D. GEGENWART
5. „Gegenwart“ ist die Sammlung menschlicher Individuen in ihr gemeinsames, menschheitsgeschichtliches Wesen
a) Terminologisch gesehen ist „Gegenwart“ kein Warten und kein Ausschau halten
Werfen wir einen Blick auf den Terminus „Gegenwart“. Dem ersten Anschein nach könnte man das Wort „warten“ darin vermuten und dann das christliche Warten auf die Wiederkunft Christi assoziieren. Nun ist uns der Glaube aber abhandengekommen oder unplausibel geworden, und so müsste es sich um ein anderes Warten handeln, vielleicht das vergebliche „Warten auf Godot“, auf die Rückkehr eines Gottes, der nicht kommen kann, weil es ihn gar nicht gibt – daher englisch-französisch „God-ot“, Göttlein genannt?
Dieser zweite Bestandteil des Wortes leitet sich aber nicht ab von „warten“, im Sinne von „Ausschau halten“, als befänden wir uns in der Gegenwart auf einer Warte, einem Wachturm, einem vorgeschobenen Posten. Auch wenn wir uns heute faktisch doch so verhalten, weil wir den Eindruck haben, wir seien menschheitsgeschichtlich in eine aussichtslose Lage hineingeraten, in der nichts mehr „von selbst“ vorwärts geht, so dass es nun darauf ankomme, Augen und Ohren wachsam zu halten, damit uns eine etwaige Vorwärtsbewegung innerhalb der Menschheit in ihre Zukunft hinein nicht entgehe.
Analog hat auch die römisch-katholische Kirche Beobachter in aller Welt, wohl um sicher zu gehen, dass ihr möglichst keinerlei Regung des „Heiligen Geistes“ in der Welt entgehe. Denn sein „eigentlicher“, dogmatischer Wirkungsort ist ja die cathedra des Papstes, sozusagen sein „Zuhause“, wie zwar die katholische Glaubenswelt weiß, vielleicht aber nicht unbedingt auch dieser Heilige Geist selbst? Oder vielleicht hält er sich einfach nicht dran, an das Dogma der römisch-katholischen Kirche, sondern geht - eigenmächtig - eigener Wege „in der Welt“, weil er die päpstliche Geist-Autorität nicht anerkennt, sich von ihr nicht binden lässt und sie daher übergeht, quasi den römisch-katholischen Geist transzendiert, nach dem biblischen Motto:
„Der Wind bläst, wo er will“ (Joh. 3,8)?
Lutherbibel,
revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft,
Stuttgart, und Einheitsübersetzung ©
2016 der Katholischen Bibelanstalt GmbH,
externer Link: https://www.bibleserver.com/LUT.EU/Johannes3,
abgerufen am 31.03.2024.
Der zweite Bestandteil leitet sich vielmehr ab von „-wärts“ im Sinne von „gerichtet auf“.
Vgl. „-wärts“, in: Wolfgang Pfeifer et al., Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, externer Link: https://www.dwds.de/wb/etymwb/-w%C3%A4rts, abgerufen am 13.02.2024
Und da der erste Bestandteil u.a. die Bedeutung von „entgegen“ im Sinne von „in Richtung auf“ hat...
Vgl. „entgegen“, in: Wolfgang Pfeifer et al., Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, externer Link: https://www.dwds.de/wb/etymwb/entgegen, abgerufen am 13.02.2024
...haben wir ein sehr merkwürdiges Wort vor uns, das eine Art Hendiadyoin zu sein scheint: „Gegen-“ (= in Richtung auf) und „-wart“ (= gerichtet auf). Nur: Was soll dieses Eine sein, das durch die Beiden ausgedrückt wird?
b) Der Geschichtsstau zeigt unsere historische Anthropozentrik und immer noch fehlende zeitliche Objektivität oder Selbstrelativierung an
Blicken wir nochmals zurück: Nur von einer übergreifenden Idee des Menschen her, die das Ganze seiner (faktisch-vergangenen und möglich-künftigen) Geschichte überblickte, wäre es möglich, unsere eigene Gegenwart „historisch einzuordnen“, d.h. aber uns selbst zu relativieren und auch zu transzendieren, und unseren nur subjektiv verursachten „Geschichtsstau“ in die Objektivität des gleichmäßigen Geschichts-Laufs der Dinge hinein aufzulösen.
Wir ersehen daraus, dass der von uns räumlich gewonnene reflexive Außenblick (Stichwort: Satellitenblick auf die Erde) nicht auch schon zeitlich gelungen ist, so dass unser „moderner Blick in Raum und Zeit hinein“ zwar eine räumliche Objektivität und Verlässlichkeit aufweisen mag, zugleich aber immer noch eine zeitliche Subjektivität oder Unzulänglichkeit, weil wir die Zeitlichkeiten nicht ebenso ins rechte Verhältnis zueinander setzen können wie die Räumlichkeiten um uns herum.
Hierzu müssten wir vielmehr über „Münchhausen-Fähigkeiten“ verfügen, nämlich, uns am eigenen Schopf aus unserer Zeitlichkeit heraus- oder zurückziehen zu können in die Ewigkeit, als der bleibenden Hintergrundfolie, vor welcher sich unsere Zeit und Geschichte ereignet und abspielt. Wir müssten die Perspektive eines Gottes einnehmen können, der eine „Idee des Menschen“ fasst und die Menschheit dann in diese „ihre Wirk-lichkeit“ setzt, und wohl auch noch ihre Lenkung und Leitung übernimmt, weil ein Gott nicht als lebensverachtender, gewissenloser Experimentator gedacht werden kann, der eine „Kreatur“ hervorbringt, um ihr dann spielerisch zuzusehen, wie sie sich – ins Sein gesetzt - nun anstellen möge. - Der Gottes-Gedanke erscheint uns heute allerdings als überholt…
Dennoch besteht das Problem eines Gelingens unserer Geschichtswahrnehmung darin, uns selbst so relativieren zu können (soll heißen: durchsichtig zu werden), dass ein objektiver Gang der Menschheitsgeschichte „hinter uns“ oder „durch uns hindurch“ oder „über uns hinaus“ erkennbar werde, der von uns nicht mehr subjektiv überfrachtet oder perspektivisch verzeichnet werden kann, eine Aufgabe, die wir unbewusst vielleicht gar nicht zulassen und nicht wahrhaben wollen, indem wir uns selbst als eine gebieterische, vielleicht auch furchteinflößende Autoritäts-Größe unserer eigenen Zeit und Geschichte ansehen, die sich ihrer Seinserfahrung und Wahrnehmungskompetenz in der Gegenwart so sehr bewusst ist, dass sich nichts und niemand an ihr einfach vorbeistehlen darf - und dabei selbst ungeschoren bleiben könnte, gleich einem Dieb in der Nacht (vgl. 1 Thess. 5,2)…
Wir müssten aus uns selbst heraustreten und uns uns selbst gegenüberstellen können und also den Satelliten- oder Gottesblick nicht nur – physisch-räumlich - auf die Erde, sondern auch – geistig-zeitlich - auf uns selbst in unserer Geschichte anwenden können.
