B. MODERNE
3. Warum überblicken wir unsere eigene Geschichte nicht?
a) Europäische Geschichtseinteilung und Raumeroberung des gemeinsamen Globus
Die Ausdifferenzierung einer „Postmoderne“ spare ich mir, als unerheblich. Die Wortschöpfung zeigt an, dass von unserer Gegenwart aus gesehen das Bedürfnis einer besonderen Berücksichtigung und immer feineren Unterscheidung der näherliegenden Zeit- und Kulturereignisse besteht.
Der Terminus „Neuzeit“ scheint also nicht mehr auszureichen, um das gewaltige Veränderungspotenzial nach dem Ausgang des Mittelalters darunter zu subsumieren. Deshalb wurde dem „neu“ ein unterscheidendes „modern“ angefügt, und weil uns die Synonyme bzw. Komparative des „Neuen“ allzu schnell ausgehen, hat man sich dann für ein weitergehendes „post-modern“ entschieden.
Diese Ausdifferenzierungen, denen streng genommen nun immer weitergehende Post-Terminologien folgen müssten, laufen asymptotisch auf die jeweilige Gegenwart als ihren Maßstab und ihr Zentrum zu, so dass durch diesen unseren historischen Ordnungsversuch eine Art reflexiver Geschichtsstau resultiert, dessen Epochen-Blöcke immer kürzer werden und hierbei immer mehr Differenzierungsmomente in sich enthalten, nicht, weil sie objektiv gesehen bedeutsamer sind, sondern, weil ihre Sichtbarkeit für uns subjektiv zunimmt, weil wir also „aufmerksamer“ geworden sind.
Diese neuzeitlich neue Art der Geschichtseinteilung (Antike – Mittelalter – Neuzeit – Moderne) kann in global gewordener Zeit gewiss als „eurozentrisch“ kritisiert werden, nur führt eine Relativierung oder gar Zurücknahme dieser Perspektivik nicht unbedingt zu einer objektiven Sichtung der Menschheitsgeschichte. Denn faktisch ist es der Europäer gewesen, der stellvertretend für die Gesamtmenschheit in Raum und Zeit hineingegangen oder herausgetreten ist. Der geschlossene, noch statische Raum der Geozentrik wurde nachmittelalterlich verlassen, und Europa hat hier die gesamte Menschheit gewissermaßen mitgenommen oder mit hineingezogen in „unsere Gegenwart“, die heute auf einer vereinheitlichten Zeitrechnung beruht, „christlich“ vielleicht aus pragmatischen Gründen, und der heute mehr oder weniger die gesamte Menschheit angehört, so dass eine gewisse globale Gleichzeitigkeit erreicht ist, die lokal-kulturelle Ungleichzeitigkeiten oder Alternativ-Zeitrechnungen tendenziell ersetzt.
Wir haben in diesem europäisch initiierten Geschichtsverlauf auch eine wesenhafte Wahrnehmungsveränderung der Menschenwelt zu konstatieren: Der Mensch tritt aus dem sinnlichen Anschein heraus (Wahrnehmung des Sonnenauf- und -untergangs am Erd[scheiben]horizont) und geht dazu über, seine eigene Leib- oder Sinnlichkeits-Perspektivik zu verlassen bzw. zu überwinden. Er lernt, alle Dinge von außen oder in sich selbst zu betrachten (Satellitenblick auf die ‚kugelrunde‘ Erde etc.). Mensch und Menschenwelt beginnen also, sich selbst gegenüberzutreten, und wir wollen uns die Frage aufheben, ob dieser reflexive Außenblick auf uns selbst und das Unsrige, der uns eine wahre Betrachtung der räumlichen Tiefe des Kosmos erst freigegeben hat, schon ans Ende gelangt sei, oder ob wir hier in einem noch unabgeschlossenen Werdeprozess des Uns-selbst-Gegenübertretens stehen, sei es geistig, sei es seelisch, sei es leiblich?
b) Halbheit unserer Geschichtserkenntnis und subjektive Gegenwarts-Monopolisierung
Prinzipiell gesehen ist dieser Geschichtsstau dadurch bedingt, dass wir ein Nichtwissen in Bezug auf uns selbst haben. Es fehlt uns eine übergreifende Idee (Perspektivik) des Menschen in seiner Geschichte. Deshalb verfügen wir bisher nur über eine einseitig-lineare Geschichtsschreibung (Vergangenheit -> Gegenwart -> Zukunft), in der unsere Wirklichkeit stückchenweise von einer „unbekannten Zukunft“ her zu einer „bekannten Vergangenheit“ und somit erst zur „Geschichte“ wird, so dass wir in der Darstellung die Pfeilrichtung eigentlich umkehren müssen: Vergangenheit (= Geschichte) <- Gegenwart <- Zukunft. Denn die „Gegenwart“ verschiebt sich auf diesem gedachten Zahlenstrahl immer weiter nach rechts, wodurch sie die „Zukunft“ in die „Vergangenheit“ hineinwandern lässt.
