War der kranke Hölderlin höhergesund?
...und dann hätten wir kritisch nachfragen müssen: Wie verhält sich das konkret mit diesem „Wachsen des Rettenden" , wenn es nicht nur netter Dichterspruch ist, den man wegen seiner Berühmtheit gut und gerne mal zitiert, ohne mehr als ein paar oberflächlich zurechtgelegte Eigengedanken an seinen etwaigen Tiefsinn zu verschwenden?
Zunächst einmal können wir eine prosodische Entsprechung am Anfang und Schluss des Hymnus feststellen:
Rettungs-Hymnus-Anfang
wächst das Rettende auch
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Rettungs-Hymnus-Ende
Dem folgt deutscher Gesang
-_ v - v v -__
Hm, so ergeben sich aber Assoziationen, die so ganz und gar nicht zusammenpassen: „Rettung – Deutsche“ und „Rettung – Gesang“. Im Grunde liegt sogar eine Doppel-Dissonanz vor, so dass ich versucht wäre, hier von einer Zwölfton-Dichtung zu sprechen, würde ich mich hierbei nicht in der Geistes-Geschichts-Zeit verirren; allerdings spricht der Hymnus selbst, den wir als Hölderlins Glaubensbekenntnis betrachten können, ein grundsätzliches Vorhandensein von Disharmonie klar aus.
Dass "die Rettung" (der Welt) von "den Deutschen" kommen könne, ist heute ein Gedanke, mit dem wir irgendwie gar nichts mehr anfangen können oder wollen..., wir könnten auch sagen: bei dem uns - die Luft wegbleibt!, oder: der uns - die Sprache verschlägt! Er ist heute ein Nichtgedanke, so wie ja auch die erste Strophe des Deutschlandliedes quasi nichtexistent geworden ist, nicht versehentlich, sondern aus gutem, wichtigem Grund: Sie gehört nicht zu unserer Nationalhymne.
...
Und würden wir das Unaussprechliche in Worte fassen, gewissermaßen taktlos gegen uns selbst, müssten wir Deutschen sagen: Es gehört etwas zu uns, wovon wir besser nicht sprechen und was wir besser im Verborgenen lassen, auch wenn wir es selbstverständlich nicht verleugnen und nicht verfälschen dürfen. Ein Makel ist an uns, ein Zeichen, das vor aller Augen sichtbar ist, und wir bekommen es nicht mehr aus uns heraus, können es nicht mehr abschütteln - weil es nicht nur eine individuelle, sondern auch eine gesellschaftliche Haftung gibt und geben muss.
Doch wollen wir dieses "Unwohlsein unserer selbst" nicht weiter vertiefen, nicht "überbewerten", denn: unser rettendes Thema ist die Rettungsfrage Hölderlins, die nun einmal im Raume steht, und wir wollen sie besser nicht aus dem Auge verlieren, um stattdessen uns selbst in den Mittelpunkt zu rücken, nein, wir sind nicht das Thema, und wir wollen dabei bleiben, uns selbst fortan lieber peripher, von außen, nun ja, sachlich anzusehen, gemäß unserer grundsatzgefassten Absicht und Hoffnung, die "Egozentrik unserer ersten Strophe" ein für alle Mal hinter uns zu lassen...
Übrigens: Um die andere Assoziation "Rettung - Gesang" steht es auch nicht viel besser. Denn wenn die Menschheit heute eines nicht hat, so ist es dies: einen Grund und Anlass zum Singen! ...klar ist freilich, dass ein Volk, dem es die Sprache verschlagen hat und das zudem ein ...dubioses "Lied über sich selbst" in seinem Gepäck oder Fundus oder auch Packen-Päckchen hat, zum Singen nicht besonders gut geeignet zu sein scheint, so dass uns der Hölderlin-Terminus "deutscher Gesang" heute als eine contradictio in adiecto erscheinen muss, oder besser noch: als ein Begriff, der ohne jeglichen Bedeutungsinhalt ist – ein Flatus vocis, ein bloßer Worthauch, wie der gebildete Lateiner oder Scholastiker sagt.
…aber ich bemerke gerade: Ich drehe mich ja schon wieder um uns selbst! Wie ärgerlich!? Schluss damit! Ich will davon wegkommen! ...will nicht daran haften... ...will endlich loskommen... ...von uns... ...von mir selbst! ...?
entnommen: Prolog. Oder
Ouvertüre
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Prolog. Oder
Ouvertüre
0. Einleitung
1. Die Philosophie in der Existenzkrise
2. Das Streben nach Erkenntnis
3. ABC-Versuch (einer neuen Wahrnehmung des alten Seins, aus
der angenommenen Misere-Situation unserer Gegenwart der Moderne
heraus)