Wir stehen auf einem doppelten Boden
Im Mittelpunkt dieses Textes soll unser modernes
existenzielles Selbstverständnis stehen, mit welchem wir
in der Welt und Gegenwart orientiert sind. Jedes
Selbstverständnis impliziert auch Fremdverständnis, d.h. das
Verständnis des Anderen als solchen, in Abgrenzung zum
Verständnis des Eigenen resp. zum Selbstverständnis. Den Anfang
haben wir damit gemacht, ein Selbstverständnis der Wissenschaft
anzureißen und von ihm her ihr Fremdverständnis der Philosophie
zu bestimmen. Daneben stellten wir das Fremdverständnis der
Philosophie aus Sicht des Common Sense. Beiden
Außenwahrnehmungen der Philosophie wurde dann eine
Innenwahrnehmung oder ein Selbstverständnis der Philosophie -
aus Sicht des Autors - gegenübergestellt, und von hier aus soll
nun an das moderne Selbstverständnis philosophisch und
erkenntnistheoretisch herangetreten werden.
Es geht darum, in unseren eigenen „Wissensgrund“ zurückzugehen
und zu überprüfen, ob er denn tragfähig sei. Hierzu können wir
zunächst anmerken, dass unsere Wissenschaften (insbesondere die
Naturwissenschaften) ein sehr hohes Ansehen im allgemeinen
Zeitgeist des Menschen (Common Sense) haben, das gewissermaßen
in den Satz oder besser: in die Überzeugung zusammengefasst
werden kann: „Das Wissen unserer Wissenschaft ist mit an
Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sicheres Wissen“,
wobei die zwar theoretisch ausgesprochene „geringfügige
Sicherheits-Lücke“ in der Lebenspraxis asymptotisch gerundet
wird, und wir wissen jetzt aber, dass sich genau dort, in
dieser Minimaldifferenz, die Philosophie aufhält (und die
Wissenschaft selbst wohl auch), aber es hilft nichts:
Die (insbesondere Natur-)Wissenschaft ist zu einer Autorität
geworden, weil der Common Sense sie dazu autorisiert hat. Was
immer sie sagt – er glaubt es.
Unser Wissensgrund ist unser
geistiger Boden, auf dem wir stehen, und zwar mehr als
auf dem physischen Erdboden mit unseren physischen
Füßen. Denn auch die Menschen früherer Zeiten standen schon mit
ihren Füßen auf dem Erdboden, und doch hatten sie ein ganz
anderes Stehen im Sein, ein anderes Wissen, eine andere
Weltanschauung, ein anderes Selbstverständnis. Wir stehen also
in Wahrheit auf zwei Böden, einem physischen und einem
geistigen, und eigentlicher sogar auf dem Boden unseres
Geistes, der offensichtlich – im Gegensatz zum hinreichend
festen Erdboden - dieses Unangenehme an sich hat, dass er ein
in sich Bewegliches und Veränderliches ist, was seine
Tragfähigkeit zweifelhaft erscheinen lässt.
Nun sind wir aber der Meinung, dass wir hier und heute viel
besser dastehen als die Menschen früherer Zeiten. Wir haben
eine oder die Aufklärung durchlaufen, haben uns die Erde
angeeignet, haben ein altes, falsches, geozentrisches Weltbild
berichtigt, sind auf die sinnlichen Weiten des Kosmos gestoßen…
Stehen wir heute also nicht wesentlich sicherer und fester,
nein, sogar sicher und fest? Wir wollen versuchen, dies zu
überprüfen, wobei wir uns hüten müssen, auf eine allzu einfache
„Geschichtsdialektik“ zu bauen, die dazu neigt, ein „altes,
unaufgeklärtes Selbstverständnis“ einfach durch ein „neues,
aufgeklärtes Selbstverständnis“ zu ersetzen. Denn damit bliebe
auch unser heutiges Selbstverständnis als solches
wiederum unangetastet, lediglich das eine durch ein
anderes ausgetauscht, und wir müssten als Gemeinsamkeit
zwischen uns und unseren Vorfahren festsetzen: die Dogmatik
im Festhalten des eigenen Selbstverständnisses als eines
vermeintlich sicheren Bodens, und der Unterschied läge nur
darin, dass unser Dogmatikfehler größer oder
schlimmer wäre als derjenige unserer Vorfahren, weil wir
ihn ja immer noch begehen, obwohl wir ihnen eine Phase der
Aufklärung voraus haben.
Die Überzeugung liegt nahe, wir hätten heute ein größeres
Wahrheits-Behauptungs-Recht als unsere Vorfahren, denn von uns
wurden Erfahrungen gemacht und Erkenntnisse gesammelt, die wir
den Menschen früherer Zeiten zweifellos voraushaben. Haben wir
also nicht ein größeres Weltanschauungs-Recht der
Späteren? Mit einem solchen, einfachen Schluss könnten wir
die Früheren intellektuell leicht überwinden. Doch wenn wir
schon einen so umstrittenen Terminus wie „Dialektik“ benutzen
wollen (s.o. "allzu einfache Geschichtsdialektik"), so dürfen
wir dies nicht einseitig tun, als könne das „Recht der
Späteren“ nur von uns geltend gemacht werden,
gegenüber den Früheren, sondern wir werden auch auf die andere
Seite, diejenige unserer Zukunft sehen müssen, und dann dürfen
wir uns nicht wundern, wenn unsere Nachfahren dasselbe
Recht für sich in Anspruch nehmen werden, wobei
wir selbst dann aber unter „den Früheren“ subsumiert wären, so
dass dieses von uns geltend gemachte „Recht der Späteren“ eine
zweifelhafte oder unbrauchbare Argumentation ist. Wenn wir also
in unserem heutigen Selbstverständnis von unseren Nachfahren
nicht billig ausgehebelt werden wollen, so dürfen wir selbst
dies umgekehrt auch nicht mit unseren Vorfahren machen, indem
wir ihnen vielleicht eine Unbedarftheit, Unmündigkeit oder
Naivität in der Weltwahrnehmung andichten, die sie faktisch
niemals gehabt haben, etwa nach der Devise: „Früher glaubte man
noch an Götter oder an Gott und eine Geistwelt, heute aber sind
wir aufgeklärt. Früher lebte man im Irrtum, heute leben wir in
der Wahrheit.“
Aus diesem Grund muss die Philosophie ihrer Aufgabe treu
bleiben, sich grundsätzlich einmal im Zweifelhaften, d.h. im
Offenen und Unentschiedenen zu halten, anstatt sich schnell und
leicht in einem Urteil zu verschließen. Denn so, wie man sich
beim Reden versprechen oder sich auf einem Wege
verirren kann, kann man sich auch in einem Urteil
verschließen. Und wo uns dies passiert, sind wir in
unseren Urteilen nicht dort, wo wir zu sein meinen: in der
Wahrheit, sondern wir sind in Irrtümern herausgekommen, wo wir
aber gar nicht zu sein meinen, und gerade deshalb sitzen wir
darin dann selbstverschuldet fest, durch unsere
eigenen falschen Schlüsse, die nun als „geheime
Urteile der menschlichen Vernunft“ in uns wirksam geworden sind
und bleiben.
entnommen: 3. ABC-Versuch
einer neuen Wahrnehmung des alten Seins, aus der angenommenen
Misere-Situation unserer Gegenwart der Moderne heraus, dort
unter A 2 a.
A. EINLEITUNG
2. Thema
und Methodik dieses Textes
a) Vergegenständlichung unseres modernen
Selbstverständnisses in der
Philosophie
b) Philosophische Umformung unseres Selbstverständnisses im
terminologischen Thema-Durchlauf