Leseprobe 3

                                                                       Wir stehen auf einem doppelten Boden

Im Mittelpunkt dieses Textes soll unser modernes existenzielles Selbstverständnis stehen, mit welchem wir in der Welt und Gegenwart orientiert sind. Jedes Selbstverständnis impliziert auch Fremdverständnis, d.h. das Verständnis des Anderen als solchen, in Abgrenzung zum Verständnis des Eigenen resp. zum Selbstverständnis. Den Anfang haben wir damit gemacht, ein Selbstverständnis der Wissenschaft anzureißen und von ihm her ihr Fremdverständnis der Philosophie zu bestimmen. Daneben stellten wir das Fremdverständnis der Philosophie aus Sicht des Common Sense. Beiden Außenwahrnehmungen der Philosophie wurde dann eine Innenwahrnehmung oder ein Selbstverständnis der Philosophie - aus Sicht des Autors - gegenübergestellt, und von hier aus soll nun an das moderne Selbstverständnis philosophisch und erkenntnistheoretisch herangetreten werden.

Es geht darum, in unseren eigenen „Wissensgrund“ zurückzugehen und zu überprüfen, ob er denn tragfähig sei. Hierzu können wir zunächst anmerken, dass unsere Wissenschaften (insbesondere die Naturwissenschaften) ein sehr hohes Ansehen im allgemeinen Zeitgeist des Menschen (Common Sense) haben, das gewissermaßen in den Satz oder besser: in die Überzeugung zusammengefasst werden kann: „Das Wissen unserer Wissenschaft ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sicheres Wissen“, wobei die zwar theoretisch ausgesprochene „geringfügige Sicherheits-Lücke“ in der Lebenspraxis asymptotisch gerundet wird, und wir wissen jetzt aber, dass sich genau dort, in dieser Minimaldifferenz, die Philosophie aufhält (und die Wissenschaft selbst wohl auch), aber es hilft nichts: Die (insbesondere Natur-)Wissenschaft ist zu einer Autorität geworden, weil der Common Sense sie dazu autorisiert hat. Was immer sie sagt – er glaubt es.

Unser Wissensgrund ist unser geistiger Boden, auf dem wir stehen, und zwar mehr als auf dem physischen Erdboden mit unseren physischen Füßen. Denn auch die Menschen früherer Zeiten standen schon mit ihren Füßen auf dem Erdboden, und doch hatten sie ein ganz anderes Stehen im Sein, ein anderes Wissen, eine andere Weltanschauung, ein anderes Selbstverständnis. Wir stehen also in Wahrheit auf zwei Böden, einem physischen und einem geistigen, und eigentlicher sogar auf dem Boden unseres Geistes, der offensichtlich – im Gegensatz zum hinreichend festen Erdboden - dieses Unangenehme an sich hat, dass er ein in sich Bewegliches und Veränderliches ist, was seine Tragfähigkeit zweifelhaft erscheinen lässt.

Nun sind wir aber der Meinung, dass wir hier und heute viel besser dastehen als die Menschen früherer Zeiten. Wir haben eine oder die Aufklärung durchlaufen, haben uns die Erde angeeignet, haben ein altes, falsches, geozentrisches Weltbild berichtigt, sind auf die sinnlichen Weiten des Kosmos gestoßen… Stehen wir heute also nicht wesentlich sicherer und fester, nein, sogar sicher und fest? Wir wollen versuchen, dies zu überprüfen, wobei wir uns hüten müssen, auf eine allzu einfache „Geschichtsdialektik“ zu bauen, die dazu neigt, ein „altes, unaufgeklärtes Selbstverständnis“ einfach durch ein „neues, aufgeklärtes Selbstverständnis“ zu ersetzen. Denn damit bliebe auch unser heutiges Selbstverständnis als solches wiederum unangetastet, lediglich das eine durch ein anderes ausgetauscht, und wir müssten als Gemeinsamkeit zwischen uns und unseren Vorfahren festsetzen: die Dogmatik im Festhalten des eigenen Selbstverständnisses als eines vermeintlich sicheren Bodens, und der Unterschied läge nur darin, dass unser Dogmatikfehler größer oder schlimmer wäre als derjenige unserer Vorfahren, weil wir ihn ja immer noch begehen, obwohl wir ihnen eine Phase der Aufklärung voraus haben.

Die Überzeugung liegt nahe, wir hätten heute ein größeres Wahrheits-Behauptungs-Recht als unsere Vorfahren, denn von uns wurden Erfahrungen gemacht und Erkenntnisse gesammelt, die wir den Menschen früherer Zeiten zweifellos voraushaben. Haben wir also nicht ein größeres Weltanschauungs-Recht der Späteren? Mit einem solchen, einfachen Schluss könnten wir die Früheren intellektuell leicht überwinden. Doch wenn wir schon einen so umstrittenen Terminus wie „Dialektik“ benutzen wollen (s.o. "allzu einfache Geschichtsdialektik"), so dürfen wir dies nicht einseitig tun, als könne das „Recht der Späteren“ nur von uns geltend gemacht werden, gegenüber den Früheren, sondern wir werden auch auf die andere Seite, diejenige unserer Zukunft sehen müssen, und dann dürfen wir uns nicht wundern, wenn unsere Nachfahren dasselbe Recht für sich in Anspruch nehmen werden, wobei wir selbst dann aber unter „den Früheren“ subsumiert wären, so dass dieses von uns geltend gemachte „Recht der Späteren“ eine zweifelhafte oder unbrauchbare Argumentation ist. Wenn wir also in unserem heutigen Selbstverständnis von unseren Nachfahren nicht billig ausgehebelt werden wollen, so dürfen wir selbst dies umgekehrt auch nicht mit unseren Vorfahren machen, indem wir ihnen vielleicht eine Unbedarftheit, Unmündigkeit oder Naivität in der Weltwahrnehmung andichten, die sie faktisch niemals gehabt haben, etwa nach der Devise: „Früher glaubte man noch an Götter oder an Gott und eine Geistwelt, heute aber sind wir aufgeklärt. Früher lebte man im Irrtum, heute leben wir in der Wahrheit.“

Aus diesem Grund muss die Philosophie ihrer Aufgabe treu bleiben, sich grundsätzlich einmal im Zweifelhaften, d.h. im Offenen und Unentschiedenen zu halten, anstatt sich schnell und leicht in einem Urteil zu verschließen. Denn so, wie man sich beim Reden versprechen oder sich auf einem Wege verirren kann, kann man sich auch in einem Urteil verschließen. Und wo uns dies passiert, sind wir in unseren Urteilen nicht dort, wo wir zu sein meinen: in der Wahrheit, sondern wir sind in Irrtümern herausgekommen, wo wir aber gar nicht zu sein meinen, und gerade deshalb sitzen wir darin dann selbstverschuldet fest, durch unsere eigenen falschen Schlüsse, die nun als „geheime Urteile der menschlichen Vernunft“ in uns wirksam geworden sind und bleiben.

entnommen: 3. ABC-Versuch einer neuen Wahrnehmung des alten Seins, aus der angenommenen Misere-Situation unserer Gegenwart der Moderne heraus, dort unter A 2 a.

A. EINLEITUNG

   2. Thema und Methodik dieses Textes

      a) Vergegenständlichung unseres modernen Selbstverständnisses in der Philosophie
      b) Philosophische Umformung unseres Selbstverständnisses im terminologischen Thema-Durchlauf