Zudem wäre dieser „Blick von außen“ nicht nur auf das heutige Jetzt anzuwenden, sondern auf jedes Jetzt, das der Mensch sozusagen von links nach rechts auf dem gedachten Zahlenstrahl durchlaufen hat, durchläuft und durchlaufen wird. Wir dürften also nicht einfach nur in der Geschichte stehen, sondern müssten zugleich aus ihr heraustreten und sie von außen betrachten können!? Wir dürften also nicht einfach nur Menschen sein, die ein bestimmtes Leben, einen zeitbezogenen Standpunkt, eine eigene Ich-Perspektive haben, Zeitgenossen, sondern wir müssten aus diesem Ich, das wir selbst sind, aus dieser Zeitgenossenschaft selbst herausschlüpfen und uns gleichsam von außen betrachten… Ist das machbar oder nicht machbar? Ist das gesund oder krankhaft? Ist das alt oder neu? – Zur besseren Veranschaulichung nehmen wir folgende Äußerung des denkenden Dichters oder dichtenden Denkers Hermann Hesse:
„Mein Glück bestand aus dem gleichen Geheimnis wie das Glück der Träume, es bestand aus der Freiheit, alles irgend Erdenkliche gleichzeitig zu erleben, Außen und Innen spielend zu vertauschen, Zeit und Raum wie Kulissen zu verschieben.“
Textnachweis: Hermann Hesse, Lektüre für Minuten, hg. Volker Michels, suhrkamp taschenbuch 7, 16. Aufl. 1980, Frankfurt am Main, S. 191, Nr. 500, entnommen aus: „Die Morgenlandfahrt“.
Wie sollte das jemals möglich sein: das eigene Sein-in-der-Zeit von außen zu betrachten? Eine solche Erfahrung fehlt uns. Allerdings: Wir haben inzwischen genug an (geistes-)geschichtlicher Erfahrung gesammelt, sodass wir uns hüten werden, leichtfertig zu behaupten, es sei schlechterdings nicht möglich!, niemals!, von keinem Menschen! Denn: Im Räumlichen habe wir es ja inzwischen geschafft, obwohl Menschen der Antike sich gedacht haben mögen, es werde dem Menschen gewiss niemals möglich sein, vom Mond aus einen Blick auf die Erde zu werfen, resp. das eigene Sein im Raum von außen zu betrachten… Wir aber wissen heute, dass dieser potenzielle „antike Irrtums-Gedanke“ schlicht darauf beruht, dass dem Menschen das rechte Know-how fehlte, was daher durchaus auch wieder auf uns selbst in unserer Gegenwart zutreffen kann, indem wir hier und heute noch nicht wissen, was vielleicht der Mensch der Zukunft wissen und erfahren wird: dass ein „Münchhausen-Prinzip des Geistes“ doch existiert, durch welches es dem Menschen möglich sein wird, sich aus sich selbst herauszuziehen, nicht unbedingt physisch-materiell, aber möglicherweise doch wenigstens seelisch-geistig?
Vielleicht wäre es eine neue Wegetappe innerhalb unserer Geistentwicklung, ein auf unserem Entwicklungsweg liegender epochaler Durchbruch innerhalb der Menschheitsgeschichte, den wir nur leider nicht zeitlich verorten und damit auch nicht verifizieren können, weil uns die geschichtsübergreifende Idee des Menschen und der Menschheit eben fehlt, von welcher aus dieser rechte Zeitpunkt oder gar menschheitsgeschichtliche Kairos als solcher erkennbar und auf dem Zahlenstrahl der Geschichte sichtbar gemacht werden könnte. - Vielleicht müssen wir ja einfach nur eine gute Weile warten, wie es wohl auch der Mensch der Antike besser hätte tun sollen, z.B. 2000 oder 2500 Jahre, nämlich bis zum 20. Juli 1969 – der ersten Mondlandung?
Als Verständnis-Analogie kann uns eine Pflanze dienen, die ein Gärtner hegt und pflegt. Er hat den Samen, kennt die Endgestalt der Pflanze, also ihr Ziel, und er kennt die Mittel und Wege, wie aus dem Samen die Pflanze werden kann. Er verfügt also über das Know-how der Pflanzenentwicklung. Und zum besseren Verständnis des Bezuges „Idee – Wirklichkeit“ können wir in diesem Bild den Gärtner und sein Tun auch ersetzen, z.B. durch einen Fahrzeugbauer oder einen Architekten. Sie verfügen über ein analoges Wissen, über „die Idee“, und führen ein analoges Handeln aus, solange, bis das Ding wunschgemäß fertiggestellt ist. Wenn auch das Kunst-Ding nicht mehr die Dynamik der Natur oder des Lebens in sich trägt, so wird doch sichtbar, dass das Ding „draußen“ (Fahrzeug) und die Idee „drinnen“ (Fahrzeug-Idee im Geist des Fahrzeugbauers) eine ursprüngliche Einheit bilden, so dass das Draußen-Ding nur dann und dadurch als „Fahrzeug“ überhaupt erkennbar und durchsichtig wird, wenn es in der „Drinnen-Idee des Fahrzeugs“ betrachtet wird. Die Idee im Geiste ist die Begriffs-Linse, durch die das Ding draußen erst als es selbst erscheint, ist seine Vernünftigkeit, sein Existenzgrund und auch seine Erkennbarkeit. Und nehmen wir die Dynamik der Natur nun in unsere Ideenbetrachtung wieder herein, so können wir sagen: Der Mensch wird uns nur dann und dadurch geschichtlich erkennbar werden, wenn wir ihn in seiner Wesens- oder Entwicklungsidee anzusehen vermögen, vorausgesetzt, es gibt eine solche überhaupt.
c) Das „Gegen“ der Gegenwart ist die Bewegung der Geschichte
Nun scheint die Menschheitsgeschichte ein Werdeprozess zu sein, der sich unserem umfänglichen Erkennen und Verstehen weitgehend entzieht, momentan jedenfalls, falls es eine Idee des Menschen geben sollte, und, falls das Fehlen dieser Idee nicht zwangsläufig ewig für uns währen muss, sondern sich – geistesgeschichtlich - ändern könnte, so, wie die Idee der Heliozentrik (später der Kosmozentrik) auch erst geistesgeschichtlich hervorgetreten ist, aber immerhin dann doch faktisch hervortrat - und zu einer Umwälzung unserer Wirklichkeitswahrnehmung und Wirklichkeit führte.
