ABC-Versuch einer neuen Wahrnehmung des alten Seins, aus der angenommenen Misere-Situation unserer Gegenwart der Moderne heraus

C. ALTES SEIN

4. Sind wir in unsere eigene Geschichte geistesgeschichtlich erst eingetreten?

a) Die Philosophie entspringt als Verlustausgleich einer Defizitentwicklung

Das Sein ist der allumfassende, universale Gegenstand der Philosophie, seit ihren Anfängen, und aus dieser geistesgeschichtlichen Tradition resultierten gewisse Grundüberzeugungen, die lange Zeit des Menschen Wahrnehmung des Ganzen und sein Leben und Handeln in ihm bestimmten, weshalb vom „alten Sein“ gesprochen ist. Diese Grundüberzeugungen konnten sich aber nicht halten, wurden geschichtlich weggefegt, und übrig geblieben ist uns unsere heutige Misere-Situation, die den Verlust eines Sich-eingebettet-Wissens in eine kosmische, universale, ewige Ordnung hinnehmen musste, daher „altes Sein“ genannt.

Beginnen wir mit der Frage: Gab es das menschliche Streben nach Erkenntnis schon immer, oder ist dieses Bedürfnis womöglich erst geistesgeschichtlich entstanden? Bei näherem Hinsehen auf das Frühere scheint nämlich ein festes, evidentes Wissen das Erste und Ursprüngliche gewesen zu sein, und erst, als dieses anfängliche, „archaische Evidenz-Wissen“ bröckelig und brüchig wurde, konnten der Zweifel, das Fragen, die Philosophie überhaupt möglich werden.

Die Verhältnisse zwischen Oben (Himmel) und Unten (Erde) waren klar, und das gesellschaftliche Leben war unzweifelhaft geregelt, befand sich in einer festen Ordnung (griech. kosmos). Weisheit lag über allem und in allem, so war der Eindruck des Menschen, und so scheint die Weisheit (Sophia) der Liebe zur Weisheit (Philo-Sophia) vorangegangen zu sein.

Dies ist im Grunde überraschend, weil auf diese Weise eine bereits sehr früh einsetzende defizitäre Geistentwicklung sichtbar zu werden scheint: Besitzen (und Vollziehen) der Weisheit -> Streben nach Weisheit, also: Verlust der Weisheit? Uns ist in der Moderne das Gegenteilige geläufig: Wissenschaft (geistige Inbesitznahme) -> Wissen (geistiges Besitzen und Gebrauchen). Und sehen wir beide Entwicklungen zusammen, scheint sich eine Art Kreislauf zu ergeben: Weisheit -> Streben nach Weisheit (Philosophie) -> Streben nach Wissen (Wissenschaft) -> Wissen.

Wie unterscheiden sich aber archaische Weisheit und aufgeklärtes Wissen? Und wie und warum wurde aus der Philo-Sophie unsere Wissenschaft? Kann man sagen, Weisheit erfüllte noch den ganzen Menschen, während Wissen nur noch seinen Kopf betrifft, aber nicht mehr ihn selbst in seiner Existenz? Ist das „Wissen“ also ein Verlust gegenüber der früheren „Weisheit“? Oder ist auch eine Positiventwicklung erkennbar, ein Gewinn von der „Weisheit“ zum „Wissen“?

b) Sokrates ist die geistesgeschichtliche Schnittstelle zwischen Sophia und Philo-Sophia

Blicken wir in unsere europäische Epoche zurück, so können wir die Person und Existenz des Sokrates als einen geistesgeschichtlichen Wendepunkt ausmachen, und zwar so sehr, dass die Philosophen vor ihm unter den Terminus „Vorsokratiker“ subsumiert werden. Und was genau ist mit und in ihm anders geworden? Um dies erkennen zu können, müssten wir Sokrates zunächst einmal wieder streichen, denn die altgriechischen Naturphilosophen (der ersten Hälfte des letzten Jahrtausends vor Christus, Sokrates fällt in die zweite Hälfte) werden ja erst aus ihrer eigenen Zukunft heraus, von Sokrates her zu „Vor-Sokratikern“ erklärt, und wir wollen hier ja gerade historische Übertragungsfehler vermeiden, müssen daher auf „sie selbst“ hinblicken, als existierte noch gar kein Sokrates, den wir aber trotzdem als Hintergrundfolie im Auge behalten, damit das jeweils Andere als ein je Eigenes deutlicher zum Vorschein komme.

