Leseprobe 2

                                                                   Kant und die Widerspenstigkeit der Philosophie

Wir wollen daher sachlich nachfragen: Hat sich der Gegenstand der Philosophie zwischenzeitlich erledigt, so dass ihre Fragestellung heute zu Recht mehr oder weniger aufgegeben ist? Beispielsweise könnte ihr Gegenstand heute erschöpfend auf mehrere oder viele Einzelwissenschaften verteilt sein, so dass ihr selbst kein „eigener“ mehr übriggeblieben ist, war sie doch ursprünglich alle Wissenschaftszweige selbst: Physik (= Naturlehre), Metaphysik, Theologie, Psychologie, Erkenntnistheorie, Staatslehre, Rechtslehre usw., bis diese Teilbereiche sich aus dem philosophischen Zusammenhalt herausgelöst, sich verselbständigt und professionalisiert haben. Und so sind der Philosophie mit den Einzelwissenschaften auch ihre Einzelgegenstände ausgegangen oder davongelaufen, und so ist sie in die Verlegenheit gekommen, plausibel zu machen, was sie denn selbst noch „Eigenes“ sei?

Oder sollte der Universalgegenstand der Philosophie vielleicht doch einfach nur aus dem Blickfeld geraten sein in dem unübersichtlich gewordenen Gewirr an Einzelwissenschaften, Einzelgegenständen und isoliertem Fachwissen, dem heute daher die Wissenszusammenführung zur „lebendigen Bildung“ fehlt, was die „rundende Philosophie“ – gleichsam als organisches Prinzip des menschlichen Erkennens und Wissens - früher ganz natürlicherweise noch leisten konnte?

In jedem Fall scheint das – nun selbst fragwürdig gewordene – „Wissen der Philosophie“ irgendwie auf der Stelle zu treten, ein Fortschritt in ihr ist nicht erkennbar. Kant hat diesen Mangel beklagt und als ein Defizit der Philosophie angesehen. Er fand sie sozusagen in einem Zustand des Wildwuchses vor. Sie führte ein freigeistiges Lotterleben, gemessen am Maßstab sorgsam-disziplinierter Schritt-für-Schritt-Wissenschaftlichkeit, und sie stellte sich hierbei nicht einmal die Fundamentalfrage, ob sie ihrem Universalgegenstand denn überhaupt gewachsen sei? Parallel stellte Kant neuzeitlich-bewundernd fest, wie doch die eine oder andere Einzelwissenschaft schöne, klare, sichere Erkenntnisfortschritte erzielt habe. Und daraus entwickelte er das Konzept, die Philosophie müsse endlich auch in die Form einer Wissenschaft gebracht werden, dann werde sich schon zeigen, inwiefern auch in ihr gesicherter Wissensfortschritt möglich sei. Der Plan klingt gut, frisch, neu, die Fragestellung ist geradezu genial zu nennen, echt philosophisch, und auch echt wissenschaftlich, so dass man sagen möchte: „Mensch, warum ist denn niemand schon früher auf diese wichtige Frage gekommen?“

Die Philosophie möchte jetzt also – inmitten der Epoche der Aufklärung - sich selbst erkenntnistheoretisch reflektieren, und es steigt die Hoffnung, ihre konkrete Selbsterkenntnis und Wesenserfassung stünde unmittelbar bevor. So schien es auf den ersten Blick zu sein, und dann kam der längere, langsamere, mühselige zweite Blick, mit welchem die „Kritik der reinen Vernunft“ über zehn Jahre hinweg ausgearbeitet wurde, und siehe da: Die Hoffnung wurde enttäuscht, es kam etwas ganz Anderes dabei heraus. Denn wir wissen, dass Kant zu einem Negativergebnis gekommen ist: Die Philosophie kann das nicht, was sie versucht, und was sie nun einmal prinzipiell nicht kann, soll sie auch nicht mehr länger versuchen. So beschnitt er ihr ihre metaphysische Freigeistigkeit oder universale Disziplinlosigkeit, und wie mir scheint, folgen wir ihm bis heute in dieser seiner „Grenzziehung“. Die Philosophie wurde also geschoren, entthront, wie dazumal das germanische Königtum, gekennzeichnet durch lockige, lange Haarpracht des Merowingers, von dem Aufklärungs-Hausmeiern Kant, der ihr mit kühlem Sachverstand, aus einem faktisch vollzogenen Wissenschafts-Recht heraus einfach das Wissens-Zepter aus der Hand nahm!?

Und wir wollen nachfragen: Ist Kant sein ehrenwert-kritisches Vorhaben denn gelungen? Die unmittelbaren Nachfolger Kants haben gegen seine Verfahrensweise jedenfalls nicht protestiert, haben sich als „Philosophen“ durch „die Wissenschaft“ nicht einschüchtern noch beschränken lassen, im Gegenteil, sie haben Kant kurzerhand in ihr eigenes Denken „dialektisch adaptiert“, und – man möchte es nicht glauben: Im Deutschen Idealismus erblühte das spekulativ-metaphysische Gedankenspiel – jetzt selbst „Wissenschaft“ genannt - prachtvoller denn je!? Dann kam der Niedergang, der geistige Höhenflug wurde zum geistesgeschichtlichen Absturz und schlug um in einen Materialismus, der nicht nur radikal, sondern – das sehen wir heute – auch gesellschaftlich nachhaltig war.

Die idealistische, „klassische“ Philosophie hatte sich eine „Wissenschaftskunst“ einfallen lassen, bei welcher man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, sie müsse Kant irgendwie missverstanden haben, indem jene von ihm beanstandete Freigeistigkeit und Disziplinlosigkeit mit selbstbewusster Gedankenakrobatik unvermindert fortgeführt wurde, nur jetzt – wie dreist - unter dem Deckmantel der Wissenschaft!? Alles in allem scheint der Deutsche Idealismus trotzdem das letzte Sich aufbäumen einer „Philosophie des Geistes“ gewesen zu sein, gegen eine in ihren Startlöchern stehende „Wissenschaft der Materie“. Und wenn auch philosophische Erneuerungswellen nachkamen: Die Philosophie ist heute zur Wissens-Bedeutungslosigkeit verebbt, indem die nachkantische Philosophie die Kant’sche stille Ahnung letztlich doch bestätigte, wenngleich ungewollt: Philosophie (insbesondere Metaphysik als ihr Kernstück) und Wissenschaft vertragen sich nicht, sind inkompatibel. Hier waren dann auch Äußerungen wie diejenige Heideggers, die Wissenschaft "denke nicht", der Philosophie gar nicht hilfreich, weil sie selbst noch Öl ins Feuer der Wissenschaften gossen, das die Philosophie letztendlich verzehrte.

entnommen: 3. ABC-Versuch einer neuen Wahrnehmung des alten Seins, aus der angenommenen Misere-Situation unserer Gegenwart der Moderne heraus, dort unter A 1 a.

A. EINLEITUNG

   1. Braucht die Philosophie auch eine Wissenschaftsform oder sollten vielmehr unsere Wissenschaften sich zur Philosophie reformieren?

      a) Die Wissenschaften haben die Philosophie überholt
      b) Das unüberholbare existenzielle Wesen der Philosophie
      c) Die Philosophie überholt die in ihrem Fachwissen unbeweglichen Wissenschaften wieder