In diesen Prozess werden die Einzelnen zu allen Zeiten hineingeboren, und sie erhalten im Verlaufe ihres Heranwachsens oder Hineinwachsens in ihre Kultur (durch Erziehung, Bildung oder auch einfach durch Mitlaufen) eine gesellschaftlich-geschichtliche Impulsbewegung mit, die womöglich unbewusst in ihnen bleibt, vielleicht auch halb bewusstwird, die sie in jedem Fall aber mitvollziehen. Wir können die Menschheitsgeschichte insofern als einen Lebens- oder Gesellschaftsstrom betrachten, von welchem der Einzelne in irgendeiner Form mitgenommen wird, selbst dann, wenn er sich zum wahrgenommenen Strom, zur Konvention quer stellt, sich quasi als Revolutionär oder Reformator dagegen entscheidet und eine andere Wegrichtung oder eine Wegänderung einschlagen und durchsetzen will.
Die Menschheitsgeschichte geht also ihren Gang, läuft vielleicht auf ein unbekanntes Ziel zu, befindet sich jedenfalls „in einer Richtung“, geht irgendwohin „entgegen“. – Das könnte nun der erste, ein geschichtsbezogener Wortbestandteil von „Gegenwart“ sein: Gegen-wart.
d) Liegen auch den Naturdingen Ideen zugrunde?
Nun stellten wir wiederholt fest, dass unsere Geschichtswahrnehmung deshalb unzulänglich und ungenügend sei, weil uns die Idee des Menschen (und seiner Geschichte) fehle. Und wir wollen nun prinzipiell festhalten, dass es auch grundsätzlich zweifelhaft sei, ob es eine solche Idee überhaupt gebe.
Von den Dingen, die wir selbst produziert haben, wissen wir, dass es eine Idee gibt, denn wir haben sie selbst ersonnen. Als Beispiele können wir das Automobil des Fahrzeugbauers oder das Gebäude des Architekten benennen, die deshalb nicht nur da sind, sondern in ihrem Dasein auch erkennbar sind, weil Menschen entsprechende Ideen gefasst und umgesetzt haben. Träfe eine solche Ursächlichkeit auch auf die gesamte Natur zu, so müsste es einen überlegenen Geist oder einen Gott geben, der zuerst einen Plan der Natur (und die Ideen der Naturdinge, auch des Menschen) entwarf und sie dann hervorbrachte und in ihr Wesen setzte, so, wie der Architekt ein Gebäude vor uns hinstellt, oder der Fahrzeugbauer ein Automobil.
Gibt es einen solchen überlegenen Geist aber nicht, so könnten die Naturdinge nur aufs Geratewohl hin entstanden sein, vielleicht evolutiv, vielleicht auch aufgrund einer „Programmierung“, die niemand vorgenommen hat, sondern die – in unseren modernen Augen – „einfach da ist“ (z.B. materie- oder energieintern), ähnlich, wie für die Menschen früherer Zeiten Gott und Geistwelt „einfach da waren“, so dass man nicht weiter darüber nachdenken musste oder konnte?
Aber selbst dann könnte der Mensch trotzdem daran gehen, eine Idee seiner selbst zu ersinnen, sozusagen nachträglich zu erfinden, auch wenn eine solche nicht vorgegeben wäre und sich die Menschheitsgeschichte auch nicht automatisch abspulte, wie ein Programm. Kultur und Zivilisation wären dann ein Trotz und Trotzdem des Menschen zu seiner kosmischen Kontingenz, nicht unbedingt ein „Überbau“, aber – sagen wir - ein existenzielles Sandkastenspiel, das dem Wind und Wetter des Universums ausgesetzt ist und bleibt.
Wir sollten die Fragenbeantwortung nicht übereilen, die Frage daher zunächst einmal offen lassen, denn so, wie lange in der Menschheitsgeschichte ein Gott und eine Geistwelt angenommen waren, ohne dass dieser Gott oder diese Geistwelt klar und deutlich erkannt worden wären, ebenso ist in der kurzen Aufklärungs-Zeit danach, die uns die Überzeugung des Nichtexistierens eines Gottes und einer Geistwelt gebracht hat, durchaus nicht „klarst und überdeutlich“ erkennbar geworden, dass kein Gott und keine Geistwelt seien - ansonsten müssten die Menschen, so sie Vernunft haben, darin heute doch übereinstimmen? Sie tun dies aber nicht, sondern zeihen sich eher gegenseitig der Unvernunft, der Wahrnehmungslosigkeit, wenn vielleicht auch nur unausdrücklich, indem sie faktisch einander quasi ignorieren:
a) Der Ungläubige hat keine Vernunft und Einsicht.
b) Der Gläubige hat keine Vernunft und Einsicht.
Eine solche Vorgehensweise gegenseitiger Unvernunft-Bezichtigung kann selbst als unvernünftig bezeichnet werden, und sie kommt einer contradictio in adiecto gleich, nämlich einer „Vernunft“, die „dogmatisch“ oder „ideologisch“ verfahren muss, weil sie auf dem (gewaltfreien, reibungslosen, diskursiven, einsichtsvollen) Weg der Erkenntnis- oder Einsichtsvermittlung nicht zum gewünschten Ziel kommen kann.
Das aber sollte doch die besondere Fähigkeit oder Kunst vernunftvoller Kontroversen sein: dass man sowohl sich selbst als auch die andere Seite verstehen kann und sich also zu keiner Zeit ignorant oder intolerant, diktatorisch oder autoritär geben muss? Hinzu kommt, dass die (philosophische) Vernunft grundsätzlich auf eine Unbekannte hin ausgerichtet ist: die Wahrheit, die nicht vernommen werden kann, wenn eine „Idee der Wahrheit“ (und wahren Wirklichkeitsverhältnisse) bereits dogmatisch oder ideologisch vorausgesetzt ist, so dass Philosophie und Wissenschaft von Grund auf unmöglich gemacht wären, weil an oberster Stelle nicht die formale, erst noch zu suchende „Wahrheitserkenntnis“ stünde, sondern eine materiale, scheinbar bereits fündig gewordene „Wahrheitsbehauptung“. – Hier ergibt sich allerdings ein gewisses Dilemma: Eine falsche Idee mag die Dinge zwingen oder vergewaltigen; wie aber ist die wahre Idee in ihrer Richtigkeit erkennbar? Durch gewaltfreie Entwirrung und Auflösung aller bestehenden Widerstände und Widersprüche? Bräuchten wir dann aber nicht ein feineres, sensibleres Empfinden einer rein geistigen „Widerständigkeit“ der bestehenden „Standpunkte“, die wir nur deshalb als „gleichwertig“ und „gleichberechtigt“ nebeneinander bestehen lassen müssen, weil wir noch nicht subtil genug hinsehen und ausdifferenzieren können, um das Verhältnis der Standpunkte zueinander und gewissermaßen das „Wahrheitsgefälle in ihnen“ zu erkennen?
