1. Die Philosophie in der Existenzkrise

A. Motto und Grundproblem

Der Sinnspruch dieser Website bedarf der Erläuterung. Behauptet wird, Philosophie und Wissen würden sich ausschließen. Wenn ein Wissen sei, könne keine Philosophie sein, und die Philosophie komme nur dann zum Vorschein, wenn das Wissen als solches vergehe, oder wenigstens erste Auflösungserscheinungen zeige, also zumindest einmal in sich fragwürdig werde…

Wir leben heute in einer stark kultivierten Wissenschaft, die sich im Laufe der Jahrhunderte vielen Gegenständen konkret zugewendet hat. Daraus ist eine Fülle an Wissen entstanden, welches nun die Grundlage unseres Weltverständnisses bildet, im Grunde der Boden ist, auf welchem wir stehen. Die Philosophie ist darüber nahezu vergessen geworden, und dieses Verhältnis spiegelt sich im Motto auch wider.

Die Rechtfertigung des Sinnspruches liegt darin, dass m.E. die Philosophie tiefer im Menschen angesiedelt ist als die Wissenschaft. Deshalb reichen die Wissenschaften bis zur Versprachlichung der Ratio (mit einer gewissen Ausnahme der Tiefenpsychologie) und können zu einer Begrifflichkeit kommen, die wir dann „Wissen“ nennen, während die Philosophie genau damit enorme Probleme hat (sichtbar bereits in ihren geistesgeschichtlichen Anfängen), so dass es scheint, als könne sie kein mitteilbares Wissen hervorbringen, weil das, was sie „Erkenntnis“ nennt, überaus vage und ungreifbar bleibt, so dass sie auch ungeeignet scheint, uns in unserer Existenz in irgendeiner Weise voranzubringen. Tatsächlich aber kann sie uns voranbringen, und zwar enorm.

Zunächst will ich meinen Blick auf die griechischen Anfänge der Philosophie richten, in denen diese Eigenart oder Merkwürdigkeit der Philosophie bereits sichtbar wird. Und von dort aus will ich dann einen Weg suchen, um diese problematische Stellung der Philosophie heute besser erfassen zu können, mit der Zielrichtung, ihrer mutmaßlichen Tiefe näher nachzuspüren oder ihren Grund (im Menschen) gar zu erreichen.

B. Die ursprüngliche Gestalt der Philosophie

Sokratische Fragekunst und platonische Aporie

Ein Spezifikum der Philosophie bei Sokrates ist seine Kunst der Befragung, die er selbst Maieutik (Hebammenkunst) nannte und mit welcher er aus seinen Gesprächspartnern jenes Wissen zutage förderte, das er selbst schon innehatte. Die typisch sokratische Denkbewegung ist uns schriftlich überliefert in den frühen platonischen Dialogen, die alle Versuche einer Begriffsbestimmung darstellen, z.B. in der Frage „Was ist Tapferkeit?“ Sokrates führte aber keine Fachdiskussionen mit Fachleuten, sondern Laiengespräche, Gespräche also, an denen jeder gerade zufällig Anwesende beteiligt sein konnte; entsprechend konnte Sokrates vielfach plaudernd auf dem athenischen Marktplatz angetroffen werden. Dennoch hat Platon diese Dialoge kunstvoll gestaltet, und so ist in "seinem" Gespräch über die Tapferkeit auch ein athenischer Feldherr mitanwesend, ein Fachmann, der sich im Krieg bewährt hat und der also aus seiner berufsspezifischen Lebenserfahrung heraus sagen können sollte, was das sei: Tapferkeit; und nach ihm ist der Dialog dann auch benannt worden: Laches.