Die Anfänge unserer Philosophie und Wissenschaft können wir im alten Griechenland verorten, bei den Naturphilosophen im kleinasiatischen Raum, die eben auch Vorsokratiker genannt werden. Erst mit Sokrates beginnt die eigentliche Philo-Sophie, die sich in der bewussten Entwicklung eines Eigendenkens manifestiert, welches sich im diskursiven Gespräch formiert und auslebt. Es ist, als habe sich die Weisheit des Kosmos geschichtlich bereits ein Stückweit von der Menschenwelt zurückgezogen, und so muss sich der Mensch nun als zoon logon echon erkennen und betätigen, um diese entstandene Kluft wieder zu schließen: Sophia (Erfüllt sein von Weisheit) -> Philo-Sophia (Sich wieder erfüllen wollen mit Weisheit).

c) Inhalt der altgriechischen Naturbetrachtung: Das Erwachen des Europäers zum Mit-Sein

Im Mittelpunkt der vorsokratischen (oder auch vorphilosophischen) „Philosophien“, die zwar schon eine gewisse Vielfalt aufweisen, aber doch die Natur im Ganzen zum gemeinsamen Hauptgegenstand haben, steht das Erleben des eigenen Daseins. Es ist, als würde der (europäische) Mensch jetzt erst, im Verlaufe des letzten Jahrtausends vor Christus, zum Dasein erwachen. So wie das Kind mit einem Jahr zu sprechen beginnt, d.h. lernt, „sich zu äußern“, so fangen die altgriechischen Naturphilosophen an, „sich in Texten zu äußern“. Beide beginnen, ihr eigenes Sein in Worte zu fassen, beginnen, sich ihre Welt anzueignen bzw. sich ihrer zu vergewissern.

Repräsentativ ist der Lapidarsatz des Parmenides: „Sein ist“, der scheinbar das Selbstverständlichste (und daher Überflüssigste) der Welt formuliert, tatsächlich aber „die Wahrheit der menschlichen Existenz“ ausspricht, den wichtigen Moment des Staunens und der Verwunderung über das Dasein, der im Getriebe des Lebens und Alltags leider zumeist längst untergegangen und verschwunden ist. Diese Naturphilosophen erleben ihr menschliches Dasein als „Auch-Dasein“, als Mit-Sein mit dem vielen anderen, das auch da ist (die neuzeitliche Subjektbetonung, die sich selbst als Ich der Welt gegenüberstellt, hat hier noch keinen Platz). Und so ist es die vordringlichste Frage dieses erwachenden Denkens: „Woher ist dieses Viele, das jetzt da ist, gekommen?“ Erlebt und bedacht wird hier der „Moment der Gegenwärtigkeit“, so, als habe es einen solchen zuvor nie gegeben oder als sei er zumindest nicht beachtet worden.

Diese frühe „Philosophie“ ist noch gar keine Philo-Sophie, sie ist noch Sophia, und so wird auch einer dieser Vorsokratiker, Thales von Milet, noch zu den Sieben Weisen Griechenlands gerechnet, die in archaische Zeiten zurückverweisen wie in etwas Mythisches, Besonderes, aber als etwas bereits Vergangenes. Nennen wir diesen Philosophie-Anfang besser: „speculatio“, Betrachtung, oder noch besser: Bannen der Sophia ins Wort, Heraussetzen der im Seeleninneren noch lebendigen Sophia in eine „Äußerung“. Daher mag vieles davon von Anfang an die literarische Gestalt von Spruchweisheit, Weisheitssprüchen gehabt haben. Die Sophia wurde von oben aus der Götterwelt als Weisheitslehre empfangen, und bei Heraklit sehen wir diesen Zusammenhang im eigenen Bewusstsein aufscheinen, indem er sein von ihm zwar „herausgesetztes“, aber im Grunde doch nur „empfangenes“ Schriftwerk in den Tempel der Artemis als Opfergabe zurückträgt. Der Inhalt des Denkens ist noch nichts „Eigenes“, sondern ein Erhaltenes, dadurch aber auch ein Höherwertiges, das der Substanz des Kosmos selbst angehört, „Weisheit“, Sophia, die die Welt erfüllt. Freilich kann diese „All-Weisheit“ auch jetzt schon in die „Meinung“ (doxa) eines Einzelnen übergehen oder auslaufen, wie insbesondere an Heraklit sichtbar wird; es ist sein Spezifikum, z.B.:

"Recht täten die Ephesier, wenn sie sich alle Mann für Mann aufhängten und den Unmündigen ihre Stadt hinterließen, sie, die Hermodoros, ihren wackersten Mann, aus der Stadt gejagt haben mit den Worten: Von uns soll keiner der wackerste sein oder, wenn schon, dann anderswo und bei andern."

