein - ich will bleiben", nicht das der Natur in den Mund gelegte "Du musst gehen".

Unser apriorischer Lebenswille kann in die Formulierung gefasst werden "Ich will sein - ich will bleiben".

Setzen wir ihn als real und wahr an, aus unserem Unbewussten herkommend, so müssen wir ihn uns ins Bewusstsein, in die Theorie heraussetzen.

Und so kommen wir zu einer "Idee des Seins", die zunächst nur apriorisch-unbewusst in uns vorhanden ist, solange wir sie nicht explizit-bewusst - wir könnten auch schon sagen: spiritualistisch - in die Theorie heraussetzen und uns in unserer Existenz-Problematik voraussetzen: "Sein hat anzudauern, sein Enden wäre eine Verfälschung, Lüge, Betrug. 'Ewigkeit' ist die natürliche Form des Lebens oder Seins, alles sonstige Sein ist dieser Form gegenüber als unwahrhaftig oder illusorisch zu qualifizieren."

Weiter. Wenn dies nun der Wahrheit entsprechen sollte: "Sein hat ewig zu sein" - wie müssen wir dann unsere derzeitige Wirklichkeit und Natur qualifizieren, die uns nahelegt, wir müssten wieder gehen?

Sie muss ein falscher Anschein sein oder eine Verkehrung der wahren Wirklichkeit, und wir müssen eine denkerische Kraftanstrengung vollbringen, diese Verkehrung als solche zu durchschauen, um zur wahren Wirklichkeit durchdringen zu können.

Was ist das aber, was sich ergibt, wenn wir die philosophischen Gedanken einer Verkehrung unserer Wirklichkeit und einer Herumwendung unseres Geistes fassen?

Es scheint also, als ließe sich die platonische Philosophie direkt aus unserem - hier und jetzt als wahr gesetzten - Lebenswillen ableiten. Und dass Parallelen zur christlichen Glaubenslehre vorhanden sind, hatten wir schon festgestellt.

Weiter. Wir können unseren apriorischen Lebenswillen also neu und anders sichten, indem wir ihn uns in die Theorie heraussetzen, wobei wir ihn zugleich - quasi wie von selbst - in eine platonische Idee umgegossen haben, die wenigstens implizit bereits in uns liegt.

Platon hat diese "Idee des Seins" nicht explizit gelehrt, aber das macht nichts, weil es uns hier ja nicht um Platon geht, sondern um diesen merkwürdigen Willen zum Sein in uns.

Und wir wollen diesen Sachverhalt möglichst klar vor uns hinstellen: Im Außen begegnet uns ein Werden und Vergehen, welches uns auch selbst in unserer Leiblichkeit betrifft. Im Innen finden wir einen Willen zum Sein oder eine Idee des Seins in uns, welche uns einen Existenz-Widerspruch verursacht.

Dieser Widerspruch besteht ja nicht an sich, sondern er besteht nur durch und in uns. Alternativ könnte sich der Mensch ja auch einfach sagen: "Die Natur ist wunderbar eingerichtet, und ich bin voll und ganz mit ihr einverstanden. Ich werde geboren, ich will eine Weile bleiben, und dann aber will ich wieder gehen. Und so befinde ich mich im Einklang mit der Natur." - Auf diese Weise wäre kein Existenz-Widerspruch vorhanden.

So ist es aber nicht, denn da ist diese Idee des Seins in uns, die wir dann freilich verdrängen oder verleugnen können, aber zunächst einmal ist sie da, wenngleich unbewusst als Lebenswille.

Und die entscheidende Frage ist nun: Wie gehen wir mit diesen Fakten um? Denn das, was wir bis jetzt gemacht haben, ist eine bloße Analyse, durch Explizierung von Implizitem. Wir haben in uns Liegendes externalisiert. Und jetzt ist offen die Frage, wie wir das Gefundene nun wiederum internalisieren wollen?

Und jetzt erst kommt ein weltanschauliche Hypothesensetzung als Wahrheitssetzung in Betracht. Und jeder kann für sich selbst entscheiden, ob er nun eine materialistische oder ein spirtualistische oder auch noch eine andere Weltanschauung priorisieren will.

Und jetzt, Philosoph, kann ich auf jenen "Glaubenssprung" zu sprechen kommen, den du nicht tun kannst und den du m.E. auch gar nicht machen musst.

Denn aus der Annahme der Idee des Seins als wahr, ergibt sich ganz von selbst, dass wir die Natur, wie sie uns erscheint, unsere Welt und Wirklichkeit transzendieren müssen, um der Idee des Seins in uns gerecht werden zu können.

Es ist dann aber kein "Glaube (an höhere Mitteilungen an die Menschheit)", der uns den (zu suchenden) Weg in die Geistwelt einschlagen lässt, sondern die Motivation einer (höher als unser Naturwahrnehmung zu veranschlagenden) Geistwelt-Suche ergibt sich schlicht: aus uns selbst heraus!

Man kann das so sehen. Doch sind wir in unserem Gedankengang noch gar nicht zu Ende, wir sind lediglich am Ende schon sehr dicht dran. Und genau deshalb besteht jetzt die Gefahr, die fehlenden Schluss-Gliedchen zu überspringen, durch den übermächtigen Eindruck, sie verstünden sich jetzt von selbst und müssten nicht mehr in die Theorie eigens herausgesetzt werden.

Wir können nämlich jetzt fragen: Wer oder was in uns verfügt über die Idee des Seins? Und die Antwort muss lauten: Es ist der Geist in uns, der um die Ewigkeit des Seins "weiß" und der sie in uns als "seine Heimat" voraussetzt.

Es ist also nicht unser menschliches Ich, das wir überhaupt nur aus der irdischen Erfahrung heraus kennen, so zumindest unser Eindruck hier und jetzt. Und dies ist auch der Grund, weshalb wir geneigt sind, die Idee des Seins nicht als objektiv vorauszusetzen, sondern als subjektiv, als bloß subjektiv, als irreale Wunschvorstellung des Seins.

Folglich müssen wir aus dem Vorhandensein der Idee des Seins in uns schließen, dass innerhalb unserer eigenen Geistigkeit eine Differenz in sich besteht, von der wir normalerweise gar nichts wissen?

Und weil der die Bibel inspiriert habende Himmel oder die Geistwelt um uns herum um diese Differenz in uns weiß, kommt sie uns mit einem oder dem Evangelium entgegen, um uns ins rechte Schlussverfahren unserer selbst hineinzugeleiten.

Ihr seid mir voraus, denn von einem "Gott" war in meinem Gedankengang bislang noch gar nicht die Rede. Und Himmel und Bibel habe ich nur erwähnt, weil du, Theologe, vom Evangelium gesprochen hattest.

Ja, das ist richtig. Aber verwische bitte nicht die Feinsinnigkeit des Gedankenganges. Denn du musst nun tatsächlich keinen Sprung in den Glauben mehr tun, um einen Anlass zu haben, das von uns erfahrene Werden und Vergehen der Natur als Scheinwirklichkeit anzusehen, über welche hinausgegangen werden muss, um zur wahren Wirklichkeit zu kommen.

Dies ist eine berechtigte, aber eine bereits weitergehende Fragestellung, und ich bat darum, jedes Urteil sauber in sich selbst zu erfassen, um nicht in ein Assoziations- oder Flüchtigkeits-Urteilen hineinzuschlittern.