Externer Link zum Text: Platon, Laches (erst ab 190 geht Sokrates in medias res seiner Befragung), Projekt Gutenberg-DE - https://www.projekt-gutenberg.org/platon/platowr1/laches1.html, Übersetzung: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, abgerufen am 11.02.2024

Die dargestellte Denkmethodik besteht darin, den Gegenstand „Tapferkeit“ nach und nach thematisch einzukreisen, um schließlich zum Ziel einer die Sache punktgenau treffenden Definition zu gelangen. Allerdings: Platon enttäuscht seine Leserschaft, denn all diese Dialoge haben als ein Gemeinsames, dass das Ziel nicht erreicht werden kann, so dass aus den Gesprächen ein gewisser Frust resultiert, die sog. platonische Aporie (Ausweglosigkeit, Ratlosigkeit): Ein Wissen war gesucht worden, aber es konnte nicht gefunden werden. Das Gesprächsergebnis ist also nicht zufriedenstellend, und doch ist es kein Nichtergebnis, was resultiert, wenn man sich den Gesprächsverlauf vergegenwärtigt, nur bleibt ein „Wissen“ zurück, welches - unbefriedigenderweise - kaum in Worte zu fassen ist.

Die zwei Seiten in der sokratischen Gesprächssituation

Was ist in den Gesprächen nicht gelungen? Nicht gelungen ist z.B. der Begriff der Tapferkeit, also der Erwerb des Wissens, was Tapferkeit sei. Was aber ist gelungen? Beteiligt am Gespräch ist einer, der bzgl. Tapferkeit Lebenserfahrung hat, Laches. Wenn also unter allen Anwesenden einer wissen kann, was dies sei: Tapferkeit, so wird dies wohl ein solcher sein, der sich im Kampf bewährt hat, denn dies kann und konnte er ja nur dadurch, dass er die Tapferkeit selbst praktizierte. Und wenn also einer tapfer „ist“, dann sollte er uns doch auch "sagen können", was das sei, was er lebenspraktisch getan hat und tut?

So zeigt sich, dass zur sokratischen Gesprächssituation zweierlei Teilnehmer gehören: Diejenigen, die mit einem „Nichtwissen“ antreten und in Erfahrung bringen wollen, was Tapferkeit sei – zu ihnen gehört Sokrates selbst, und diejenigen, die mit einem „Wissen“ antreten und potenziell Aufschluss über die in Frage stehende Sache geben können sollten – zu ihnen muss in jedem Fall Laches gerechnet werden.

Und die sokratische Befragungsmethodik zeitigt nun als Gesprächsergebnis, dass die scheinbar Wissenden tatsächlich Nichtwissende sind, indem sie die Antwort auf die Frage schuldig bleiben müssen, weil jeder Versuch einer Begriffsbestimmung kritisierbar und unzureichend bleibt, während umgekehrt die scheinbar Nichtwissenden (unter Sokrates‘ Führung) am Ende immer als Sieger aus dem Disput hervorgehen, und bestünde dieser Sieg zuletzt auch nur darin, dass Sokrates‘ Uraussage, er habe kein Wissen (sozusagen der ostinat wiederkehrende Cantus firmus all seiner Gespräche), bestätigt sei, während die Anfangsannahme (bzgl.) des Gesprächspartners, er habe ein Wissen, widerlegt ist.

Das sokratische Nichtwissen

Im Gesprächsverlauf kehren sich also die Rollen des Wissenden und des Nichtwissenden um. Sokrates geht aber nur scheinbar als Nichtwissender ins Gespräch. Tatsächlich hat er in seinem Leben sehr viel Zeit für das Nachdenken aufgewandt, und entsprechend hat er eine Denk- und Argumentationsroutine entwickelt, mit welcher er all seinen (athenischen) Zeitgenossen überlegen ist, und er weiß das selbst auch. Dieses sein höheres Reflexionsniveau ist immer mit dabei, wenn er Gespräche führt. Und aus dieser souveränen Geisteshaltung und Reflexionssicherheit heraus kann er immer wieder die Anfangspositionen umkehren, indem die Dinge am Ende anders sind, als sie am Anfang erscheinen: Der Gesprächspartner ist der eigentlich Nichtwissende, und Sokrates ist der eigentlich Wissende, der aber auch nach dem Gespräch zu Recht aussagen kann, er sei gar kein Wissender, denn es resultiert ja die platonische Aporie, die Unmöglichkeit, ein Wissen zu fassen und zu formulieren. Das Wissen des Gesprächspartners wird erschüttert, das sokratische Nichtwissen bleibt bestehen, aber als überlegene Wissens-Position, die allerdings den dauerhaften Makel an sich hat, dass sie "nicht aussagbar" ist. Das sokratische Nichtwissen ist deshalb gar kein Nichtwissen, sondern es ist eine Wissensform, die viele Argumente bereits durchlaufen und in der Urteilsbildung berücksichtigt hat, nämlich mehr als alle anderen Gesprächspartner, allerdings, ohne schon zum Wissen, zu einem Begriff gekommen zu sein.