Dem Philosophen und Wissenschaftler muss völlig gleichgültig sein, was das inhaltlich ist – „die Wahrheit“. Sein Handlungsprinzip ist: Er will sie kennenlernen, und er weiß zugleich, dass er sie genau dann, wenn er sie bereits a priori bestimmen und festlegen will, wohl niemals zu Gesicht bekommen wird, weil sie sich ihm – unter der Hand – in seine eigenen Wünsche und Hoffnungen umformt, in Täuschung und Lüge metamorphosiert, so dass er im Irrtum herauskommen wird, vielleicht in einem sympathischen Lieblingsirrtum, aber jedenfalls nicht – „in der Wahrheit“, die womöglich spröde, kompromisslos, neutral oder gar inhaltlich unerwünscht ist. Der Philosoph und Wissenschaftler will einfach nur wissen – das ist Forschung! Er will nicht dogmatisch beherrschen, auch nicht ideologisch oder imperialistisch überlagern. Man könnte daher sagen: Niemand ist so kommunikativ wie der echte Philosoph und Wissenschaftler, und niemand ist so unkommunikativ wie der Dogmatiker und Ideologe, der, wenn er echt ist, falsch ist. - Als Beispiel eines echten Wissenschaftlers und aufrichtiger zwischenmenschlicher Kommunikation sei Albert Einstein genannt.
Wir stellen uns die Alternativen vor Augen und haben bis zur Klärung oder Ent-Scheidung zunächst einmal in beide Richtungen nachzudenken:
a) Die Natur hat eine Ideengrundlage.
b) Die Natur hat keine Ideengrundlage.
Diese Alternative können wir über ein Schlussverfahren auch umformulieren:
a) Es existiert mindestens ein uns überlegenes Geistwesen.
b) Es existiert kein uns überlegenes Geistwesen.
Und weil Letzteres die heute gängige Überzeugung ist, will ich – sagen wir als Gegenprobe – die Erstansicht so weit verfolgen, bis ich ins Straucheln komme. Hierbei setze ich nicht voraus, unsere Befindlichkeit in der Moderne sei notwendig als eine Widerlegung von a) zu deuten, so dass heute – vernünftigerweise - nur noch b) übrigbliebe, wie das allzu einfache Schlussverfahren der in der Einleitung genannten „Geschichtsdialektik“ nahelegen könnte.
e) Ist das Auffinden der „Idee unserer selbst“ ein Ereignis unserer Geistesgeschichte?
Das bloße Aufwerfen dieser jetzigen Frage nach einer „Idee unserer selbst“ (und ihrer möglichen geistesgeschichtlichen Entdeckung) ist schon eine Kunst, nämlich ein Können der Philosophie, die sich ihre eigenen Vernunftmöglichkeiten nicht im vorab beschneidet und deshalb die menschliche Selbsterkenntnis immer weiter zu treiben versucht, im Vergleich zum sonstigen Usus im menschlichen Vernunftgebrauch, der diese Frage niemals aufwerfen kann, wenn sie durch das „Meinen der Unerkennbarkeit“ bereits unmöglich gemacht ist.
Auch hier ergibt sich wieder ein gewisses Dilemma: Wenn dem Menschen eine Idee schon zugrunde liegt, so dass er sie sich nicht selbst setzen kann, unterliegt er dann nicht einem Zwang? Wenn uns unsere Idee und unser Wesensvollzug vorgegeben wären, müssten wir dann nicht unfreie Wesen sein, die tun müssen, was sie selbst gar nicht tun wollen? Dies trifft nicht zwangsläufig zu, denn es könnte ja sein, dass „Freiheit“ in der Idee des Menschen als sein wahres Handlungsprinzip bereits angelegt, also mitenthalten ist. Freiheit und Determination schließen sich nicht zwangsläufig aus, sie können nebenher oder ineinander Bestand haben. Das Ziel der Blume ist ihre Blüte, die wiederum den Samen enthält. Hätte die Pflanze einen eigenen Willen, so hätte sie die Möglichkeit, dieses in ihr gelegene Ziel anzunehmen und sich damit zu identifizieren oder es zu verwerfen und zu boykottieren.
Und wenn nun der Mensch eine Seinsstufe wäre, auf der dieses Prinzip einer Selbstentscheidung greifen solle? Verfolgen wir diese theoretische Überlegung noch ein Stück weiter, so verwandelt sich uns dieses mutmaßliche „Prinzip der Selbstentscheidung“ in ein grundlegenderes „Prinzip der Selbsterkenntnis“, und der Mensch würde ein Wesen sein, das sich selbst erkennen kann und soll, indem die Selbsterkenntnis mit zu seiner Wesensaufgabe als animal rationale oder zoon logon echon gehörte, denn Selbsterkenntnis ist die Voraussetzung für eine vernünftige oder vernunftvolle Selbstentscheidung (wobei wir allerdings bereits feststellten, eine erkennbare Wahrheit müsse sich früher oder später „von selbst ent-scheiden“…?). Und wäre es dann nicht weiter denkbar, dass der (verstehen sollende) Mensch vielleicht erst im Verlaufe seiner Entwicklung und Geschichte die „Idee seiner selbst“ auffinden kann und soll?
Damit haben wir nun schon eine konkretere Möglichkeit, auf unsere eigene Geschichte hinzublicken: Der Mensch kommt erst geschichtlich vor sich selbst zum Vorschein und kennt sich selbst nicht schon a priori. Die Selbsterkenntnis gehört mit zu seiner Entwicklungsgeschichte. Das Auffinden der Idee seiner selbst wird sich erst geistesgeschichtlich ereignen.
Und weiter würde sogar ein (zutreffendes, zielsicheres) Vorausblicken in die eigene Zukunft möglich werden und etwas sein, was Mensch und Menschheit sich entwicklungsgeschichtlich erst anzueignen hätten, vergleichbar einer Impulsbewegung, in der man sich befindet, und aus welcher heraus man erst nach einiger Zeit auf die Idee kommt zu fragen: „Wo führt mich dieser Impuls denn überhaupt hin? Wohin ist er, bin ich gerichtet? Worauf laufe ich zu?“ - Hat die Menschheitsgeschichte also eine Zielrichtung, eine Zukunft, die von uns zuerst geistesgeschichtlich erkannt werden muss, um dann auch entweder von uns angenommen und unterstützt oder aber von uns abgelehnt und verworfen werden zu können?
f) Das „Wart“ der Gegenwart ist unser Gewahr werden unseres geschichtlichen Bewegt werdens
Und nun fällt ein neues, spezifisches Licht auf das Wort „Gegenwart“, welches wir bedenkenlos und oft im Mund führen. „Gegenwart“ könnte für eine prinzipielle Entwicklungszeitstelle stehen, die der Mensch noch nicht ganz erreicht hat, die er aber geschichtlich erreichen soll, damit er vollumfänglich über sich selbst im Bilde sei, um erst im wahren Sinn ein animal rationale sein zu können.
