Kant und die Widerspenstigkeit der Philosophie
Wir wollen daher sachlich nachfragen: Hat sich der Gegenstand
der Philosophie zwischenzeitlich erledigt, so dass ihre
Fragestellung heute zu Recht mehr oder weniger aufgegeben ist?
Beispielsweise könnte ihr Gegenstand heute erschöpfend auf
mehrere oder viele Einzelwissenschaften verteilt sein, so dass
ihr selbst kein „eigener“ mehr übriggeblieben ist, war sie doch
ursprünglich alle Wissenschaftszweige selbst: Physik (=
Naturlehre), Metaphysik, Theologie, Psychologie,
Erkenntnistheorie, Staatslehre, Rechtslehre usw., bis diese
Teilbereiche sich aus dem philosophischen Zusammenhalt
herausgelöst, sich verselbständigt und professionalisiert
haben. Und so sind der Philosophie mit den Einzelwissenschaften
auch ihre Einzelgegenstände ausgegangen oder davongelaufen, und
so ist sie in die Verlegenheit gekommen, plausibel zu machen,
was sie denn selbst noch „Eigenes“ sei?
Oder sollte der Universalgegenstand der Philosophie vielleicht
doch einfach nur aus dem Blickfeld geraten sein in dem
unübersichtlich gewordenen Gewirr an Einzelwissenschaften,
Einzelgegenständen und isoliertem Fachwissen, dem heute daher
die Wissenszusammenführung zur „lebendigen Bildung“ fehlt, was
die „rundende Philosophie“ – gleichsam als organisches Prinzip
des menschlichen Erkennens und Wissens - früher ganz
natürlicherweise noch leisten konnte?
In jedem Fall scheint das – nun selbst fragwürdig gewordene –
„Wissen der Philosophie“ irgendwie auf der Stelle zu treten,
ein Fortschritt in ihr ist nicht erkennbar. Kant hat diesen
Mangel beklagt und als ein Defizit der Philosophie angesehen.
Er fand sie sozusagen in einem Zustand des Wildwuchses vor. Sie
führte ein freigeistiges Lotterleben, gemessen am Maßstab
sorgsam-disziplinierter
Schritt-für-Schritt-Wissenschaftlichkeit, und sie stellte sich
hierbei nicht einmal die Fundamentalfrage, ob sie ihrem
Universalgegenstand denn überhaupt gewachsen sei? Parallel
stellte Kant neuzeitlich-bewundernd fest, wie doch die eine
oder andere Einzelwissenschaft schöne, klare, sichere
Erkenntnisfortschritte erzielt habe. Und daraus entwickelte er
das Konzept, die Philosophie müsse endlich auch in die Form
einer Wissenschaft gebracht werden, dann werde sich schon
zeigen, inwiefern auch in ihr gesicherter Wissensfortschritt
möglich sei. Der Plan klingt gut, frisch, neu, die
Fragestellung ist geradezu genial zu nennen, echt
philosophisch, und auch echt wissenschaftlich, so dass man
sagen möchte: „Mensch, warum ist denn niemand schon früher auf
diese wichtige Frage gekommen?“
Die Philosophie möchte jetzt also – inmitten der Epoche der
Aufklärung - sich selbst erkenntnistheoretisch reflektieren,
und es steigt die Hoffnung, ihre konkrete Selbsterkenntnis und
Wesenserfassung stünde unmittelbar bevor. So schien es auf den
ersten Blick zu sein, und dann kam der längere, langsamere,
mühselige zweite Blick, mit welchem die „Kritik der reinen
Vernunft“ über zehn Jahre hinweg ausgearbeitet wurde, und siehe
da: Die Hoffnung wurde enttäuscht, es kam etwas ganz Anderes
dabei heraus. Denn wir wissen,
dass Kant zu einem Negativergebnis gekommen ist: Die
Philosophie kann das nicht, was sie versucht, und was sie nun
einmal prinzipiell nicht kann, soll sie auch nicht mehr länger
versuchen. So beschnitt er ihr ihre metaphysische
Freigeistigkeit oder universale Disziplinlosigkeit, und wie mir
scheint, folgen wir ihm bis heute in dieser seiner
„Grenzziehung“. Die Philosophie wurde also geschoren,
entthront, wie dazumal das germanische Königtum, gekennzeichnet
durch lockige, lange Haarpracht des Merowingers, von dem
Aufklärungs-Hausmeiern Kant, der ihr mit kühlem Sachverstand,
aus einem faktisch vollzogenen Wissenschafts-Recht heraus
einfach das Wissens-Zepter aus der Hand nahm!?
Und wir wollen nachfragen: Ist
Kant sein ehrenwert-kritisches Vorhaben denn gelungen? Die
unmittelbaren Nachfolger Kants haben gegen seine
Verfahrensweise jedenfalls nicht protestiert, haben sich als
„Philosophen“ durch „die Wissenschaft“ nicht einschüchtern noch
beschränken lassen, im Gegenteil, sie haben Kant kurzerhand in
ihr eigenes Denken „dialektisch adaptiert“, und – man möchte es
nicht glauben: Im Deutschen Idealismus erblühte das
spekulativ-metaphysische Gedankenspiel – jetzt selbst
„Wissenschaft“ genannt - prachtvoller denn je!? Dann kam
der Niedergang, der geistige Höhenflug wurde zum
geistesgeschichtlichen Absturz und schlug um in einen
Materialismus, der nicht nur radikal, sondern – das sehen wir
heute – auch gesellschaftlich nachhaltig war.
Die idealistische, „klassische“
Philosophie hatte sich eine „Wissenschaftskunst“ einfallen
lassen, bei welcher man sich des Eindrucks nicht erwehren kann,
sie müsse Kant irgendwie missverstanden haben, indem jene von
ihm beanstandete Freigeistigkeit und Disziplinlosigkeit mit
selbstbewusster Gedankenakrobatik unvermindert fortgeführt
wurde, nur jetzt – wie dreist - unter dem Deckmantel der
Wissenschaft!? Alles in allem scheint der Deutsche
Idealismus trotzdem das letzte Sich aufbäumen einer
„Philosophie des Geistes“ gewesen zu sein, gegen eine in ihren
Startlöchern stehende „Wissenschaft der Materie“. Und wenn auch
philosophische Erneuerungswellen nachkamen: Die Philosophie ist
heute zur Wissens-Bedeutungslosigkeit verebbt, indem die
nachkantische Philosophie die Kant’sche stille Ahnung letztlich
doch bestätigte, wenngleich ungewollt: Philosophie
(insbesondere Metaphysik als ihr Kernstück) und Wissenschaft
vertragen sich nicht, sind inkompatibel. Hier waren dann auch
Äußerungen wie diejenige Heideggers, die Wissenschaft "denke
nicht", der Philosophie gar nicht hilfreich, weil sie selbst
noch Öl ins Feuer der Wissenschaften gossen, das die
Philosophie letztendlich verzehrte.
entnommen: 3. ABC-Versuch
einer neuen Wahrnehmung des alten Seins, aus der angenommenen
Misere-Situation unserer Gegenwart der Moderne heraus, dort
unter A 1 a.
A. EINLEITUNG
1. Braucht die Philosophie auch eine
Wissenschaftsform oder sollten vielmehr unsere Wissenschaften
sich zur Philosophie reformieren?
a) Die Wissenschaften haben die Philosophie
überholt
b) Das unüberholbare
existenzielle Wesen der Philosophie
c) Die Philosophie überholt
die in ihrem Fachwissen unbeweglichen Wissenschaften
wieder