Und genau damit kann das „philosophische Wissen“ vom „wissenschaftlichen Wissen“ zunächst einmal unterschieden werden: Die reflexive Denkbewegung ist dieselbe, nur kann sie nicht im Begriff oder Wissen zum Ziel und Stillstand kommen, weil jegliche Form der Aussage- oder Axiomsbildung sich als unzureichend erweist und ein Noch-tiefer-Fragen möglich bleibt.

Das Wissen unserer Wissenschaften

Demgegenüber sehen wir aber bei unseren Wissenschaften, dass sie sehr wohl zum Begriffsziel gelangen. Vergegenwärtigen wir uns als Beispiel die Elektrizität. Wir wissen heute, was elektrischer Strom ist, können ihn auch erzeugen und für unser Leben zur Anwendung bringen. Dies ist eine Errungenschaft der Wissenschaft, nur dass die „Frage der Philosophie“ dadurch noch nicht gelöst ist und daher auch nicht als erledigt betrachtet werden kann: Unser Elektrizitäts-Wissen schließt uns die menschliche Existenz nicht auf, also ist dieses Wissen als Wissen unzureichend, gemessen daran, was wir als Wissen von Grund auf haben wollen: den Aufschluss unserer Existenz als Menschen. Und diese Feststellung können wir in Bezug auf jede Wissenschaft treffen, so dass wir sagen können: Irgendwie ist das Wissen all unserer Wissenschaften noch unzureichend, so, als würde es nicht in die Tiefe des Seins reichen und führen…

Nebenbei wollen wir uns bewusst bleiben, dass das Elektrizitäts-Wissen ein Anwendungswissen ist, welches seinen lebenspraktischen Sinn in sich selbst trägt. Dieses Wissen ist Mittel zum Zweck, soll heißen: zu unseren Zwecken, die selbst nicht in die Tiefe des Seins reichen, sondern sich an der Oberfläche unseres rationalen und rationalisierten Lebens bewegen und halten. In der Philosophie ist aber keine Zweckdienlichkeit des Wissens gesucht, sondern die „Tiefe des Seins selbst“, was auch immer mit dieser Formel gemeint sein mag, so dass als Frage resultiert: Ist mit "Tiefe des Seins selbst" nun etwas Wesenhaftes ausgesagt oder ist es nur eine sprachlich-philosophische Floskel, mit welcher kein wahrer Sinn verbunden werden kann, so dass aus Wissenschaftssicht gefragt werden muss: Erstrebt nicht die Philosophie Unmögliches oder gar Unsinniges?

C. Ihr Gegenstand unterscheidet Philosophie und Wissenschaften

Jede Einzelwissenschaft verliert konstitutiv das Ganze des Seins aus dem Auge

Die Philosophie will das „Ganze des Seins“ in den Blick nehmen, und insofern kann man sagen, was auch immer man zu einem Erkenntnisgegenstand machen kann, dieser wurde ursprünglich schon philosophisch behandelt (sofern er schon bekannt war). Dann aber haben sich nach und nach die Einzelwissenschaften etabliert, die sich dadurch auszeichnen, dass sie sich auf einen einzelnen Gegenstand beschränkten und diesen für sich, also eingehender und konkreter betrachteten, anders als die Philosophie, die ihn stets im Bezug zum Ganzen im Blick behalten will.