Zuerst erkennt er sich in einer geschichtlichen Bewegung stehend, und nun erst kann er beginnen, sich dieser seiner eigenen Geschichte besonders zuzuwenden; weil er Aufschluss über sie und sich selbst in ihr haben will; und weil er nach Selbsterkenntnis strebt (zumindest streben kann), nicht, weil er das muss (Determination), sondern, weil er das will (Freiheit). Es ist wieder der Unterschied der Philosophie: Die einen betreiben sie, die andern halten sie für überflüssig, dies gilt auch für das Nachdenken der eigenen, menschheitlichen Geschichte.
Sein Geschichtsblick wird dadurch reflexiv, zugleich rückwärts- und vorwärtsgewandt, aber erst, nachdem sich der Mensch schon sehr lange in einer Geschichtsbewegung befunden hatte, in der er immer nur „nach vorne oder oben blickte“, weil er sie einstmals für ewig und statisch gehalten hatte, für eine bloße Abfolge in der Zeit (vgl. die alten, periodischen, zyklischen Zeitrechnungen), vor dem Hintergrund seines Eindrucks der immer gleichen Ewigkeit der Geistwelt und Unveränderlichkeit der Götter- oder Himmelswelt.
Wir finden uns heute also in einer Bewegung der Menschheitsgeschichte vor, die wir nicht selbst gemacht und nicht begonnen haben (Natur), und wenn wir uns nun unserer eigenen Geschichtsbefindlichkeit gegenüberstellen, sie gleichsam von außen betrachten, so sehen wir, dass wir die Möglichkeit haben und nutzen, uns unserer eigenen Geschichte ausdrücklich zuzuwenden (Vernunft). Wir müssen das nicht tun, aber wir können es tun und tun es auch. Und deshalb ergibt sich uns in zunehmendem Maße unser Reflexions-Geschichtsstau, weil unser derzeitiges Vernunftvermögen nicht auszureichen scheint, uns in unserer Naturbewegung zu durchdringen.
Und in diesem Rahmen ist es auch zulässig, aus der „Moderne“ eine „Postmoderne“ auszudifferenzieren. Nur muss man zugleich bedenken, dass uns diese Ausdifferenzierung nicht prinzipiell weiterbringt, weil sie die Besonderheit unserer reflexiven Eigenbewegung („-wärts) innerhalb unserer geschichtlich-natürlichen Fremdbewegung („entgegen“) lediglich wiederholt und nochmals unterstreicht, aber im Prinzip gleichförmig bleibt. Dieses Prinzip aber ist: Die „Gegenwart“ als Zeit- und Durchgangsstelle wahrzunehmen, wohl wissend, dass sie in die Zukunft hinein nicht dieselbe bleiben, sondern vermutlich ein ganz anderes, aus dem Hier und Jetzt nicht absehbares Aussehen annehmen wird (Stichwort: „Mondlandung“ als antiker Irrsinnsgedanke). – Das könnte nun der zweite, reflexive Wortbestandteil von „Gegenwart“ sein: Gegen-wart.
Man könnte demnach den altgriechischen Orakelspruch „Gnothi seauton“, der ziemlich am Anfang unserer Geistesgeschichte steht, als an die Gesamtmenschheit gerichtet betrachten, weniger auf das Individuum bezogen, und seine Erfüllung ergibt sich erst allgemein, historisch, philosophisch-wissenschaftlich, geistesgeschichtlich, indem Mensch und Menschheit zunehmend sich selbst ihre Aufmerksamkeit zuwenden, nicht mehr der umgebenden und das Lebens-Maß vorgebenden Götter- und Geistwelt, in welche sich der Mensch früher noch gut und fest eingebunden wusste oder glaubte.
Greifen wir nun unsere Bedenken auf, „Gegenwart“ sei eine konstante Lupe, die auf dem Zahlenstrahl der Geschichte beliebig hin- und her verschoben werden könne. Es könnte sich ja um ein Perspektiven- oder Dimensions-Versehen handeln, so sagten wir; also um einen historischen Übertragungs- oder geistesgeschichtlichen Übersetzungs-Fehler, aufgrund unserer stillschweigenden, unbedachten Voraussetzung, jegliches Jetztsein von Menschen, egal wann und wo, sei immer auch „Gegenwart“: Jetztsein = Gegenwart. Unsere Wortanalyse zeigt etwas anderes, weil die Reflexbewegung des „-wärts“, die sich auf die Geschichtsbewegung bezieht, selbst erst geistesgeschichtlich entstehen muss und inzwischen auch entstanden ist, wenngleich sie noch nicht abgeschlossen und noch nicht in einem Erkennen und Sich-selbst-Durchschauen des Menschen in seiner Geschichte erfüllt zu sein scheint.
„Gegenwart“ muss also etwas sein, was für den Menschen keineswegs von Anfang an existierte, zu jeder Zeit gleich (und zugleich doch jeweils anders), nein. „Gegenwart“ ist etwas, was geistesgeschichtlich erst entstanden ist und im Grunde erst durch den (reflexiven) Menschen selbst hervorgebracht wurde: Ein Geistwesen findet sich in einer Bewegung stehend vor und wendet sich nun fragend diesem seinem eigenen Bewegt werden zu.
Und wenn wir auch zu Beginn dieses Abschnittes feststellten, Gegenwart sei – rein etymologisch gesehen - kein Ausschau halten, so müssen wir dies nun korrigieren, weil der Mensch, der in einer Geschichts- oder Entwicklungs-Bewegung steht und der sich mit seiner geistigen Eigen-Bewegung dieser seiner geschichtlichen Fremd-Bewegung zuwendet, genau dort herauskommen muss und herauskommt, nämlich in der Frage: „Wohin geht denn eigentlich meine und unsere Reise? Welches ist die Idee meiner und unserer selbst? An welcher Raum-Zeit-Stelle oder an welchem Entwicklungs-Zwischenstand unseres Wesens sind wir hier und heute herausgekommen?“ Diese Fragestellung ist die Zeitstelle, an der wir heute stehen, und sie ist: „die Gegenwart“ – weniger ein Wissen, mehr ein Nichtwissen, zugleich aber ein Wissen wollen, daher auch ein Fragen.