Mit der Idee des Seins, herausgesetzt und hernehmbar einzig aus dem Innen des Subjektes, stoßen wir an eine Grenze unserer Wahrnehmung. Und es tut sich hier eine Weggabelung auf, die sich aus der Zweiheit unserer Urteilsmöglichkeit ergibt. Denn jetzt ist es tatsächlich an uns, uns zu entscheiden und den Existenz-Widerspruch in die eine oder die andere Richtung aufzulösen.

Setzen wir unsere Naturwahrnehmung  außer uns als wahr an, dann müssen wir die Idee des Seins als falsch schlussfolgern, und in der Folge werden wir im Irdischen als dem Wahren und Wirklichen verbleiben.

Setzen wir aber unsere Idee des Seins von innen, aus uns selbst heraus als wahr an, so müssen wir unsere Naturwahrnehmung als eine bloße Außenansicht ansehen und versuchen in die dahinter zu vermutende Geistwelt einzudringen, z.B. dadurch, dass wir den Geist in uns in sich selbst vertiefen, konzentrieren, verdichten.

Du hast Recht, Philosoph. Tatsächlich bin ich noch ein gutes Stück weiter im Denken schon vorausgelaufen. Und trotzdem scheint mir der Vorschlag des Theologen eine gute Idee zu sein.

Denn wir haben jetzt ein gewisses Ende erreicht, oder besser: Niveau, von welchem aus es Sinn macht, unsern Blick nochmals geistesschichtlich zurück zu lenken.

Wir haben ja bisher einfach nur einen reinen Gedankengang aus uns herausgesetzt, wobei wir die Wirklichkeit nur gelegentlich streiften, im Sprechen von der Natur, von der Bibel, vom Evangelium.

Diesen isolierten oder abstrakten Gedankengang können wir nun ganz bewusst geistesgeschichtlich ins Verhältnis setzen.

In Bezug auf die platonische Philosophie habe ich es ohnehin schon angedeutet: Platons Höhlengleichnis wird aus der Idee des Seins heraus plausibel. Seine Rede von unserem Höhlendasein, vom Sichbefinden des Menschen in einer Verkehrung des Seins und der daraus folgenden Notwendigkeit, unsere Seele oder unseren Geist herumzuwenden und einen Höhlenausgang zu suchen, um zur wahren Wirklichkeit zu gelangen, erscheint nun als wahr gesprochen.

Auch die in unserem Glauben enthaltene Lehre von der Sünde, die uns zu verstehen geben will, wir befänden uns in einer Unheils-Verkehrung der Wirklichkeitsverhältnisse, und wir müssten eine Umkehr unserer selbst vornehmen, wenn wir zu Wahrheit und Heil zurückgelangen können wollen, ergibt so einen vernunftvollen Sinn.

Stellen wir beide einander gegenüber, scheint es, als könne die Philosophie bereits aus sich selbst heraus auf die Spur der Wahrheit gelangen, wie sie später dann in einem von höherer Seite aus ergangenen Evangelium an die Menschheit ihre Bestätigung erfuhr.

Auch dies hatten wir schon berührt in dem merkwürdigen Jesus-Satz:

"Warum findet ihr nicht schon von selbst das rechte Urteil?" (Lk. 12,57, Einheitsübersetzung 2016)

Die menschliche Vernunft scheint eine seltsame Zweischneidigkeit an sich zu haben, die wir auch schon in den sinngemäßen Lessing-Satz gefasst haben: die menschliche Vernunft könnte wohl, aber sie kann nicht. Und deshalb ist sie darauf angewiesen, immer wieder einmal Richtungsstöße zu erhalten, um auf diese Weise nach und nach, erst ganz allmählich die zielsichere Richtung auf die Wahrheit hin finden zu können.

Nehmen wir die umständliche, langwierige Heraussetzung der Idee des Seins aus unserem Denken als Beispiel. Oder geistesgeschichtlich auch die sokratische Maieutik, mit der Sokrates ein Wissen aus seinen Gesprächspartnern herausholt, welches diese prinzipiell aus sich selbst heraus hätten finden können. Faktisch und praktisch brauchen sie aber die Gesprächsführung des Sokrates, der schon weiß, wie das Ziel aussieht, und der daher auch das Gespräch entsprechend lenken kann.

Und das Evangelium ist auch ein solcher Richtungsstoß, der die Aufmerksamkeit der Menschen in eine bestimmte Richtung lenkt, obwohl doch in Platon das menschliche Denken schon in diese Richtung gefunden hatte?

Und hier führe ich dich, Philosoph, als Beispiel an, der du das Wahre der platonischen Philosophie bestrittest und für falsch erklärtest.

Und so finden wir in unserer Geistesgeschichte ein ständiges Vor-zurück-vor-zurück, und wir tun gut daran, nicht allzu hoch vom menschlichen Denken zu denken und es besser für wankelmütig, beeinflussbar, störanfällig zu halten.

Vielleicht, weil ich, der ich auf meine eigene Denkfähigkeit und Geistigkeit kritisch bis bedenklich blicke, im Gedankengang der Philosophie weitergekommen bin als du, der du lieber von der Zuverlässigkeit deines eigenen Denkens ausgehen willst? Was sagst du dazu?

Nach meiner Auffassung kommt es im Erkennen auf die rechte Geistesgrundhaltung an. Man muss sich schon selbst empfänglich machen für Erkenntnisse. Und als nach Erkenntnis Strebender verhielte man sich hierbei kontraproduktiv, wenn man seine eigenen Urteile wie einen stählernen Schutz- oder Abwehr-Schild mit sich führte und seine eigenen Worte in erster Linie als Angriffswaffe und Speerspitze benutzte.

Hast du überhaupt schon einmal darüber nachgedacht, wo dir Erkenntnis herkommt, wenn sie kommt?

Im Spiritualismus ist die Antwort ganz einfach. Wir Menschen leben unter den Augen des Himmels oder unter Beobachtung von uns überlegenen Geistwesen. Haben wir uns reif gemacht für eine Erkenntnis, dann wird sie uns auch gewährt werden. Der Theologe könnte dies - im Blick auf das Johannesevangelium - gewiss näher darlegen, aber ich stelle diese Ausführung zurück, die Bibel ist (noch) nicht unser Thema.

Um auf deine Frage zu antworten: Die Explizierung der Idee des Seins aus dem impliziten Lebenswillen nenne ich den Gedankengang der Philosophie, denn dazu bedarf es nur des reinen Denkens, keiner Theologie und keiner Anthroposophie.

Nur: Jetzt wird interessant, wie wir diesen reinen Gedankengang zur christlichen Theologie und zur Anthroposophie in ein konkretes, lebenerfülltes Verhältnis setzen können? Vielleicht gibt es auf diese Weise ein rechtes Weiterkommen? - um an die letzten Worte des Theologen anzuknüpfen.

Und du meinst, die menschliche Vernunft wäre damit ans Ende, an ihr Ende gelangt?

Wir haben die Wegstrecke, die die menschliche Vernunft durchlaufen kann und soll, erst zur Hälfte zurückgelegt.

Ich sprach aber nicht von der Wegstrecke der menschlichen Existenz, sondern von der Wegstrecke der menschlichen Vernunft.

Die Theologie krankt daran, dass sie Gott als Gott festhalten will. Was passiert dadurch? Die menschliche Vernunft stellt ihre Denkbemühung in dem Augenblick ein, in welchem sie Gott gedanklich erreicht hat. Sie ist streng genommen nur an der Wegstrecke zu Gott hin interessiert, danach stellt sie ihre Reflexion ein. Sie bleibt somit vor Gott stehen.