Die Einzelwissenschaft ist also dadurch konstituiert, dass sie vom Ganzen des Seins grundsätzlich einmal abstrahiert, um sich dem einzelnen Gegenstand besser widmen und ihn näher erforschen zu können. So ist der Gegenstand der Geographie die Erdoberfläche, wobei sie sich dann nochmals aufgliedern kann in physische und Kultur-Geographie. Verließe die Geographie ihren Gegenstand, indem sie zu einem anderen, vielleicht benachbarten wechselte, verlöre sie sich selbst. Sie wäre dann nicht mehr Geographie, sondern etwas anderes, z.B. Geologie oder Archäologie.

Wir ersehen daraus, dass eine Wissenschaft, die ihren Gegenstand wechselt, zu einer anderen Wissenschaft wird. D.h. ein Wechsel des Gegenstandes ist ihr gar nicht möglich, nicht vorgesehen. Die Philosophie hingegen kann Vieles vergegenständlichen, sofern sie nur ihre philosophische Betrachtungsweise beibehält. - Hier zeigt sich ein prinzipieller Unterschied zwischen beiden.

Die Philosophie kann sich niemals darauf beschränken, eine Wissenschaft zu sein

Nun kam Kant auf die Idee – in Bewunderung der Wissensfortschritte, die er an den einzelnen aufstrebenden Wissenschaften beobachten konnte -, die Philosophie selbst auch zu einer Wissenschaft zu machen, weil in ihr genau dieses fehlte und über die Jahrhunderte nicht erkennbar wurde: ein sicheres Fortschreiten in ihrem Wissen, wodurch wir heute z.B. genau eine Geographie haben, nicht mehrere miteinander konkurrierende Geographie-Entwürfe, was aber in der Philosophie gang und gäbe ist, vielleicht unvermeidlich?

Der Kant-Plan klingt ja prinzipiell gut, nur hätte dann die Frage geklärt werden müssen, auf welchen der vielen Gegenstände sich die Philosophie als ihren spezifischen Gegenstand festlegen solle? Prinzipiell gehören zu ihr ja alle Gegenstände, die man zusammenfassend dann „das Ganze des Seins“ nennen kann.

Die Wissenschaften können sich ihre Gegenstände frei wählen

Und so, wie wir bereits hinsichtlich des „Wissens“ feststellten, dass die Philosophie nicht ins Schema der Wissenschaften passt, können wir dies nun auch hinsichtlich des „Gegenstandes“ sagen.

Bei den einzelnen Wissenschaften ist es so, dass Forscher sich irgendwann einen bestimmten Gegenstand frei wählten, den sie näher erforschen wollten, und so wurde ein Forscher z.B. zum Geographen, der sich die Untersuchung der Erdoberfläche vornahm, wodurch die Geographie entstand. Analog alle anderen Einzelwissenschaften. Welchen Gegenstand soll sich nun die Philosophie zum Gegenstand wählen, um – gemäß Kant – künftig auch Wissenschaft werden und sein zu können?

Die Kant-Frage scheint von vornherein falsch gestellt zu sein, wenn uns nun – sozusagen als weiteres Unterscheidungsmoment zwischen Philosophie und Wissenschaften – auffällt, dass sich die Philosophie gar nicht in der Wahl- und Auswahlsituation des Einzelforschers oder Wissenschaftlers befindet! Jeder Wissenschaftler kann sich seinen Gegenstand frei wählen und sich dadurch der einen oder andern Wissenschaft zuwenden, beispielsweise Einstein der Physik, der sie durch sein Genie dann revolutionierte.