Hierbei legen wir das Durchschrittene nicht einfach als „real geworden“ ad acta, sondern halten es in der Erinnerung fest und speichern es schichten- oder epochenweise ab, so dass wir auch hier – echt europäisch - eine Art Entdeckungs- oder Kolonisationsvorgang vornehmen, der nur nicht räumlich, sondern zeitlich ist: Das Unbekannte oder Undifferenzierte (Zukunft) -> Gegenwart -> das Geschehene, Angeeignete, Spezifizierte und Geschichtete (Vergangenheit).
Und wir müssen uns hierbei in keinster Weise anstrengen, denn die Zukunft läuft immer über die Gegenwart in die Vergangenheit hinein, allerdings in unterschiedlicher Qualität, je nachdem, wie wir unsere eigene Einbildungs- und Erinnerungskraft hierbei aktivieren, worin sich unser Geschichtsvermögen oder unsere Fähigkeit zur Historie manifestiert und wodurch erst der „sachliche Vorgang des Geschehens und Zeit-Verstreichens“ zu „unserer Vergangenheit und Geschichte“ wird.
Hätten wir nun eine bzw. die Idee des Menschen, so überblickten wir seine Fähigkeiten und Möglichkeiten, sähen womöglich sogar ein Ziel, auf welches er sich in seiner Entwicklung und Geschichte zubewegen soll und zubewegt, je nachdem, ob es solche Ideen der Dinge nun gibt oder nicht gibt.
Und dann könnten wir eine doppelte oder zweifache Linienziehung der Geschichte ausführen, die dann so aussähe: Vergangenheit ->/<- Gegenwart ->/<- Zukunft. Die Vergangenheit bewegt sich über die Gegenwart in die Zukunft hinein – wir können dies den sog. Lauf der Dinge nennen -, er entspricht unserer üblichen Blickrichtung und natürlichen Zeitwahrnehmung. Aber zugleich bewegt sich die Zukunft über die Gegenwart in die Vergangenheit hinein – ein Vorgang, den wir nicht bemerken bzw. nicht realisieren können, weil die Unsichtbarkeit oder Nebelwand der Zukunft erst im Durchgang durch die Gegenwart zur sichtbar gewordenen Vergangenheit wird, so dass wir diesen Richtungsverlauf eigentlich nur so darstellen können: Vergangenheit <- Gegenwart (<- Zukunft). Wir kennen das Entwicklungsprinzip nicht, das von unserer Zukunft her durch uns hindurchläuft und dafür sorgt, dass wir uns aus unserer Vergangenheit herkommend in die Zukunft unseres Wesens hineinentwickeln.
Die drei Zeitdimensionen müssen aber zusammengesehen werden, wobei die Gegenwart als Schnittpunkt zweier, diametral verlaufender Zeitrichtungen erscheint, aber nicht nur einfach oder einmalig, sondern vielfach und mannigfaltig, so dass dieser Zeiten-Verbund etliche Male nebeneinander- oder hintereinandergestellt oder auch ineinander geschachtelt gehörte:
Von außen (mathematisch-zweidimensional) gesehen verschiebt sich die Gegenwart von links nach rechts, soll heißen, die Zukunft als solche scheint kleiner zu werden oder abzunehmen, die Vergangenheit als solche scheint größer zu werden oder zuzunehmen. Von innen gesehen (aus unserer existenziellen Wahrnehmung) wird die Gegenwart jeweils eine andere, zugleich werden aber auch Vergangenheit und Zukunft eine jeweils andere, so dass die obige, mathematische Außenansicht gar nicht zutrifft: Wir fügen nicht den bereits vorhandenen „Vergangenheits-Stücken“ weitere hinzu, sondern die Vergangenheit selbst wird neu und anders gesichtet, wird sozusagen „selbst“ eine andere, als Rückwirkung der sich verändernden Gegenwart; analog die Zukunft. Alle drei Zeitdimensionen verändern sich daher gleichzeitig und gleichursprünglich.