Theologisch mag das schon richtig gesehen sein. Ich will dich aber daran erinnern, dass du im Zusammenhang mit unseren religionskritischen Überlegungen meintest, wir müssten einen Tiefenpsychologen im Gespräch hinzuziehen, während ich dir aufzeigte, dass die Bibel selbst auch tiefenpsychologisch angesehen werden will und dass du, Theologe, diesen Blickwinkel selbst zu entwickeln hast.

Die Bibel ist nicht für ein Gremium von Fachwissenschaftlern da, sondern für Menschen, die sich selbst allseitig und rundum orientieren wollen und entfalten sollen.

Und ich kann hier wieder die Anthroposophie anführen, die diese allseitige Orientierung sucht. Rudolf Steiner war in dieser Hinsicht universal-gelehrt, und zwar in einer unvergleichlichen und unglaublichen Tiefe.

Wir müssen den Blickwinkel ändern, und zwar dadurch, dass wir von der theologischen Perspektive zur philosophischen zurückwechseln.

In der Philosophie wird Gott nicht als Gott ins Auge gefasst, sondern als das Sein selbst. Damit wird die religiöse Distanz zu Gott beseitigt, indem nicht auf die (unendlich große) Differenz zwischen Mensch und Gott gesehen wird, sondern auf das (analoge) Gemeinsame, Identische, auf das Sein.

Und jetzt erst ist sozusagen der Weg frei, Gott wirklich in sich selbst ernst zu nehmen. Es wird möglich ein freier Blick in Gott hinein.

Der Theologe und Gläubige kann diesen Blick nicht haben. Sein Blick auf Gott ist ein existenzieller, ein sorgenvoller und belasteter und dadurch auch ein wollender und damit auch ein verzeichnender.

Ich kann dir deine Bedenken ausräumen. Wir können Gott nämlich ganz aus dem Spiel lassen. Wir müssen uns nur den Menschen näher ansehen, der ja auch im Sein steht und ein Sein hat. Und in dieses wollen wir genauer hinein- oder zurückfragen.

Ich beginne damit, eine Frage zu stellen, von der ich nicht weiß, ob sie jemals von einem Gläubigen aufgeworfen wurde.

Nein, ich meine die Frage, ob Ewigkeit des Lebens oder Seins überhaupt erstrebenswert sei!?

Ich glaube, auf eine solche Frage ist noch nicht einmal die Religionskritik gekommen - und warum nicht?

Weil es sich quasi von selbst versteht, dass Ewigkeit des Lebens etwas ist und sein muss, das unbedingt erstrebenswert sei!

Du gibst mir das rechte Stichwort, das gewiss auch unsern Philosophen besonders interessiert: Selbst-verständlichkeit.

Denn dies ist doch das Spezifische, woran die "Kunst der Philosophie", wenn sie denn eine solche ist, festgemacht werden kann: Der Philosoph hat den Spürsinn, das Selbstverständliche nochmals in Frage zu stellen - das ist wohl eine Kunst, das kann nicht jeder, das schafft nur der philosophisch nachdenkende Mensch.

Und ist es nicht auch genau das, was uns - wenn überhaupt irgendetwas - in unserer Selbst-erkenntnis voranbringen kann: Überlegungen anzustellen, auf die sonst niemand kommt, weil die Dinge vom Common Sense für selbstverständlich gehalten werden?

Und finden wir so nicht auch eine Begründung dafür, weshalb die Philosophie ein Außenseiter-Dasein führt und führen muss, weil sie immer im Begriff steht, das gesellschaftliche Selbst-verständnis zu stören?

Zugleich wird auf der andern Seite einsehbar, die Philosophen könnten auf ihren, nun ja, Esoterik-Pfaden in Dimensionen des Menschseins vorstoßen, die den andern dauerhaft verborgen bleiben müssen, indem doch grundsätzlich gelten muss: Wo es einem Menschen gelingt, in der Selbsterkenntnis voranzukommen, dort kommt er zugleich in der Selbsterkenntnis der gesamten Menschheit voran.

Und wenn es also eine verborgene, okkulte Seite am Menschen und Menschsein geben sollte, dann ist die Philosophie die rechte Schürfstelle menschlichen Erkenntnisstrebens, um tiefer in unser aller Wirklichkeit zu gelangen, nicht etwa die moderne Naturwissenschaft und unsere modernen Naturwissenschaftler, die gewiss vielfach und intensiv an der Schale des Seins kratzen, sich selbst als im Sein stehende Menschen aber hierbei gänzlich aus dem Auge verloren haben?

Gut gesprochen, aber nicht nur in dem von dir gemeinten Sinn.

Denn wenn nun sogar die Philosophie in der Materie herumgräbt, dann muss sie wohl jegliches wahre Selbstverständnis verloren haben, weiß nicht (mehr), wer sie selbst ist und was sie selbst vermag, hat ihr eigenes Universalvermögen ganz und gar eingebüßt und hat kein Bewusstsein mehr davon, dass sie in ihren eigenen Reihen den Angelpunkt des Seins birgt...

Und weil in der Bibel dieses tiefere Wissen vom Menschen enthalten ist, deshalb muss es uns nicht wundern, dass sie einen Satz wie diesen enthält:

"Sie gehen verloren, weil sie sich der Liebe zur Wahrheit verschlossen haben, durch die sie gerettet werden sollten." (2 Thess. 2,10, Einheitsübersetzung von 1980).

Hier ist der Angelpunkt des Seins ausgesprochen und zugleich der evangelische oder Evangeliums-bezogene Vorsatz des Angelns oder Fischens erfüllt. Bringt nicht die Formulierung anschaulich das Ausgeworfensein eines Fischernetzes zum Ausdruck?

Und dieses Fischen wird realisiert als Heraus-gefischt oder Weggenommen werden aus den sich verhärtet habenden oder chronisch gewordenen irdischen Sündenverhältnissen. So ist in der Offenbarung des Johannes zu lesen:

"Und sie sangen ein neues Lied vor dem Thron und vor den vier Lebewesen und vor den Ältesten. Aber niemand konnte das Lied singen lernen außer den hundertvierundvierzigtausend, die freigekauft und von der Erde weggenommen worden sind." (Offb. 14,3, Einheitsübersetzung von 1980)

Und nur so kann "Kirche" überhaupt richtig verstanden werden als ekklesia, das sind "die Herausgerufenen". Es ist also schon auch eine Art Elitegefühl mit dem christlichen Glauben verbunden oder sollte es zumindest sein, wobei man die Neutralität der Formulierung ganz bewusst anerkennen sollte: Es handelt sich um keine "Besseren", sondern lediglich um "Herausgerufene". Anderseits sind sie freilich zu einem Sinn und Zweck herausgerufen.

Und ich möchte behaupten: Unter den Anthroposophen ist ein spürbares Herausgerufen sein vorhanden, anders als in evangelischer oder katholischer Kirche der Gegenwart. Man übersieht das gerne, indem man behauptet oder auch vermutet, die Anthroposophen seien keine Christen (mehr). - Sie sind es aber.

Wir brauchen die Wiederholung, und zwar deshalb, weil sich seit Jahrtausenden (oder noch viel länger) tagtäglich falsche Wirklichkeits- und Selbst-verständnisse unter uns etabliert haben, die wir für "normal" halten.

Richtig daran ist, dass sie uns zur Norm geworden sind, aber genau genommen handelt es sich um eine "Ab-Norm", die wir nur nicht als anormal oder abnormal anzusehen gewillt sind.