Philosophie ist der existenzielle Gegen-Stand des Menschen zum Ganzen des Seins

Wenn aber ein nach Erkenntnis Dürstender sich vornimmt, sich nicht irgendeiner Einzelwissenschaft zuzuwenden, sondern der Philosophie, dann hat er tatsächlich keine Gegenstandswahl – warum nicht? Weil die Philosophie – im Gegensatz zu jeder Einzelwissenschaft – sich ihren Gegenstand gar nicht frei wählen kann, und zwar deshalb nicht, weil er ihr durch die menschliche Existenz vorgegeben ist, die allem Erkenntnisstreben (und daher auch allen Wissenschaften) vorausliegt!

Und wir können dieses Vorgegeben sein in einer Art Definition fassen: Weil der (verstehen wollende) Mensch sich in einem (grundsätzlich nichtverstehenden) existenziellen Gegen-Stand zum Ganzen des Seins befindet, strebt er nach Erkenntnis bzw. nach einem Verstehen des Ganzen des Seins.

Das Gegen-Stand-Sein der Welt hängt zusammen mit des Menschen animal-rationale-Sein. Nur im Aufwerfen von Fragen, im Akt des Verstehen-Wollens werden die Dinge der Welt auch zu Gegenständen des nach Erkenntnis strebenden Menschen und damit unserer Wissenschaften. Anders formuliert: Jeder muss Mensch sein, aber nicht jeder muss auch Wissenschaftler sein. Man kann auch ohne tieferes Wissen Mensch sein; wobei man dann einen Bildungs-Streit anzetteln könnte, ob man denn ohne tieferes Wissen wahrer Mensch sein könne usw., womit man in medias res der Philosophie geraten würde…

Missachtung der Philosophie ist Missachtung der menschlichen Existenzsituation

Und damit wird auch leicht erkennbar, warum die Philosophie vielfach überhaupt nichts ist, nämlich für jeden solchen Menschen nichts, der sich für dieses Gegen-Stand-Sein der menschlichen Existenz (bzw. seiner) nicht interessiert und es daher auch nicht thematisiert. Und nicht nur der – sagen wir – Common Sense kann die Philosophie für wertlos halten, sondern auch unsere vielen Wissenschaften oder auch der Wissenschaftsverbund insgesamt, indem er hier etwas Unbestimmtes zu erkennen glaubt (anders als seine konkreten und als erkennbar offen sichtlichen Gegenstände), das schlicht nicht und niemals näher erforscht werden kann. Und Kant selbst leistete diesem „Abwürgen der Philosophie“ Vorschub durch die von ihm behaupteten „Erkenntnisgrenzen“, die angeblich zur menschlichen Natur gehören sollen, was ich - sokratisch-nichtwissend - lieber einmal nicht als gesicherte Erkenntnis annehmen will und daher nicht teile, sondern lieber für ein weitergehendes Erkennen offen bleibe.

Und mit dieser „Definition“ sehen wir auch unmittelbar, weshalb das Wissen unserer Wissenschaften unzureichend sein muss. Denn die Einzelwissenschaften befassen sich nicht mit diesem authentisch-ursprünglichen Gegen-Stand des Menschen zum Ganzen des Seins, sondern sie picken sich aus dem reichen, umfassenden Nichtverstehen des Menschen irgendwelche innerweltlich begegnenden Gegenstände heraus, um diesbezüglich das Nichtverstehen bzw. Nichtwissen zu beseitigen oder zumindest zu reduzieren. Insofern ist unsere gesamte Wissenschaft ein Flickenteppich, möglicherweise relativ dicht, aber nicht lückenlos. Denn jetzt sollte uns auffallen, dass unsere Wissenschaften tatsächlich eine gravierende Erkenntnis-Lücke gelassen haben, denn es gibt keine „Existenz-Wissenschaft“. Und es gibt sie wohl deshalb nicht, weil dieser „Gegenstand“ nicht richtig greifbar ist, aber kein Wunder, denn genau dies ist und bleibt der eigentliche und spezifische Gegenstand der Philosophie: die menschliche Existenz in ihrem Gegen-Stand zum Ganzen des Seins, der unabhängig davon besteht und bestehen bleibt, ob der Mensch daran geht, einzelne oder viele Dinge zu einem Gegenstand seiner Forschung zu erheben oder nicht.