ἄξιον ’Epeσίοις ἡβηδὸν ἀπάγξασθαι πᾶσι καὶ τοῖς ἀνήβοις τὴν πόλιν καταλιπεῖν, οἵτινες Ἑρμόδωρον ἄνδρα ἑωυτῶν ὀνήιστον ἐξέβαλον φάντες᾽ ἡμέων μηδὲ εἷς ὀνήιστος ἔστω, εἰ δὲ μή, ἄλλη τε καὶ μετ᾽ ἄλλων.

Textnachweise: Hermann Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch, Bd. 1, zweite Auflage, Berlin 1906, DK 22 B 121, digitalisiert zugänglich über Internet Archive (externer Link: https://archive.org/), zur Verfügung gestellt von der Universität von Illinois Urbana-Champaign unter einer offenen Lizenz, Heraklit Fragment Nr. 121, S. 78f - externer Link: https://archive.org/details/diefragmentederv01diel/page/78/mode/2up, abgerufen am 12.06.2024.

d) Mit Sokrates zieht der Logos als (Nicht-)Wissen in den Menschen ein

Aber erst mit Sokrates sehen wir das Denken zum Eigenen des Subjekts werden, mühsam diskursiv erarbeitet, weshalb Platon Sokrates einmal sagen lässt, er folge jeweils demjenigen Logos (= in Sprache gefasste Erkenntnis), der sich ihm im Nachdenken oder Gespräch als der bessere erweise.

"Denn nicht jetzt nur, sondern schon immer habe ich ja das an mir, daß ich nichts anderem von mir gehorche, als dem Satze, der sich mir bei der Untersuchung als der beste zeigt."

Wohl zuerst hervorgehoben von Gottfried Martin: Sokrates, rororo bildmonographien Nr. 128, "Der Logos", S. 46ff, Rohwohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1967, 36.-39. Tausend März 1982.

Externer Link zum Text: Platon, Kriton (Textstelle 46, dritter Satz des Sokrates), Projekt Gutenberg-DE - https://www.projekt-gutenberg.org/platon/platowr1/kriton1.html, Übersetzung: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, abgerufen am 23.02.2024

Von Sokrates gibt es keine Texte, dies ist bemerkenswert und signifikant. Sokrates will nicht empfangene Sophia festhalten, abbilden, sondern sein Augenmerk gilt ganz dem Weg, auf welchem man zu dieser Sophia kommt, und dieser Weg (met-hodos = Weg zu etwas hin) ist die subjektiv verstehende und verarbeitende Denkbewegung. Sokrates ist auf der Suche, er sucht die (alte) Weisheit. Und da sie bereits ein Stück abgerückt und die Atmosphäre nicht mehr ganz und gar von ihr erfüllt ist, so muss er nun herumgehen unter seinen Mitmenschen und Zeitgenossen, um zu prüfen, ob er nicht einen finde, der diese Weisheit noch innehabe und sie ihm mitteilen könne.

Dieses Herumgehen, Suchen und Prüfen ist nun Ausdruck und Manifestation der Philo-Sophia. Man sieht, wie sich der Schwerpunkt des Denkens durch Sokrates ganz deutlich verlagert hat, weg vom mehr oder weniger passiven Empfangen (Einfließen der atmosphärischen Sophia in die eigene Seele), hin zum aktiven und selbstständigen Hervorbringen im eigenen Geist, und jetzt auch als eigenen Logos. Empfangen allein genügt also gar nicht mehr, sondern es kommt auf das Verstehen an, und im Verstehen wird das Empfangene zum selbst Hervorgebrachten, denn Erkennen ist ein Tun, ein menschliches Handeln, ein Aktiv-geworden-sein im eigenen Geist.