Faktisch also ist es so, dass wir im Glauben eine "höhere Norm" scheinbar annehmen, die wir aber im normalen Leben zugleich annullieren und mit Füßen treten. Das stimmt in keinster Weise zusammen. Es ist Selbstbetrug, zumindest Selbsttäuschung.

Und wenn also die Bibel selbst Wiederholungen enthält, z.B. in den vielen Warnrufen, die sie enthält, oder auch in den sog. synoptischen Texten, so deshalb, weil sie weiß, dass sich das Richtige im Falschen nur durchsetzen kann, wenn es ausreichend oft wiederholt wird.

Und wir können uns daraus einen theologischen Grundsatz ableiten: Das in der Bibel enthaltene Wort Gottes muss immer wieder wiederholt werden, womit aber nicht gemeint ist: wieder gelesen und wieder gelesen und wieder gepredigt und wieder gepredigt, solange, bis es in unsere Köpfe endlich eingedrungen sein mag. Nein.

Vielmehr muss das Wort Gottes in jede Gegenwart wieder geholt werden, und dieses Wieder-holen bedeutet, dass dieses höhere Wort - im Fortgang der Heilsgeschichtszeit - neu und besser verstanden werden muss. Heilsgeschichtlich wird unser Geist bereitet, und dieser zubereitete oder in Umwandlung begriffene Geist kann dann das Wort Gottes in der Bibel neu ergreifen und zunehmend besser begreifen - zumindest in der himmlisch-biblischen Theorie, wie mir scheint...

Und was die Lese- oder Deutungs-Flexibilität betrifft: Die Bibel ist weder eine Kinderfibel noch ein Märchenbuch, sondern ein handfestes Handbuch. Und deshalb kann unsere Theologie auch nicht so weitermachen, wie sie die Dinge seit Jahrhunderten handhabt, als ein ABC-Buchstabieren der Theologen, verursacht vielleicht auch durch eine falsch verstandene Wissenschaft, in der jede Forschungsrichtung meint, scheuklappenmäßig nur dem Ihren nachgehen zu können. Das muss aufhören.

Alternativ müssen die Buchstabierungsversuche aller zusammengenommen und zusammengesehen werden, damit ein Lesen der Gesamt- und Grundsatz-Aussage der Bibel überhaupt zustande kommen kann.

Und ich meine, die Bibel setzt das Gelingen eines solchen Zusammensehens und Zusammenlesens schon voraus, und nur so wird sie überhaupt "lesbar". Es sind in ihr handfeste, aber unsichtbare Strukturen dargelegt, die im Geiste sichtbar gemacht werden können, durch die "Hand des Geistes", die man in sich aber erst einmal zu finden hat.

Und so wird sich eine unsichtbare Wirklichkeitsstruktur aus der unsichtbaren Bibel-struktur herausheben. Und dieses Gelingen ist das Singen, das nicht alle erlernen können usw.

Wenn man freilich unseren Fall, unser Stürzen nicht sieht oder nicht sehen will, dann kann man auch nicht das Herausgenommen-, Weggeangelt- und Weggenommenwerden sehen. Das geistesge-schichtliche Geschwundensein der Geistwelt um uns hat uns seelisch-geistig in einen freien Fall versetzt, doch ist dieser Absturz im Materialsmus unerkennbar, indem uns physisch ein falscher Anschein vorliegt, indem uns die Erde - rein physisch gesehen - nach wie vor trägt.

Wenn wir wissen wollen, ob Ewigkeit des Lebens überhaupt erstrebenswert sei, müssen wir den Versuch machen, uns in dieses von uns als Menschen erstrebte Ziel hineinzudenken.

Wir befinden uns immer noch im Hypothetischen, und deshalb sollten wir prinzipiell nicht ausschließen, dass dasjenige, was bei halber Sachkenntnis irreal erscheint, bei voller Sachkenntnis real werden könnte.

Du kannst freilich auch Recht behalten, aber dies wird, wenn wir die Sache zu Ende gedacht haben, dann nur umso deutlicher werden.

Können wir so verbleiben und aus diesem Grunde fortfahren?

Denken wir uns in das in der Religion hochgehaltene Ideal ewigen Lebens hinein, so sagten wir, dieses ewige Leben müsse auch glückselig sein. Denn wenn es unglückselig wäre, so hätte "Gott" oder das Sein selbst von allen im Sein stehenden Wesen "das schlimmste Los gezogen". Denn ein endliches Sein, das sich ins Negative verkehrt, wird sein Ende nehmen, wie auch immer. Ein unendliches Sein aber muss bleiben, gleichgültig, welcher Qualität es sei.

Und damit haben wir einen neuen Gedanken: Gott oder das Sein selbst hat nicht sich selbst hervorgebracht, sondern findet sich selbst von Ewigkeit her schon vor!?

Das ist aus kreatürlicher Sicht überraschend, weil uns der Gedanke des Hervorgebrachtwerdens, des Werdens und Vergehens, so sehr geläufig ist. Wir können das Un-Gewordensein oder die Ungeborenheit eigentlich kaum denken, kaum begreifen, und doch müssen wir sie hier einmal setzen.

Und interessanterweise blicken wir in Bezug auf unseren Ewigkeitswunsch auch nicht zurück, sondern nach vorne: Unsterblichkeit. Denn das Dasein, in welchem wir uns vorfinden und welches wir von irgendwoher bekommen haben, ist uns ja ganz recht, so dass wir uns einen Terminus wie Ungeborenheit gleich ganz einsparen, dafür aber aber eine Verlängerung in die andere Richtung haben möchten. Und eben nicht nur eine Verlängerung, sondern eine Ewigkeits-Verlängerung.

Das Entscheidende haben wir immer noch nicht getan: Wir haben uns noch nicht ins Sein selbst hineingedacht, sprich: uns selbst an seine Stelle gesetzt.

In den vom Philosophen zitierten Thesen Luthers in seiner Disputation über die scholastische Theologie haben wir ja sehen können, dass Luther an dasjenige, was wir jetzt tun wollen, gerührt hat. Er hat daran nur gerührt, aber den Gedanken dann nicht weiterverfolgt, sondern ist in seinem Denken sozusagen wieder abgebogen.

Was also können wir über das Sein selbst, wenn wir uns in es hineinversetzen, aussagen?

Wir können aussagen, dass es alleine ist. Und Alleinsein heißt auch, - wir nehmen wieder unser menschliches Analogon -, keine Kommunikation und keinerlei Verbindung zu haben. Gott ist gemeinschaftslos, könnte man sagen.

Alleinsein kann freilich auch ein Vorteil sein: Man kann ungestört dem Seinen nachgehen, und in jeder Lebensgemeinschaft gibt es wohl Zeiten, in welcher die Individuen Zeit allein für sich selbst brauchen. Aber: Zugrunde liegt eben eine Lebens-gemeinschaft. Damit steht dieses Alleinsein relativ zum grundsätzlichen Gemeinsamsein.

Und wenn das Sein selbst oder Gott nun seine "ewige Glückseligkeit" - gesetzt, es sei eine solche - intensiv empfindet, muss dann nicht "etwas passieren"?

Ihr könntet euch eure Nachfragen sparen, wenn ihr mit mir ins Sein selbst hineindächtet und hinein-ginget.

Ich räume zwar ein, dass nicht alle gleich denken, und dass wir, sofern wir unterschiedlich sind, auch unterschiedlich denken, so dass streng genommen jedes Individuum seine je eigene Denkweise hat.