Dieser „Gegen-Stand“ des Menschen in seiner Existenz, den die Philosophie nun zu ihrem eigentlichen Gegenstand erklären kann, ist kein griffiger, innerweltlich begegnender, erfolgversprechender Gegenstand, welchem sich der Mensch mit seiner Ratio, mit seinem (souveränen) Erkenntnisvermögen zuwenden könnte, und so haben wir nun innerhalb unseres Wissenschaftsverbandes eine „Forschungsnische“ gefunden, mit welcher unsere Wissenschaften gar nichts anfangen können und welche trotzdem unweigerlich und zwingend zum Leben des Menschen gehört. Hier darf sich die Philosophie versuchen und tummeln.

Der Gegen-Stand der Philosophie ist ursprünglicher als alle Gegenstände aller Wissenschaften

Und so will ich diesen ersten Abschnitt dieser Website folgendermaßen abschließen: Wenn noch keine Wissenschaft entstanden ist oder sich als Wissenschaft konstituiert hat, weil noch nichts zum Gegenstand erklärt wurde, existiert doch schon ein „Etwas“, dem sich die menschliche Ratio oder das menschliche Erkenntnisvermögen sinnvollerweise zuwenden kann, nämlich: dieses Erkenntnisstreben selbst, bevor es sich konkreten Gegenständen zuwendet, weil es zuvor schon ähnlich vorhanden ist wie die Lunge, die dann freilich unweigerlich zum Luftholen übergeht, ohne welches der Mensch nicht sein könnte.

Das menschliche Erkenntnisstreben verhält sich zum Erkenntnisakt wie die Lunge zum Luftholen, und der Unterschied besteht nur darin, dass das Luftholen zum physischen Überleben zwingend erforderlich ist, nicht anders als die physische Nahrungsaufnahme auch, während das Erkennen – als geistige Nahrungsaufnahme - nicht in derselben Weise zum Überleben zwingend erforderlich ist. Und daher ist auch nicht erkennbar, ob das, was das menschliche Erkenntnisstreben als Erkenntnis "einatmet", existenziell von Bedeutung ist oder nicht, also: ob die Erkenntnisse fundamental wichtig oder entbehrlich oder sogar redundant sind.

Und wieder kann man die Bildungsfrage aufwerfen: In welchem Ausmaß braucht der Mensch die geistige Nahrungsaufnahme, um seinem Wesen als animal rationale gerecht zu werden? Was passiert mit ihm, wenn er sich diesem seinem Wesen verweigert und also ein anderes Leben führt als jenes, die Welt mit seinem Vernunftvermögen verstehend zu durchdringen, das womöglich in der Tiefe seines Wesens und Seins für ihn bereits angelegt ist? Es könnte ja auch völlig egal sein, ob der Mensch das Sein und Universum von Grund auf versteht oder nicht versteht, weil es bezüglich seines (materialistischen) Wesens überhaupt keine Rolle spielt?

Anders formuliert: Der Mensch hat als animal rationale die Möglichkeit, Interesse am Sein (im allumfassenden Sinn verstanden) zu entwickeln. Tut er dies, so betreibt er Philosophie (und Wissenschaft). Er kann seine Rationalität aber auch anders benutzen, indem er die Grund-Frage des Seins nicht stellt, sondern verstreichen lässt. Dann mag er Interessen im Sein entwickeln, die womöglich am Sein selbst (was immer das sei) vorbeilaufen. Sein Seinsvollzug bleibt dann sozusagen selbstgemacht und selbst erdacht, das Sein selbst überlagernd, ohne Rücksicht darauf, ob es einen Seinsvollzug des Menschen geben könnte, der im universalen Seinsvollzug grundgelegt wäre, mit ihm in Wesen und Seinsausrichtung übereinstimmte und genau darin seinen eigentlichen, wahren Sinn entfalten könne. Und dann mag es ihm genügen, Anwendungswissen ausfindig zu machen, um seinem selbst erdachten, das Sein selbst ignorierenden Sinn und Zweck bestmöglich nachgehen zu können.