Und deshalb kann dieses Empfinden, in der „Gegenwart“ zu sein, durchaus als eine geistesgeschichtliche Qualifikation angesehen werden, als ein nun erreichtes Entwicklungsniveau des animal rationale. Und wir können sagen: Alle, die sich ihres geschichtlichen Bewegt werdens bewusst geworden sind, finden in diese fragende Geistes- oder Existenz-Grundhaltung „Gegenwart“ hinein und sammeln sich in sie, wobei wir keine zu starre Grenze und Festlegung auf die Jetzt-Generation vornehmen sollten, lieber eine gewisse zeitliche Sammlungs-Bandbreite einräumen wollen, so dass wir auch nochmals diese „Blick-Entstehung zur Gegenwarts-Sammlung“ reflektiv zurückverfolgen könnten.
Und vielleicht müssen wir hier sogar schon den Schreiber des Markusevangeliums miteinbeziehen, der dieser Sammelbewegung (intuitiv-inspirativ) bereits angehört und der Jesus knapp und klar sagen lässt:
„Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,15)
Einheitsübersetzung ©
2016 der Katholischen Bibelanstalt GmbH und
Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016
Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart,
externer Link: https://www.bibleserver.com/EU.LUT/Markus1,
abgerufen am 18.06.2024.
Die „Gegenwart“ ist ein Sammelbecken, in welchem sich all diejenigen zusammenfinden, die sich dieser prinzipiellen Entwicklungszeitstelle annähern oder vielleicht auch schon in sie eingetreten sind.
Und wir wollen nun noch versuchen, in dieses neue Dasein des Menschen, das sich uns im Umbruch aus der alten Seins-Statik „Ewigkeit“ nun als Seins-Dynamik „Gegenwart“ ergeben hat, genauer hinein zu fragen, wobei wir dieses Fragen eher wahllos als systematisch ansetzen, weil wir erst ein Gespür entwickeln müssen für die große geistesgeschichtliche Umwälzung als solche, in die wir hineingeraten sind, um richtige Schlussfolgerungen daraus ziehen und auch um in unsere Zukunft hinein richtige, dem animal rationale hier und heute angemessene Verhaltensweisen finden zu können.
6. Mit der „Gegenwart“ sind wir ins Zentrum der Seinsveränderung gelangt
Zunächst können wir feststellen – im Rückblick auf „unseren“ Heraklit (den wir nun nämlich als Repräsentanten oder Erfahrungs-Stellvertreter unseres damaligen (menschheitlichen) Daseins betrachten wollen – analog auch jeden anderen in „unserer“ Geschichte stehenden Menschen), dass im Zeitverlauf nun genau das passierte, wovor Heraklit zurückschreckte: Wir konnten uns auf der souveränen Ewigkeits-Schwelle nicht halten, sondern sind mitten in diese Werde-Welt selbst hineingeraten, so dass wir nun eine Problematik zu lösen haben, welcher sich Heraklit noch entziehen wollte und auch noch entzogen halten konnte. Zugleich sehen wir aber, dass es offenbar doch möglich ist, einen „Besonnenheits-Standpunkt der Philosophie“ in dieses Veränderungs-Dasein mit hineinzunehmen, vielleicht als seidenen Rettungsfaden, um uns darin doch nicht gänzlich verlieren zu müssen und „dauerhaft abwesend“ zu bleiben?
Dies also sei nun unser neuer spezifischer Standort, von welchem aus philosophisch nach dem Sein gefragt werden soll: aus dem Werden heraus fragen wir nach dem Sein, aus der Veränderung heraus suchen wir ein Konstantes, Bleibendes, und wir beginnen damit – naheliegend - beim neuzeitlichen Subjekt, das wir ja selbst geworden sind.
a) Ist das Ich eine Konstante oder eine Variable?
Unser Leben spielt sich heute in einer geschichtlichen Veränderungsbewegung ab, von der wir wissen, dass wir „uns selbst“ darin befinden. Nicht die Zeitdimensionen laufen durch uns hindurch (Vergangenheit -> Gegenwart -> Zukunft, bzw. Zukunft -> Gegenwart -> Vergangenheit), als gingen sie uns in unserem Ich (als einer von uns vorausgesetzten Existenz-Konstante) nichts an oder berührten uns nur peripher, sondern dieses unser Ich selbst scheint der wunde Punkt zu sein, mit Entwicklungsrelevanz und Veränderungspotenzial, kein Ewigkeits-Feststehen, keine dauerhaft-unveränderliche „Gegenwart“: Gegenwart ≠ Ich-Konstanz.
Unser Ich-Sein selbst wird im Gang durch die Zeit ein anderes. Unsere Ich-Konstanz, die uns spontan als „Wahrheit oder Offenbarkeit der menschlichen Existenz“ erscheint, ist also streng genommen eine Illusion, die wir aber als solche nicht erkennen, denn alle Lebensveränderung und Neuerfahrung, die wir durchleben, wird sogleich stillschweigend in diese Ich-Konstanz adaptiert, so dass alles Neue und Unbekannte gleichsam im Handumdrehen zum Alten und Bekannten wird. Denn der Mensch hat ein sehr großes Anpassungspotenzial, wodurch er „neu“ und „alt“ im Ich-Bewusstsein nivelliert, sozusagen vor sich selbst verwischt zu einer „Gegenwarts- oder Ewigkeits-Konstanz“, die laufend eine andere wird und damit das gar nicht ist, was sie zu sein glaubt – eine Konstante.
Wenn Kant in seiner Philosophie feststellt, alles sei nur Erscheinung, so müssen wir diesen Satz nun auch auf uns selbst anwenden: Wir sind nur die Erscheinung unserer selbst, und in jeder Geschichtsepoche erscheint der Mensch neu vor sich selbst. - Wie und wo können wir dann aber wahrhaft „uns selbst“ fassen, nicht nur vorübergehende Erscheinungsweisen unser vor uns selbst? Aber: Kann man denn überhaupt ernsthaft sagen und meinen: „Ich sehe gar nicht mich selbst, sondern nur eine Erscheinung meiner vor mir selbst“? Spätestens seit Entdeckung des Unbewussten müssten wir mit Freud antworten: „Ja, das kann man sehr wohl.“ Aber faktisch verhält sich niemand so, mehr oder weniger niemand. Warum nicht?