Nichtsdestotrotz haben wir auch Gemeinsamkeiten im Denken, und dies ist doch die Grundlage und Voraussetzung gelingender Kommunikation?

Nehmen wir wieder den Menschen als Analogie: Was mache ich, wenn ich mich glückselig fühle, sozusagen rundum in höchstmöglicher Weise mich gut befinde?

Danke fürs Stichwort! Danke fürs Mitdenken!

Was haltet ihr von der Idee, ein ursprüngliches Mitteilungsbedürfnis Gottes sei Ursache der Schöpfung gewesen?

Setzen wir dies einmal als eine Arbeitshypothese an, so ergeben sich sofort wieder weitergehende Schlussfolgerungen, nicht wahr?

Ich bin jetzt etwas irritiert. stehe ich denn mit meinem Denken ganz alleine? Ich dachte, wir wollen zusammen denken!?

Gut also. Um konstruktiv vorwärts kommen zu können, wollen wir gemeinsam akzeptieren, dass unsere drei Individualitäten uns gewisse Opfer im Gespräch auferlegen könnten. Wir können nicht voraussetzen, wir seien "ein Herz und eine Seele". Wir können aber voraussetzen, wir hätten - alle in gleicher Weise - einen gegenseitigen Verstehenswillen. Und so ist jedem von uns die Toleranz auferlegt, bei Unstimmigkeiten und Missverständnissen nicht sogleich in Opposition zu gehen, aber gebürlich nachfragen zu dürfen, wie die jeweilige Äußerung näher gemeint sei. Ist das akzeptabel?

Wenn wir unsere Situation krass formulieren wollten, könnten wir womöglich sagen müssen, wir Menschen seien Kommunikations-Nieten.

Und an dieser Randstelle unserer gemeinsamen Kommunikation möchte ich auch eine These in den Raum stellen: Wir sind noch gar kein echtes Wir geworden. Es existiert bislang kein "Wir - die Menschheit". Faktisch besteht unter uns ein Interessen-Konflikts-Bündel, das mutmaülich danach aussieht, dass wir an diesem unserem Nicht-Wir zugrunde gehen werden.

Aber nun weiter, ich fürchte ja schon die nächste Intervention unseres Theologen.

Setzen wir ein ursprüngliches Mitteilungsbedürfnis Gottes arbeitshypothetisch als wahr und zutreffend an, so folgt daraus, dass die konventionelle Theologie fehlgeht mit der Annahme, Gott genüge sich selbst und sei also in und für sich selbst vollkommen.

Nein, das ist er nicht und kann er gar nicht sein! Vielmehr zeigt sich, dass diese ewige Glückseligkeit, die das Sein selbst subsanziell ist, wenn sie für sich selbst bliebe, gewissermaßen sich selbst widerspräche und in sich selbst unvollkommen oder auch unvollständig wäre.

Und wenn wir also an früherer Stelle sagten, der Mensch sei ein zum Leben erweckter Widerspruch der Existenz in sich, nämlich dadurch, dass die Existenz aus sich selbst heraus Endlichkeit hat und Unendlichkeit fordert, dann können wir sagen, in Gott sei der exakt gegenteilige Existenz-Widerspruch realisiert, nur dass das relevante Gegensatzpaar bei ihm nicht "unendlich - endlich" lautet, sondern "allein-isoliert - gemeinsam-sozial".

Ja, du hast ganz Recht damit. Und wenn eine Konkruenz entstehen soll zwischen beiden Wegrichtungen, vom Menschen zum Gott und vom Gott zum Menschen, so müssen wir einen noch weitergehenden Gedanken zu Hilfe nehmen.

Dieser Hilfs-Gedanke ist: Es scheint, als sei in der Ewigkeit nur für Einen Platz.

Würde Gott sein Nicht-Kommunikations-Problem durch eine Verdopplung seiner lösen wollen, so stünde er seinesgleichen gegenüber, und dieser "Nebengott" wäre aber wiederum exakt durch dasjenige charakterisiert, was bereits in Gott vorhanden ist: Der Nebengott hätte also dieselbe Nicht-Kommunikations-Problematik, wie Gott selbst, denn auch er wäre wiederum mit der "ewigen Glückseligkeit" überladen oder überlastet.

Und also wäre durch einen Nebengott die - ich will einmal sagen - Not Gottes, nicht gelindert, sondern vermehrt, sogar verdoppelt.

Es bleibt dann nur die Möglichkeit, Gott bringe ein Anderes seiner hervor, damit Kommunikation entstehen kann, eine Verbindung zweier Geistwesen. - Diese Erläuterung füge ich hinzu, weil wir uns ja immer noch unter der Hypothese und Direktive des Spiritualismus bewegen, woraus der Mensch gedacht werden muss als "Geist vom Geist".

Und wenn also nur ein Gott sein kann, indem in der Ewigkeit nur Platz für Einen ist, so bringt Gottes Hervorbringen eines Anderen unweigerlich oder notwendig das Handikap mit sich, dass dieses oder dieser Andere jenseits der Ewigkeit im Sein zu stehen kommen muss, nicht in der Ewigkeit (Gottes) selbst.

Und auf diese Weise scheint also Gottes Lösung seines Nicht-Kommunikations-Problems für diese entstehenden und entstandenen Anderen (denn dieser Prozess ist ja offensichtlich in die Vielheit, in Viele ausgelaufen) zur genauen Umkehrung der Gottesproblematik zu führen: Sie haben jetzt Kommunikation und Gemeinschaftlichkeit oder Gesellschaft, wissen dies aber sozusagen nicht wahrhaft zu schätzen (indem sie die ursprüngliche Not Gottes gar nicht sehen), und sie wollen nun - umgekehrt - die Ewigkeit des Seins haben, ohne sich dessen bewusst zu sein, dass sie auf diese Weise ihre Gemeinschafts- und Kommunikations-möglichkeit wieder einbüßen werden.

So ergibt sich eine gegenseitige Hervorbringung und Wiederaufhebung von Gegensätzen: Gott hat die Ewigkeit, ist aber kommunikations- und gemeinschaftslos, und seine Kreatur hat die Kommunikation und Gemeinschaft, ist aber sozusagen ewigkeitslos.

Dies scheint mir die Grundspannung des Seienden zu sein: Gott bringt notwendig die Vielheit und Endlichkeit aus sich hervor, und die Vielheit und Endlichkeit strebt notwendig zurück zur Ewigkeit, die sie durch ihr Sein eingebüßt hat.

Das siehst du wohl ganz richtig, nur läufst du uns und unserem Gedankengang damit weit voraus.

Denn viele Fragen sind im Gedichtzusammenhang aufzuwerfen und zu beantworten, so z.B. die Frage einer Selbst-Verdoppelung in Gott und Mensch (wenn der Mensch Geist vom Geist ist), eine Frage, die übrigens auch Lessing in seiner "Erziehung des Menschengeschlechts" aufwirft (EdM § 73).

Und ganz besonders auch die Deutung des Titels "Wiederfinden", die uns doch an die platonische Aussage erinnert, Erkennen sei Wiedererinnerung. Entscheidend ist damit die Klärung der Frage unseres Geistseins, unseres Denkvermögens, somit der existenzielle und ontologische Stellenwert des Strebens nach Erkenntnis, und - um einen Bogen zu unserem Diskussionsstand der Dinge zurückzuschlagen: Genügt es, wenn der Mensch theologisch nach Gotteserkenntnis strebt, oder wäre es nicht viel angemessener und näher an den wahren Wirklichkeitsverhältnissen dran, wenn der Mensch sich darum bemühte, Gott zu verstehen!?