Und deshalb kann Sokrates gar nicht anders, als das, was ihm als Weisheit (oder Wissen) angetragen wird, prüfend abzuklopfen. Und wir wissen, dass das Resultat seiner philosophischen Gespräche zumeist ein Negatives war, indem er feststellen musste, er habe das gesuchte Positive, Substanzielle nicht finden können, nur Schein, Schaum, Seifenblasen. Dies ist „seine Lehre“: „Ich, weiß, dass ich nicht(s) weiß“, und deshalb befrage ich die Anderen, ob sie nicht vielleicht mehr wissen als ich. - Platon hat ihn dann in dieser suchenden Gesprächstätigkeit für die Nachwelt ins Bild gesetzt.

Dieser Text basiert auf dem Artikel "Ich weiß, dass ich nichts weiß" (externer Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Ich_wei%C3%9F,_dass_ich_nichts_wei%C3%9F) aus der freien Enzyklopädie "Wikipedia" (externer Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Hauptseite) und steht unter der Lizenz "Creative Commons CC-BY-SA 4.0" (externer Link: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/legalcode.de). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren des Artikels "Ich weiß, dass ich nichts weiß" verfügbar, dort unter dem Reiter "Versionsgeschichte". Abrufdatum des Artikels: 13.02.2024.

e) Die Vorsokratiker nehmen sich selbst inmitten des Ewigkeitshorizontes wahr

Die vorsokratischen „Philosophien“ sind im Grunde gemalte Bilder des Seins, und jeder malt so, wie sich ihm (in seiner sich bereits formierenden Individualität) das Sein zeigt. Es sind gleichsam photographische Momentaufnahmen der Ewigkeit.

Und jetzt können wir uns deutlich machen, dass die altgriechischen Naturphilosophen ihren spezifischen Standort haben, von welchem aus sie beobachten und ablichten. Es ist noch der archaische Ewigkeitshorizont. Sie sprechen also aus der Zeitlosigkeit heraus, auch wenn der Augenblick ihres Staunens als etwas Neues erscheint, so, als würde der Mensch jetzt erst aus seinem bisherigen festen Eingebunden- oder Fixiert sein in der Ewigkeit in die Sinnlichkeit, in Zeit und Raum hinaustreten.

Aber halt! Das tun sie noch nicht! Sie stehen noch auf der Ewigkeitsschwelle, sind nur erst im Ansetzen der Bewegung nach vorne, in Zeit und Raum hinein. Noch ist der Mensch nicht freigelassen, nicht losgelassen in den Raum und in die Zeit, noch ist er wie an unsichtbaren Fäden festgehalten in der Ewigkeit und Zeitlosigkeit. Denn diese „neue“ (etymologisch: frisch, unbeständig, veränderlich) Epoche, die nachmalig die europäische der Menschheit sein wird, steht noch bevor. Und wir können es heute noch ablesen am Sein und Dasein des Kleinkindes, das, sobald es sprechen und seinen eigenen Namen gelernt hat, auf sich selbst zunächst mit der dritten Person Singular hinzeigt, weil sein Blick auf sich selbst noch ein Außenblick, eine Perspektive von außen ist, deren Zentrum und Lebensmittelpunkt das Sein der Mutter bildet. Phylogenetisch analog könnte das Lebenszentrum des archaischen Menschen in „Geistwesen“, in der „Geistwelt“ gelegen haben, aus der auch noch kein monotheistischer Gott herausabstrahiert und zur Idee fixiert oder zum rationalen Begriff erstarrt worden war.

Einen Übergang bildet hier vielleicht der Hebräer oder alte Israelit, der, wenn er von ‚Jahwe‘ (eigentlich: JHWH = Tetragramm = unaussprechbar, daher Adonai, HERR, genannt) angesprochen wird, nicht kommunikativ-neuzeitlich mit „Ja“ antwortet, sondern mit „Ich“, gleichsam um die (vom höheren Geistwesen selbst veranlasste) Herumwendung seines „normalen“, auf den Unaussprechlichen hin gebannten Blickes zum Ausdruck zu bringen: Weil das Geistwesen es von ihm will, wendet er seinen Blick herum und zeigt sprachlich auf sich selbst hin („Ich?“), so, als würde sich unsere Hand bereit machen, weil wir etwas mit ihr tun wollen.