Weil wir auch hier wieder auf die Differenz der Philosophie stoßen. Man sagt sich: „Ich muss nicht nach Selbsterkenntnis streben, denn ich kenne mich ja schon selbst, weil ich doch ich selbst sogar selbst bin! Ich liege vor mir selbst offen zutage. Niemand kennt mich so gut, wie ich mich selbst (außer meiner Frau vielleicht, die kennt mich noch besser).“ So in etwa die unphilosophische Innenwahrnehmung, der die ebenso unphilosophische Außenwahrnehmung entspricht: „Ich muss nicht nach Erkenntnis der Wirklichkeit streben, denn ich bin doch schon in ihr! Ein platonisches Höhlengleichnis ist der pure Unsinn. Philosophie ist daher überflüssig, sowohl nach außen als auch nach innen…“
Wir begegnen hier dem scheinbar unproblematischen Bereich des Selbstverständlichen, des von selbst Verständlichen: Was sich „von selbst versteht“, ist unproblematisch, bedarf also keiner Problematisierung. Das eigene Ich versteht sich von selbst, also muss es gar nicht weiter vergegenständlicht werden. Theoretisch freilich könnten wir auch unser eigenes Ich hinterfragen, aber praktisch tun wir es nicht, denn ein bereits Gewusstes kann kein potenziell Wissbares sein. – „Das Interessante und Neue ist anderswo in der Welt zu finden, nicht bei mir, denn das Meine ist das Altbekannte, das langweilig Gewordene. Ich will aber Neues erfahren, will mich bereichern, erweitern! Wo in der Welt kann ich das Neue, das mir noch Unbekannte finden?“
Und wir können nun daraus schlussfolgern: Im Selbstverständnis (und Selbstverständlichen) hört das Fragen auf. Und nur wenn wir Philosophie und (existenzbezogene) Wissenschaft betreiben (was nicht „normal“ ist!?), kann uns das hellhörig werden lassen, so dass wir – sokratisch – nachbohren möchten: Ist „mein Selbstverständnis“ ein echtes Wissen oder nur ein Scheinwissen?
Das „Ich selbst“ hat keinen klaren, eindeutigen, festen Inhalt, sondern einen variablen und flexiblen, den wir aufgrund einer sehr großen Umwandlungs- und Anpassungsfähigkeit in seiner laufenden Veränderlichkeit und ständigen Neuidentität gar nicht realisieren. Das Wort „ich“ hat so viele verschiedene Bedeutungen als es Menschen gibt. Es zeigt jeweils nur eine Richtung an, nämlich eine Rück- oder Selbstbezüglichkeit, verweist also auf eine (zum Leben und Sein erweckte) Raum-Zeit-Stelle, die dadurch eine gewisse Dauer und Konstanz zu haben scheint, dass Menschen eine physische Existenz und Leiblichkeit haben. Aber diese äußerlich-leibliche Konstanz ist zugleich trügerisch, denn der psychisch-geistige Inhalt dieses „Ich“ wandelt sich nach Lebensalter und Lebenserfahrungen, sollte es zumindest, wenn wir folgende Brecht’sche Geschichte vom Herrn Keuner heranziehen:
"Ein Mann, der Herrn K.
lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: ›Sie
haben sich gar nicht verändert.‹ ›Oh!‹ sagte Herr K. und
erbleichte."
Quelle: Bertolt Brecht,
Kalendergeschichten, Geschichten vom Herrn
Keuner, Das Wiedersehen, S. 117, Rowohlt Taschenbuch
Verlag, Hamburg, Januar 1953, 306.-335. Tausend, Oktober
1970.
b) „Zukunft“ und „Vergangenheit“ sind Außenansichten werdender oder gewesener Ich-Gegenwart
Die „Gegenwart“ ist ein (neues) Aufmerksam geworden sein des Ich auf sein eigenes Sein (oder seine Existenz), welches nun weiß, dass es sich selbst geschichtlich auf Reisen befindet, so dass wir nicht sagen können, wo es „mit uns hinausgehen wird“, weil wir noch keinen Einblick in unsere Idee und Zielrichtung haben (die es möglicherweise nicht gibt, möglicherweise aber doch).
Die „Zukunft“ muss jetzt gesehen werden als „künftige Gegenwart“, d.h. als etwas, was wir von unserem Hier und Jetzt aus nicht hochrechnen und nicht sozusagen als „zeitliche Verlängerung unseres konstant bleibenden Selbst“ betrachten können. Und wenn wir auch keinen „historischen Übertragungsfehler“ in die Zukunft hinein machen wollen, müssen wir sagen: Wir haben keine Ahnung, wie die menschliche Existenz in dieser künftigen Gegenwart aussehen und sich anfühlen wird, so wie wir annehmen können, der Mensch der Antike würde zu Tode erschrocken sein, wenn er zu seiner damaligen Zeit einen seherischen Blick in unser Dasein in der Moderne hätte tun dürfen, oder wohl besser: hätte tun müssen…
Etwas leichter haben wir es in Bezug auf die Vergangenheit, obwohl wir auch hier davon ausgehen müssen, dass wir uns in frühere Zeiten nicht Eins zu Eins hinein- oder zurückversetzen können. Und wenn wir diese Vergangenheit jetzt – logisch-systematisch – „vergangene Gegenwart“ nennen wollen, dann laufen wir auch schon wieder Gefahr, unseren obigen Lupen- oder Konstanz-Fehler zu wiederholen, denn wenn wir weit genug zurückgehen (und es reicht schon das Mittelalter aus), dann verlischt uns dieser Terminus der Gegenwart, der die Vergangenheit in sich zu erfassen können meint, weil eben die große geistesgeschichtliche Umwälzung mit uns passiert ist, die uns aus dem Ewigkeitshorizont aussteuerte und in den eigentlichen Zeithorizont erst eintreten ließ, und mit diesem Eintreten ist uns „Gegenwart“ – im Reflex auf unsere Geschichtlichkeit - erst wahrnehmbar und somit erst existent geworden.
Und dies, scheint mir, gehört wesenhaft zu unserem Sein und unserer Geschichte: Wir haben den archaischen Ewigkeitshorizont verlassen, sind nachmittelalterlich-neuzeitlich in Raum und Zeit eingetreten oder herausgetreten, und auf diese Weise haben wir erkannt, dass die Veränderung, Anderswerdung etwas ist, was uns in unserer Substanz betrifft, in unserem Ich und Selbstverständnis, die selbst einem geschichtlichen Wandel unterliegen, so dass wir damit zu rechnen haben, dass auch unser derzeitiges, modern-aufgeklärtes Selbstverständnis womöglich oder sogar vermutlich oder sogar ganz gewiss nicht bleiben wird…?