Das ist es ja wohl, womit wir hier und jetzt gerade beschäftigt sind?

Und ich will also fortfahren in meinen Ausführungen: In der Religion macht sich der Mensch zumeist selbst klein vor dem großen Gott, und aus diesem Grund kommt er bestenfalls zu einer vagen Gotteserkenntnis, aber niemals zu einem echten Gottesverständnis.

Allein schon der bloße Gedanke, Verständnis für Gott haben zu sollen, ist theologisch gesehen befremdlich und abwegig. Denn wenn es ein Wesen im Sein gibt, das kein Verständnis braucht, dann doch wohl der Gott, der in sich selbst ewiges, glückseliges leben besitzt? - Diese Schlussfolgerung zeigt, wie aus einer fehlgehenden, sich abstrakt haltenden Gottes"erkenntnis" der Fehlschluss hervorgeht, in Bezug auf Gott sei ein "Verständnis haben" fehl am Platz.

Und dann ist die evangelische oder auch reformierte Theologie noch auf die abstruse Idee gekommen, Gott als "den ganz Anderen" anzusehen, was ja letztlich darauf hinausläuft, dass der Mensch aus sich selbst heraus zu keinerlei Gotteserkennen kommen kann, sondern darauf angewiesen ist, wie dieser "Fremde" (und sozusagen "grundsätzlich Unerkennbare") sich gnädigerweise "dem Menschen offenbarend zuwendet".

Und wenn es nun aber - in Wahrheit - genau anders herum wäre: Gott ist nicht "der ganz Andere", sondern Gott ist "der ganz Eigene", der mir nähersteht, als ich mir selbst!? Indem er nicht nur die personifizierte Selbsterkenntnis ist, sondern auch alle Fremderkenntnis in sich fasst, und auch fassen muss, denn alles Anderssein hat sein Selbstsein von ihm her erhalten und nicht etwa sich selbst gegeben?

Und folglich würde der Mensch sich nur genau dann richtig und schöpfungskonform verhalten, wenn er sich nicht "vor Gott kleinmachte", sondern wenn er sich selbst größer und größer machte, so groß, bis er schließlich "die Größe des Seins selbst erreichte" und in sich mitumfasste?

Wahre Bildung könnte dann genannt werden eine ständig fortlaufende Aneignung des Fremden und Anderen, seine Aufnahme in sich selbst, somit eine fortschreitende Fremd-Aufhebung durch Selbst-Aneigung. Auch dies ist in dem Goethegedicht enthalten.

Und der kosmische Veränderungsprozess läuft dann darauf hinaus, dass der Mensch zu erkennen hat, dass er grundsätzlich nicht so bleiben kann, wie er ist, sondern dass er fortlaufend wieder ein Anderssein anzunehmen hat, sozusagen als neues und besseres Kleid seiner in kosmischer Wandlung begriffenen Geistigkeit.

Und der tiefere Grund ist, dass alle Wesen sich selbst als Geist vom Geist zu verstehen haben, und sie haben ihr Sein im und als Anderssein. Und wenn ein Anderssein sich selbst recht verstehen will, muss es von sich aus wieder danach streben, sein Anderssein auch wiederum aufzuheben, durch alle Welten und Zeiten hindurchzuschreiten, solange, bis sie wahrhaft bei sich selbst herausgekommen sein werden - im Sein selbst.

Und wenn dies geschehen ist, indem die Kommunikation der Geistwesen unter sich vollkommen gelungen ist, in einer gemeinsamen und wohlgeordneten Rückkehr des Vielen ins Eine, so wird Gott dereinst dann wieder sagen können: "Auf ein Neues - ich will mich wiederum mitteilen..."

Und wiederum haben wir ein neues Niveau erreicht. Habt ihr es bemerkt?

Wenn ihr so unaufmerksam und unkonzetriert in unserem Gespräch seid, wird es die Echt-Christen nicht wundern, wenn Christi Wiederkunft passiert und wenn er in seinem Passieren auf höherer Geist- und Wirklichkeitsebene sie, die geangelten Echt-Christen, en passant mit sich nehmen wird, an euch und an der übrigen und zurückbleibenden Menschheit vorbei.

Ich "fordere" gar nichts von dir und bedanke mich sowohl bei dir als auch beim Philosophen, dass wir dieses gemeinsame Gespräch führen können.

Gewiss kennst du ja die Bibelstellen, in welchen von Menschen - im Hinblick auf die biblisch genannte "Zeit der höchsten Not" - Ausreden verschiedenster Art geschildert werden, um sie für einen Zeitpunkt und ein Ereignis zu entschuldigen, für welche alle Entschuldigung dann schlicht obsolet geworden sein wird, indem zur reif gewordenen Menschheits-Zeit ein Schnitt und Schwellenübertritt geschehen wird, sozusagen ohne Rücksicht auf Verluste?

Unsere Zeit ist es, die Erfordernisse mit sich bringt, nicht ich. Ich fahre fort.

Wir haben zuletzt nicht theologisch eine Erkenntnis Gottes gesucht, sondern philosophisch ein Verstehen des Seins selbst.

Um das Sein selbst verstehen zu können, muss man sich in es hineindenken und hineinversetzen, an seine Stelle denken, was dann rechtens und legitim ist, wenn der Mensch erstens Geist vom Geist ist und wenn er zweitens auch sich selbst als Geist vom Geist versteht.

Er muss ein entsprechendes Selbstverständnis entwickeln und haben und leben. Die Anthroposophen haben es, unsere gegenwärtige Theologie und Kirche hat es nicht: Sie steht nicht fest im Geist und in der geistigen Wahrnehmung der Wirklichkeit. Sie ist zweiflerisch und wankelmütig. Auf sie trifft im Grunde zu, was die Offenbarung des Johannes in folgende Worte fasst:

"Ich kenne deine Werke, dass du weder kalt noch warm bist. Ach dass du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde." (Offb. 3,15f, Lutherbibel 2017)

Und unser gegenwärtiger Atheismus und Materialismus hat es auch nicht. Und ich finde es überaus bedauerlich, dass du, Philosoph, dich dem Materialismus verschrieben hast, obwohl zur Philosophie m.E. konstitutiv der Zweifel gehört, damit aber auch das möglichst lange Hinauszögern und Offenhalten der Frage, in welcher Weltanschauung das Seiende richtig gesehen werde, im Materialismus oder im Spiritualismus.

Spart euch eure Antworten. Ich fahre fort.

Wir sind jetzt philosophisch (soll heißen: aus reiner Vernunft oder einem nur vernehmen wollenden Denken) zu einem Verständnis des Seins gekommen. Und wir können jetzt sogar philosophisch formulieren oder auch reimen:

          Das Sein versteht sich von selbst,
          Wenn es sich wahrhaft versteht.

Und das wahrhafte Verständnis des Seins sehe ich im Spiritualismus realisiert.

Wir ersehen daraus die volle Berechtigung der Jesus-Schelte an uns Menschen in Lk. 12,57:

"Warum findet ihr nicht schon von selbst das rechte Urteil?"

Jesus sagt uns damit gleichsam: Ihr habt (von mir) ein Evangelium bekommen, obwohl ihr - eigentlich - gar keines bräuchtet!