Einen Beleg hierfür suche ich noch. Ich meine, dies einmal gelesen zu haben... Möglich für die Suche wäre ein Durchgehen der altestamentlichen Berufungsgeschichten, im Wortwechsel zwischen Jahwe und dem Berufenen, anhand der Biblia Hebraica Stuttgartensia. Mein (kurzfristig erlerntes) Hebräisch reicht nicht einmal mehr für das bloße Lesen aus...

f) Der Europäer beginnt, sich als „kleine Ewigkeit“ aus der „großen Ewigkeit“ herauszulösen

Blicken wir auf Heraklit. Eine spätere, rational-abstrakte Erfassung des Spezifischen der einzelnen „Naturphilosophien“ mag feststellen, Parmenides habe das Sein gedacht, Heraklit hingegen das Werden, und Aristoteles schließlich habe beide Einseitigkeiten unter einen Hut gebracht, in seiner kategorialen Substanz-Philosophie und Veränderungs-Lehre. Heraklit denkt aber die Veränderung noch gar nicht richtig, er sieht sie nur, beobachtet sie, spricht sie auch aus, aber: Er macht sie noch nicht mit! Er bleibt auf seinem sicheren Beobachtungsposten des Ewigkeitshorizontes stehen, und von hier aus kann er sich dann über die Betriebsamkeit oder industria der Welt mokieren, in der sich die Vielen tummeln und gar nicht bemerken, dass sie das Entscheidende bereits verloren haben. Und so sagt er über sie: „Anwesend sind sie abwesend“, als würde sich beides gegenseitig ausschließen: „anwesend sein im Sein“ (als des Konstanz-Hintergrundes der Welt des Werdens) und „anwesend sein in dieser Werde-Welt selbst“.

"Sie verstehen es nicht, auch wenn sie es vernommen. So sind sie wie Taube. Das Sprichwort bezeugt’s ihnen: ‘Anwesend sind sie abwesend’."

 — — — ἀξύνετοι ἀκούσαντες κωφοῖσιν ἐοίκασι᾽ φάτις αὐτοῖσιν μαρτυρεῖ παρεόντας ἀπεῖναι

Textnachweise: Hermann Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch, Bd. 1, zweite Auflage, Berlin 1906, DK 22 B 34, digitalisiert zugänglich über Internet Archive (externer Link: https://archive.org/), zur Verfügung gestellt von der Universität von Illinois Urbana-Champaign unter einer offenen Lizenz, Heraklit Fragment Nr. 34, S. 67 - externer Link: https://archive.org/details/diefragmentederv01diel/page/66/mode/2up, abgerufen am 12.06.2024.

Heraklits Hauptsatz: „Alles ist im Fluss“ (panta rhei, den wir ihm in jedem Fall sinngemäß zuschreiben können), ist deshalb nicht ganz richtig, nicht ganz vollständig oder nicht ganz ehrlich geäußert, denn er müsste lauten: „Alles ist im Fluss - nur ich selbst nicht. Denn ich will in dieses Werden nicht mit hinein, sondern bleibe lieber hier auf der Ewigkeitsschwelle stehen, damit ich mich nicht in der Welt verliere und womöglich auch abwesend werde wie die Vielen.“ - Vielleicht war eine solche ‚vervollständigte‘ Äußerung aber auch noch gar nicht möglich, denn wahrgenommen wird dieses eigene Ich ja nur in der peripheren, anfänglichen Form eines Mit-Seins, während eine neuzeitlich-bewusste Entgegensetzung und Gegenüberstellung zur Welt noch weit entfernt liegt. Der noch nicht ganz zu seiner Selbstständigkeit erwachte Mensch steht noch fest auf Seiten der „großen Ewigkeit“, auch wenn ein Anderes als solches bereits ins Blickfeld gerät, so dass diese in sich rege werdende „kleine Ewigkeit“ sich nun wie ein Schatten von der „großen Ewigkeit“ zunächst abzuheben beginnt, um sich nach und nach zu lösen und in ein selbständiges Dasein hinauszugehen…