Diesen „Gegen-Stand“ überspringen unsere Wissenschaften, auch die „Wissenschaftstheorie“, weil auch ihr Gegenstand erst „existiert“, sobald Wissenschaften entstanden und vorhanden sind. Sie betrachtet die „Früchte“ (Wissenschaften), während sie die „Wurzel“ (Erkenntnisstreben) unbeachtet lässt, analog zur Philosophie, die unsere Wissenschaften heute meinen, links liegenlassen zu können, indem die für unser Leben wichtige und wertvolle Erkenntnis von ihnen - den Wissenschaften - komme, nicht jedoch von der Philosophie, die ein – nun ja – redundantes, vielleicht musisch-spielerisches und zuletzt womöglich unseriöses Erkennen betreibt?

Wenn noch keine Wissenschaft ist, ist schon Philosophie

Wir bewegen uns nun streng genommen auf einen „Gegenstand“ zu, bei welchem unsere gesamten Wissenschaften gar nicht mitreden können, weil das Erkenntnisstreben noch nichts (Konkretes) zum "Gegenstand" erklärt hat und folglich unsere Wissenschaften noch gar kein Dasein haben. Alternativ könnte man sagen: Der erste unter allen Gegenständen muss das Erkenntnisstreben selbst sein, und zwar in der konkreten Form seiner stündlich dargelebten existenziellen Gestalt, in welcher sie der Gegenstand der Philosophie genannt werden könnte.

Damit haben wir das philosophie- und wissenschaftsgeschichtlich gewordene Verhältnis zwischen der Philosophie und den Wissenschaften systematisch nachvollzogen und eingeholt.

Und nun wollen wir zusehen, ob dieses bloße "Streben nach Erkenntnis" in sich selbst ein Nichts ist (oder Noch-Nichts), wie es zunächst den Anschein hat, oder ob es doch schon Bestimmungen in sich enthält, wodurch unsere Wissenschaften in einer ihnen unbewusst bleibenden Vor-Ausrichtung ihrer selbst "existierten"?

Die Existenzkrise der Philosophie und die Existenzkrise des Menschen in der Moderne

Und damit erweist sich der Titel dieses Menüpunkts als doppeldeutig: Die Philosophie in der Existenzkrise. Die Philosophie ist durch das breite, detaillierte Wissen unserer Wissenschaften heute in eine bzw. ihre eigene Existenzkrise geraten, indem sie im Wissenschaftsverband keinen rechten Platz mehr zu haben scheint, indem durch Kants Verwissenschaftlichungsversuch überdeutlich wurde, dass die Philosophie ihr Anfangsproblem, ihr Wissen zu artikulieren, nicht meistern konnte: Sie steht auch nachkantisch unverbindlich da, wie schon zu Sokrates' Zeiten.

Anders betrachtet ist es heute aber auch der Mensch, der sich in der Moderne (oder Postmoderne) in eine tiefe Existenzkrise hineinbewegt hat, trotz oder vielleicht auch wegen unserer Wissenschaften, die die Philosophie mehr oder weniger ersetzt und zum Verschwinden gebracht haben; oder genauer: Existenzkrise, in welche sich die Philosophie selbst hineinbegeben hat, indem sie seit Kant meint, selbst auch Wissenschaft sein zu sollen.

Und damit zeichnet sich die Vermutung ab, die Philosophie sei vielleicht nur genau deshalb in ihre Existenzkrise geraten, weil sie ihr eigenes Wesen verlassen und aufgehört hat, den Menschen in seinem Daseinsvollzug weiter zu bedenken, um diese menschliche Existenz noch tiefer und noch tiefer zu reflektieren. Und weil der Menschheit in der Moderne nun diese philosophische Vertiefung ihrer selbst fehlt, sind wir in jene allgemeinmenschliche Krise hineingeraten, in der wir uns heute  befinden. Und eine Lösungsmöglichkeit ist nicht in Sicht.