Denn das Evangelium gibt uns ja nichts Fremdartiges, nichts "ganz Anderes" und nichts aus uns selbst heraus Unerkennbares, sondern es gibt uns genau das, was wir aus rechtem Selbstverständnis heraus aus uns selbst hätten gewinnen können.

Und die ganze Menschheitsproblematik des Äons, in welchem wir sind und leben, besteht darin, dass uns unsere wahren Wirklichkeits- und Seins-verhältnisse korrumpiert worden sind, und zwar so sehr, dass wir doch glatt vergessen haben, dass wir Geist vom Geist sind und dass ein menschliches und menschheitliches Selbstverständnis als Geist-wesen richtig und angemessen für uns wäre.

Und so befinden wir uns - wir wissen gar nicht, seit welchen Urzeiten - in einem krassen Selbst-missverständnis, das schnurstracks in den Atheismus und Materialismus der Gegenwart hineinführte, der von Vielen oder gar den Meisten heute als normal und natürlich angesehen wird, bis hinauf zu unsern Akademikern, Wissenschaftlern und scheinbar Besten.

Das "neue Niveau", das wir erreicht haben, besteht darin, dass wir im Hineingehen ins Sein selbst feststellen mussten, dass es ein Stehenbleiben in der Ewigkeit des Seins nicht gibt und nicht geben kann.

Wir stellten vielmehr fest: Wenn der Mensch es unternimmt, das Sein selbst verstehen zu wollen, so kommt er gewissermaßen in den Sog dieses Seins selbst oder Gottes hinein und muss mit ihm durch ihn hindurch- und über ihn hinausgehen und kommt dann auf der "anderen Seite Gottes" wieder heraus, beim "Anderen" und "Vielen", welches notwendig aus ihm hervorgegangen ist.

Und dieser Terminus "notwendig" scheint mir unserer Aufmerksamkeit wert. Er hat für uns heute die Bedeutung von "logisch zwingend", und wir ignorieren hierbei im Grunde das Wort als solches. Es handelt sich ja tatsächlich um eine sehr merkwürdige Wortbildung. Etymologisch bedeutet "notwendig": "geeignet, die Not zu wenden" - so die Bedeutung zu Beginn der Neuzeit, zur Lutherzeit [vgl. DWDS, notwendig, etymologisch].

Und dieses Verständnis trifft nun exakt zu auf das Handeln Gottes, der seine eigene Not damit wendet, wir könnten auch sagen: lindert, und er tut es nicht nur einmal, sondern immer wieder.

Und so haben wir eine plausible Erklärung für unser eigenes Dasein, welches wir als "die andere Seite Gottes" zu begreifen haben.

Jetzt erst haben wir das Ganze des Seins vollständig durchlaufen. Und, ob wir nun der Meinung sind, wir hätten es nach hinten oder nach vorne durchlaufen, ist letztlich einerlei, denn das Sein selbst liegt ja in beiden Richtungen, indem es sowohl unsere Herkunft als auch unsere Zukunft ist.

Insofern aber der Ausgangspunkt unseres Denkens jenes Dasein ist, welches wir selbst vorfinden und welches auch wir selbst sind, beginnt der Denkprozess als Nachdenken eines Vorgedachten und kann insofern Rückwärtsdenken genannt werden. Der Welt liegen Ideen zugrunde, in denen sie bereits vorgedacht ist und wonach sie dann auch gestaltet wurde und wird.

Und wenn wir aus diesen Dingen uns selbst als Menschen herausgreifen, so liegt auch uns eine Idee zugrunde, in welcher wir vorgedacht sind und welche wir nachzudenken haben.

Und wenn wir nun diese Idee des Menschen - als eines animal rationale - so ins Auge fassen, dass der Mensch die eine und einzige Aufgabe hat, das Sein zu verstehen, Verständnis für das Sein zu entwickeln, so können wir sagen, dass unsere Wissenschaften an der wesenhaften Aufgabe unserer selbst dran sind, und zugleich, dass sie sie aus dem Auge verloren haben, indem sie sich von der Philosophie, die ursprünglich mit der menschlichen Existenz verbunden gewesen ist, gelöst, getrennt und verabschiedet haben.

Und wenn die Philosophie - auch nach Kant - slebst Wissenschaft sein will, so ist sie auch in sich selbst von sich selbst abgekommen. Und wenn nun niemand mehr die Philosophie in sich selbst berichtigt und in ihr Wesen zurücksetzt, so muss die Menschheit dauerhaft ihre eine und einzige Aufgabe versäumen und kann nicht zu sich selbst kommen.

Die Philosophie ist es, in der der Mensch nach der Erkenntnis des Seins strebt, und wenn er intensiv an diesem Bestreben arbeitet und festhält, so wird ihn diese seine Liebe zur Wahrheit retten, nämlich schnurstracks in die Wahrheit hineinführen, wie die Bibel sagt (2 Thess. 2,10).

Und so können wir sagen: Die Idee der menschlichen Existenz besteht darin, das Sein selbst in sich selbst zu erkennen, wobei die Doppelbedeutung zugleich zutrifft: das Sein erkennen  im Sein selbst und in der Existenz des Menschen.

Damit ergibt sich für den Menschen die philosophische Geistesgrundhaltung als notwendig richtig. Philosophie ist nicht überflüssig, sie ist notwendig, und es ist ebesno notwendig, dass sie ihr Ziel erreiche. Nur so kann das Ganze des Seins in sich stimmig werden.

Und wenn wir uns nun mit dieser "Rücken-informtion" den Menschen anschauen, wie er beginnt, Philosophie zu treiben und also erkennend zur Wahrheit des Seins hinzustreben, dann können wir jetzt sagen: Oh ja, das Ganze des Seins ist schon in sich stimmig. Die Philosophie bringt irgendwann die Idee des Seins aus sich hervor, geht in sie hinein und durch sie hindurch und kommt dann auf der anderen Seite wieder heraus. Diese "andere" Seite ist aber genau diejenige, auf welcher die Philosophie bereits steht. Also kommt die Philosophie - im Durchgang durch das Sein selbst - wieder bei sich selbst heraus. Der Mensch vollendet den Kreislauf des Seins, aber nur als philosophierender.

Die Philosophie ist dem Menschen notwendig, alles sonstige Streben nach Erkenntnis, meinetwegen "Wissenschaft" genannt, ist Kür, vielleicht nützlich und hilfreich, aber kontingent.

Mit dieser Sichtung bist du an der Wahrheit schon nah dran, triffst sie aber noch nicht. Das Ich ist nicht die höchste Form des Geistes, auch wenn es uns derzeit so erscheint, weil es eben momentan unsere höchste Form ist, über die wir nicht hinausdenken können, weil wir selbst noch nicht darüber hinausgekommen sind.

Anthroposophisch gesehen besteht der Mensch aber aus sieben Wesensgliedern, deren augenblickliche Mitte dieses Ich ist. Das nächsthöhere Wesensglied, dessen Entfaltung uns unmittelbar bevorsteht, wird Geistselbst genannt.

Gewiss, ein seltsamer Name. Aber aus unserem Sinnzusammenhang kann ich dir eine einfache, plausible Herleitung geben.

Siehe: Ein Ich kann der Mensch haben ohne Bewusstsein seiner eigenen Geistigkeit und der Geistigkeit des Universums. Nimm dich selbst als Beispiel, der du materialistisch denkst und lebst.