Allerdings vergehen bis dahin noch volle 2000 Jahre (pauschal: 500 v.Chr. – 1500 n.Chr.), denn erst mit Beginn der Neuzeit kommt Dynamik in die statische Welt der Antike und des Mittelalters, gemessen nicht am politischen Geschehen, das es immer gab und gibt, sondern – geographisch - an der Expansion Europas nach Übersee, sowie – kosmologisch - an der grundsätzlichen Auflösung des alten, ptolemäischen Weltbildes, was dann – theologisch - weiter zur Beseitigung des „Himmels“ und zur Entgötterung und Entgeistung der Welt führte, und diese Säkularisierung wandte sich nicht nur nach außen, sondern – psychologisch – auch nach innen, so dass in der Religionskritik der Glaube und die menschliche Psyche unglaubwürdig wurden, und sogar – rational-geistig - die menschliche Vernunft mit der Entdeckung des Unbewussten eine Schlappe und Schmähung hinnehmen musste, die sie m.E. bis heute gesellschaftlich-kulturell nicht ernsthaft angenommen hat, um entschlossen daran zu gehen, sie ins eigene Selbstbild mitaufzunehmen und konstruktiv damit umzugehen bzw. daran zu arbeiten zu lernen.

Die „menschliche Vernunft“ benimmt sich heute nämlich so, als gäbe es das Unbewusste - dieses „Andere ihrer selbst“ – überhaupt nicht, so, als habe es einen Sigmund Freud und seine Psychoanalyse nie gegeben und als könne sie so weitermachen wie bisher: auf sich selbst bauend, indem sie sich einbildet und behauptet, außer ihr sei nichts oder dürfe nichts sein, jedenfalls nichts von Bedeutung. So wohl auch die Erstansicht Kants (Stichwort: Grenzziehung), die heute allgemein rezipiert ist, im Gegensatz zu seiner reiferen Spätansicht (Stichwort: geheime resp. unbewusste Urteile), mit welcher er eine Erkenntnis-Weiche findet, die das billig angesetzte und geglaubte Herr sein der menschlichen Vernunft in Frage zu stellen und zu überwinden beginnt, indem sie das Irrationale nun miteinbeziehen möchte, was nun aber nicht mehr allgemein rezipiert worden ist. Der allgemeine Geist blieb an einem unreifen, aufklärerisch-rationalen Kant hängen…

Wäre zu fragen, ob eine Vernunft, die ihr Unbewusstes gerade nicht verdrängt, verstößt oder ignoriert, sondern annimmt, auch zu einem anderen Denken und auf andere Ideen kommen kann und ob sich dadurch vielleicht eine neue, ja höhere und überlegene Geistigkeit innerhalb einer sich selbst auch nach ihrer unbewussten Seite annehmenden Menschheit auftun könnte…?

ZWISCHENÜBERBLICK A-C

A. EINLEITUNG

1. Braucht die Philosophie auch eine Wissenschaftsform oder sollten vielmehr unsere Wissenschaften sich zur Philosophie reformieren?

a) Die Wissenschaften haben die Philosophie überholt
b) Das unüberholbare existenzielle Wesen der Philosophie
c) Die Philosophie überholt die in ihrem Fachwissen unbeweglichen Wissenschaften wieder

2. Thema und Methodik dieses Textes

a) Vergegenständlichung unseres modernen Selbstverständnisses in der Philosophie
b) Philosophische Umformung unseres Selbstverständnisses im terminologischen Thema-Durchlauf

B. MODERNE

3. Warum überblicken wir unsere eigene Geschichte nicht?

a) Europäische Geschichtseinteilung und Raumeroberung des gemeinsamen Globus
b) Halbheit unserer Geschichtserkenntnis und subjektive Gegenwarts-Monopolisierung
c) Gibt es die „Gegenwart“ schon immer?

C. ALTES SEIN

4. Sind wir in unsere eigene Geschichte geistesgeschichtlich erst eingetreten?

a) Die Philosophie entspringt als Verlustausgleich einer Defizitentwicklung
b) Sokrates ist die geistesgeschichtliche Schnittstelle zwischen Sophia und Philo-Sophia
c) Inhalt der altgriechischen Naturbetrachtung: Das Erwachen des Europäers zum Mit-Sein
d) Mit Sokrates zieht der Logos als (Nicht-)Wissen in den Menschen ein
e) Die Vorsokratiker nehmen sich selbst inmitten des Ewigkeitshorizontes wahr
f) Der Europäer beginnt, sich als „kleine Ewigkeit“ aus der „großen Ewigkeit“ herauszulösen