Wenn wir historisch zurückgehen, stoßen wir also auf eine Blick-Verlagerung des Menschen, der zuerst in der Ewigkeit lag, dann weg von der Ewigkeit ging hin zur Zeitlichkeit, hinein in Zeit und Geschichte, die dadurch erst subjektiv entstehen, hinein in eine „Gegenwart“, die damit erst zur Ich-Substanz des (neuzeitlichen) Menschen wird.
c) „Gegenwart“ ist die „kleine Ewigkeit“ des Ich, die sich in die „universale Anderswerdung“ schwer hineinfindet
Zusammenfassend kann man sagen: Der Mensch entdeckt sein eigenes Ich als „kleine Ewigkeit“, die er im Terminus „Gegenwart“ nun mit sich führt, nachdem er sein archaisches Eingebettet gewesen sein in die „große Ewigkeit“ neuzeitlich in Raum und Zeit hinein verließ. Zugleich ist er sich dessen bewusst, dass seine eigene Ich-Wahrnehmung als Konstanz-Wahrnehmung „nicht ganz wahr“ ist, weil diese „kleine Ewigkeit“ als „Ich-Gegenwart“ einem Substanzwandel unserer selbst unterliegt, den wir in die Zukunft hinein nicht absehen können, zumindest derzeitig noch nicht, denn wir wissen nicht einmal, ob uns diese unsere momentane Geschichtsblindheit prinzipiell auferlegt ist oder nur vorübergehend. Um diese Frage entscheiden zu können, müssten wir unser geschichtliches Wesen erst einmal kennen.
Und solange wir den menschheitlichen, naturgemäßen, zuletzt universalen Veränderungsprozess, in den wir gleichsam ungewollt hineingeraten sind, in seiner Bedeutung und Tragweite nicht abschätzen können, können wir auch keine Entscheidung darüber treffen, ob wir ihn annehmen und mittragen oder ablehnen und verweigern sollten. Anders formuliert: Solange der Veränderungsprozess als solcher vor uns verborgen bleibt, können wir diesen gewissermaßen sich selbst überlassen, als ginge er uns nichts an, denn solange geht er uns auch tatsächlich nichts an, weil wir – als je einzelne Subjekte - auf die kleine Generationen-Bandbreite unserer eigenen Lebensdauer beschränkt bleiben, und für diese geringe Lebensspanne ist er – dieser große und allumfassende Veränderungsprozess - im Grunde nicht von Belang.
Analog scheint der Terminus „Endzeit“ für Christen in der Moderne keine Rolle mehr zu spielen, denn mit zunehmender Parusieverzögerung rückt die Endzeit geschichtlich gar nicht mehr näher, Stück für Stück, sondern immer weiter in die Ferne, so dass der einzelne Christ sich sagen mag: „Für mich und mein Leben ist die Endzeit (in ferner Zukunft) nicht mehr von Relevanz.“
Anders sähe es vielleicht aus, wenn es zu der sich heute abzeichnenden Geschichtsbewegung von der großen Ewigkeit oder All-Gegenwart hin zur kleinen Ewigkeit oder Ich-Gegenwart noch ein Gegenstück oder einen ausstehenden zweiten Teil gäbe, als befänden wir uns in der Moderne in der Nähe eines Nullpunktes einer geistesgeschichtlichen Pendel- oder Schwingungsbewegung, der nun eine Rückkehrbewegung folgen soll, sozusagen eine „Umkehr unserer selbst“ (Konnotation: „Umkehr“ ist ein biblischer Begriff), aus Zeit und Geschichte wieder heraus und in die All-Gegenwart wieder zurück?
Aber welchen Sinn sollte eine solche Bewegung in die Zeit hinein und wieder aus ihr heraus haben? Entsteht vielleicht in dieser Hineinbewegung ein „Etwas“ im Menschen, welches nach der Herausbewegung als Produkt und Ergebnis der durchlaufenen Geistesgeschichte bleiben solle und welches uns den universalen Veränderungsprozess als solchen überhaupt erst verstehbar und dann auch potenziell annehmbar machen wird?
ZWISCHENÜBERBLICK A-D
A. EINLEITUNG
1. Braucht die Philosophie auch eine Wissenschaftsform oder sollten vielmehr unsere Wissenschaften sich zur Philosophie reformieren?
a) Die Wissenschaften haben die Philosophie
überholt
b) Das unüberholbare existenzielle Wesen der
Philosophie
c) Die Philosophie überholt die in ihrem Fachwissen
unbeweglichen Wissenschaften wieder
2. Thema und Methodik dieses Textes
a) Vergegenständlichung unseres modernen
Selbstverständnisses in der Philosophie
b) Philosophische Umformung unseres Selbstverständnisses im
terminologischen Thema-Durchlauf
B. MODERNE
3. Warum überblicken wir unsere eigene Geschichte nicht?
a) Europäische Geschichtseinteilung und Raumeroberung des
gemeinsamen Globus
b) Halbheit unserer Geschichtserkenntnis und
subjektive Gegenwarts-Monopolisierung
c) Gibt es die „Gegenwart“ schon immer?
C. ALTES SEIN
4. Sind wir in unsere eigene Geschichte geistesgeschichtlich erst eingetreten?
a) Die Philosophie entspringt als Verlustausgleich einer
Defizitentwicklung
b) Sokrates ist die geistesgeschichtliche Schnittstelle
zwischen Sophia und Philo-Sophia
c) Inhalt der altgriechischen Naturbetrachtung: Das Erwachen
des Europäers zum Mit-Sein
d) Mit Sokrates zieht der Logos als (Nicht-)Wissen in den
Menschen ein
e) Die Vorsokratiker nehmen sich selbst inmitten des
Ewigkeitshorizontes wahr
f) Der Europäer beginnt, sich als „kleine Ewigkeit“ aus der
„großen Ewigkeit“ herauszulösen
D. GEGENWART
5. „Gegenwart“ ist die Sammlung menschlicher Individuen in ihr gemeinsames, menschheitsgeschichtliches Wesen
a) Terminologisch gesehen ist „Gegenwart“ kein Warten und
kein Ausschau halten
b) Der Geschichtsstau zeigt
unsere historische Anthropozentrik und immer noch fehlende
zeitliche Objektivität oder Selbstrelativierung
an
c) Das „Gegen“ der Gegenwart ist die Bewegung
der Geschichte
d) Liegen auch den Naturdingen
Ideen zugrunde?
e) Ist das Auffinden der „Idee
unserer selbst“ ein Ereignis unserer
Geistesgeschichte?
f) Das „Wart“ der Gegenwart
ist unser Gewahr werden unseres geschichtlichen Bewegt
werdens
6. Mit der „Gegenwart“ sind wir ins Zentrum der Seinsveränderung gelangt
a) Ist das Ich eine Konstante oder eine
Variable?
b) „Zukunft“ und „Vergangenheit“ sind
Außenansichten werdender oder gewesener
Ich-Gegenwart
c) „Gegenwart“ ist die „kleine
Ewigkeit“ des Ich, die sich in die universale „Anderswerdung“
schwer hineinfindet