Wir können hieraus ersehen, dass die Philosophie selbst in eine Differenzierungs-Unsinnigkeit hineingeraten ist, indem sie die sog. Existenzphilosophie als eine bloße Untersparte oder Teildisziplin ihrer selbst betrachtet. Dagegen muss man einwenden: Die Philosophie ist konstitutiv Existenzphilosophie, eine andere gibt es nicht! Verlässt die Philosophie die Existenz als ihren eigentlichen Gegenstand, so ist sie das nicht mehr, was sie zu sein glaubt: Philosophie. Sondern sie mag dann "philosophische Wissenschaft" geworden sein, ein Hinterherhinken hinter den Wissenschaften, von den Wissenschaften selbst nicht recht ernst genommen, ein hölzernes Eisen, das seine eigene Unmöglichkeit und Unsinnigkeit nicht begreifen will.

Die Lösung der Krise der Philosophie könnte die Lösung der Krise der Menschheit sein...

Die Philosophie ist von sich selbst abgekommen, hat angefangen, ihren eigenen Sprösslingen oder Kindern - den Wissenschaften - hinterherzulaufen. Dadurch ist zweierlei passiert: Die Menschheit - in der Existenz stehend -  hat die "Reflexion ihrer selbst" verloren, und die Philosophie - den Wissenschaften nachlaufend - hat ihren ureigenen Gegenstand, die Existenz des Menschen, verloren und kam genau dadurch in die Krise ihrer selbst.

Also wäre doch der naheliegende Gedanke folgender: Wenn sich die Philosophie auf ihr eigenes Wesen (der Reflexion der menschlichen Existenz) zurückbesinnte, wodurch sich die Existenzkrise der Philosophie in Wohlgefallen auflösen könnte, so bestünde zumindest die Möglichkeit, dass dann auch die Menschheit aus ihrer neuzeitlich-modernen Existenzkrise wieder herauskommen kann?

Zugleich will ich einen Alternativ-Weg zur Lösung der angestammten Philosophie-Problematik versuchen: Die Philosophie hat von alters her enorme Probleme, ihr "Wissen" als solches zu versprachlichen, zu kommunizieren, zu beweisen. Und wir haben gesehen, dass diese Problematik darauf zurückzuführen ist, dass traditionell (und auch neuzeitlich-modern) nicht erkannt wurde, dass das menschliche Erkenntnisstreben tiefer gründet als sämtliche (Einzel-)Wissenschaften, so dass ein "philosophischer Rest" übrig bleibt, wenn man sämtliche Einzelwissenschaften mit ihren sämtlichen Einzelgegenständen aus unserem "Wissen" abziehen würde.

Und aus dieser philosophie- und wissenschaftsgeschichtlichen Sichtung der Philosophie-Problematik will ich nun versuchen, einen konstruktiven "Weg der Philosophie" aufzutun, so dass die "platonische Aporie" nicht das "letzte Wort" der Philosophie bleiben muss und sie vielmehr die Möglichkeit hat, ihren "längeren Atem" gegenüber allen Wissenschaften unter Beweis zu stellen, was letztlich zu einer Umkehrung der derzeitigen "Priorisierung im menschlichen Erkenntnisstreben" führen soll. Denn derzeit gilt (m.E.): Naturwissenschaften vor Geisteswissenschaften, und die Philosophie unter ferner liefen.

Ich will also zusehen, ob es nicht auch anders herum sein könnte: Philosophie vor Geisteswissenschaften, und die Naturwissenschaft unter ferner liefen...

Aus diesem Grund muss der "nächste Gegenstand" dieser Website das menschliche "Streben nach Erkenntnis" sein, um zuzusehen, ob sich nicht hier oder dadurch Erkenntnisse zeigen, die belegen, dass die Philosophie eine "Artikulationsmöglichkeit ihrer selbst" besitzt, die bislang schlicht und einfach nicht zur Sprache gebracht worden ist...