Als Besonderheit kommt noch hinzu, dass wir den Wandel der Gegenwart über die Zeiten hinweg wenig oder gar nicht bemerken, weil wir die Veränderungen innerhalb unserer Lebenszeit sogleich adaptieren und als „zu uns gehörig“ betrachten und dadurch gewissermaßen zu einer Konstante, zu einer Gleichzeitigkeit erheben. Und erst in der allmählichen Entfernung einer personzentrierten Lebenszeit (Zeitgenossen- und Zeitzeugenschaft) immer weiter in die Vergangenheit hinein verliert sich ihre Vertrautheit und Bekanntheit, wird fremder, inaktueller, irrealer.
Wir sind daher geneigt, unsere eigene Gegenwart sozusagen als den Mittelpunkt der Menschheitsgeschichte zu betrachten und vergessen hierbei, dass wir kein „Gegenwarts-Monopol“ besitzen, denn die Menschen früherer Zeiten standen auch schon in der Gegenwart, und die Menschen späterer Zeiten werden auch wieder in der Gegenwart stehen, auch wenn diese sich in sich selbst wandelt…
c) Gibt es „die Gegenwart“ schon immer?
Und wir wollen nochmals ausdrücklich fragen, ob wir mit unserer bisherigen Sichtung der Geschichte nicht einen schwerwiegenden Perspektiven- oder Dimensions-Fehler machen? Denn wir setzen momentan – gleichsam mathematisch – voraus, „Gegenwart“ sei eine Konstante, die man auf dem Zahlenstrahl der Geschichte beliebig hin und her verschieben könne, wie eine Lupe, mit welcher man einen einzelnen Zeitabschnitt näher betrachten will.
„Gegenwart“ ist aber kein Punkt, auf den wir hinzeigen könnten, wie auf eine Stelle x auf einem Zahlenstrahl. Sie ist auch kein Zeitpunkt, schon eher eine Zeitstelle, eine Stelle, an der jemand steht, so wie wir von „unserer Zeit“ sprechen und damit unser Hier-und-Jetzt-Sein meinen.
Wir müssen also zweierlei berücksichtigen: die Stelle in der Zeit und das dortige Stehen von Menschen. Wir werden uns das Stehen von Menschen zu unterschiedlichen Zeiten zuerst einmal genauer ansehen müssen, dann erst können wir entscheiden, ob „Gegenwart gleich Gegenwart“ sei, oder inwiefern „Gegenwart nicht gleich Gegenwart“ ist, oder ob gar „Gegenwart“, wie wir sie heute empfinden, womöglich nicht „schon immer“ war, sondern geschichtlich, geistesgeschichtlich erst irgendwann entstanden ist? Und wenn ja, warum?, wodurch?, wozu? Und was war vorher? Und gibt es vielleicht auch ein Nachher…?
Machen wir zunächst den Versuch, in das „alte Sein“ hineinzublicken, um vielleicht Aufschluss über unsere Frage nach der „Gegenwart“ zu erhalten. Und am besten suchen wir eine Zeitstelle innerhalb unserer Geistesgeschichte auf, an welcher sich uns der „alte Blick“ von sich aus auftut, das ist in der alten griechischen Philosophie, die uns wenigstens in Fragmenten erhalten geblieben ist.
ZWISCHENÜBERBLICK A-B
A. EINLEITUNG
1. Braucht die Philosophie auch eine Wissenschaftsform oder sollten vielmehr unsere Wissenschaften sich zur Philosophie reformieren?
a) Die Wissenschaften haben die Philosophie
überholt
b) Das unüberholbare existenzielle Wesen der
Philosophie
c) Die Philosophie überholt die in ihrem Fachwissen
unbeweglichen Wissenschaften wieder
2. Thema und Methodik dieses Textes
a) Vergegenständlichung unseres modernen
Selbstverständnisses in der Philosophie
b) Philosophische Umformung unseres Selbstverständnisses im
terminologischen Thema-Durchlauf
B. MODERNE
3. Warum überblicken wir unsere eigene Geschichte nicht?
a) Europäische Geschichtseinteilung und Raumeroberung des
gemeinsamen Globus
b) Halbheit unserer Geschichtserkenntnis und
subjektive Gegenwarts-Monopolisierung
c) Gibt es die „Gegenwart“ schon immer?