Das menschliche Ich ist selbst erst geworden über einen geistesgeschichtlichen Entwicklungsprozess, erkennbar noch am Dasein des Kleinkindes, das erst mit drei Jahren lernt, das Wort "ich" auf sich selbst anzuwenden und für sich selbst zu gebrauchen. Vorher spricht es von sich selbst in der dritten Person Singular, bedingt dadurch, dass es auf sich selbst nur indirekt blickt, nämlich vom Sein und Mittelpunkts-Dasein seiner Mutter her.

Kommt nun der Mensch in seiner geistesge-schichtlichen Entwicklung dazu, sein eigenes Ich als grundsätzlich und wesenhaft geistiger Natur anzusehen, sich selbst also als geistige Substanz wahrzunehmen, so beginnt dieses menschliche Ich sich selbst als Geistwesen zu setzen und anzuerkennen. In demselben Augenblick, in welchem der Mensch begreift, dass er selbst Geist ist, ergreift er sein Geistselbst an einem Zipfel.

Die Anthroposophen stehen schon in diesem neuen Selbstverständnis, die meisten Anderen wohl noch nicht.

Anthroposophisch ist auch erkannt, dass das deutsche Wort "Ich" aus den lateinischen Initialen des irdischen Namens Christi besteht: Iesus CHristus. Dies wiederum kann als Zeichen dafür genommen werden, dass das Ziel aller Menschen ist, zugleich Menschlichkeit und Menschheitlichkeit in sich auszubilden. Als Geistverhältnis ausgesprochen bedeutet es, dass alle Menschen die Zielrichtung auf das Christuswesen hin nehmen und in ihm ihren wahren Mittelpunkt, ihr Zentrum erkennen sollen.

Gut, diesen Gedanken nur noch abschließend: Der Philosoph erwirbt sich die allerbeste Kenntnis der Allgemeinheit, während er von ihr übergangen, belächelt oder auch verteufelt wird.

Wenn wir wissen wollen, ob Ewigkeit des Seins überhaupt erstrebenswert sei, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als zu versuchen, uns in diese Ewigkeit einmal versuchsweise hineinzudenken.

Ja, das wissen wir nicht. Wir bewegen uns aber immer noch in unserer Idee des Seins, von der wir noch nicht sicher wissen, wie der rechte Umgang mit ihr sei.

Wir wissen nicht, ob es einen Gott gibt, und wir wissen nicht, ob es "das Sein selbst" gibt. Wir wissen aber, wie dieses "Sein selbst" beschaffen sein müsste, wenn es es gäbe: Ewigkeit des Lebens, und zwar in einer gänzlich positiven Form, sagen wir, als Glückseligkeit.

Denn dort, wo das Leben und Sein so schwer wird, dass es unerträglich wird, kehrt sich der Wille zum Sein in den gegenteiligen Willen zum Nicht(mehr)sein um, welches dann als Vorteil und Gewinn erscheint.

Es ist gut, Theologe, dass gerade du mich danach fragst. Denn traditionell erstrebt die Theologie ja die Erkenntnis Gottes. Mir aber erscheint diese Formulierung und Wortwahl nicht sehr gut gewählt zu sein, denn es ist - wie soll ich sagen - ein "Erkennen mit Vorbehalt".

Lass uns wiederum vom Menschen sprechen, denn bei ihm wirst du sofort verstehen, was ich meine.

Nehmen wir einen Menschen, der psychisch leidet und daher einen Psychologen aufsucht und ihm seine Problematik schildert. Wie reagiert der Psychologe darauf? Was antwortet er ihm?

Ja, sachlich richtig, nur hast du jetzt meine Sprachproblematik übergangen oder nicht gesehen. Ich meine nämlich: Der Psychologe spricht nicht den Satz zu dem Leidenden: "Ich erkenne dich", sondern er spricht den Satz: "Ich verstehe dich." - Merkst du den Unterschied?



Und das Entscheidende ist:

Schlüsselgewalt Erkenntnisvermittlung

Ich muss jetzt gehen. Seht ihr eigentlich, wie schwerfllig ihr in eurem Denken seid!? Wie wollt ihr jemals mit der Leichtfüßigkeit des Geistes, der durch die Zeiten und Welten marschiert, mithalten können?

Es bleibt keine Zeit mehr...

Denn der Autor dieses Textes, sozusagen unser Gärtner, der uns drei hier zusammengepflanzt hat, ist der Meinung, es sei jetzt mit der Einleitung genug. Wenn Leserin und Leser nun interessiert sind, können sie sich mit der Website eingehender befassen. Wenn nicht, haben sie die Freiheit, diese Website wieder zu verlassen.

Weil ich die rechte Verbindung nach oben gefunden habe, während ihr diese Verbindung und Verbindlichkeit eurer selbst immer noch sucht und daher wertvolle Zeit vertrödelt damit, über das längst verstehbar gewordene Ganze des Seins immer noch unverbindlich nachzudenken, anstatt - wie ich - mit der Geistgemeinschaft nun vorzudenken - in die Zukunft unserer selbst hinein.

Das Geist-Anbindungs-Thema ist menschheitsge-schichtlich (und mehr oder weniger auch heils-geschichtlich) abgehakt. Auch wenn ihr immer noch sowohl vor euch selbst als auch gesellschaftlich den Anschein erwecken wollt, es bestehe immer noch, nach wie vor, eine Berechtigung zu Zweifel und Unglaube und Umherirren im Sein.

Eine solche Berechtigung besteht nun nicht mehr, nur dann, wenn der Mensch seine Geistes-geschichtslektionen nicht ordentlich, sprich: nicht rechtzeitig gelernt hat.

Und so befinden wir uns gegenwärtig bereits mitten in der Schlussstrich-Ziehung! - wie sie uns sowohl in den Evangelien als auch in der Offenbarung des Johannes vorangekündigt ist.

Und man kann jetzt sehen, dass Luther gut und richtig erkannt hatte, dass Christus in der Offenbarung des Johannes nicht gelehrt wird und also daraus auch nicht erkannt werden kann. Nur hat er den Grund dafür nicht erkannt: die zeitliche Befristung unseres Nachdenkens und unseres Zum-Geist-Zurückfinden-Könnens.

Das, was für den Atheisten und Materialisten unglaublich ist, ist tatsächlich wahr: Unsere Geistesgeschichte hat einen klaren, eindeutigen Sinn - und zwar: gehabt, denn:

Die Frist ist ausgelaufen, und deshalb wird Christus in der Offenbarung nicht mehr gelehrt. Er muss nämlich jetzt verstanden sein. Und Luthers Nicht-Wiedererkennen-Können des Christus ist ja nur die Folge eines biblisch schon zuvorig genannten Nicht-Wiedererkennen-Könnens Christi (des Bräutigams), nämlich seiner Christen (seiner Braut), insofern sie nur Nominal-Christen geworden sind, mit bloßen Lippenbekenntnissen, anstatt Echt-Christen, mit echten Geistes-Taten (vgl. z.B. das Gleichnis von den Jungfrauen bei Matthäus).

Und wenn ihr mehr wissen wollt, so befragt bitte den Geist in euch selbst... Denn ich muss jetzt gehen... Es bleibt keine Zeit mehr...



Nur ist uns geistesgeschichtlich die starke Individualisierung der Menschen dazwischen-gekommen, und deshalb denkt Jeder und Jede individuell, weil Jede und Jeder eine andere Raum-Zeit-Stelle im Sein einnimmt, die das menschliche Denken und Wahrnehmen prägt und - leider - vereinseitigt, weil für alle unterschiedliche Dinge in den Vordergrund gerückt sind und wir noch zu wenig Aufmerksamkeit auf die Hintergründe unserer selbst haben.