ABC-Versuch einer neuen Wahrnehmung des alten Seins, aus der angenommenen Misere-Situation unserer Gegenwart der Moderne heraus

E. ANGENOMMENE MISERE-SITUATION

Im letzten Kapitel haben wir gesehen, wie es zunehmend schwer wird, zu begrifflicher Schärfe zu kommen resp. sie zu wahren. Es mag uns ein Gefühl der Unklarheit oder besser: des Unklar-Seins entstanden sein. Denn wir sind dabei zu versuchen, uns in den eigentlichen „Bereich unserer selbst“, in „unsere Existenz“ begrifflich-tastend hineinzubegeben, um in diesem „Inneren“ Klarheit der Wahrnehmung zu behalten oder zu finden. Hierbei ergibt sich als Erfahrung, dass wir ein Abgrenzungs-Problem bekommen, nämlich, das Eigene vom Fremden abzuheben, das eine gegen das andere zu konturieren. Wir sind in der Not, eine Be-griff-lichkeit aus uns „heraus zu ringen“.

Insbesondere der letzte Abschnitt war beschwerlich, und auch verwirrend, so dass wir das Bedürfnis haben, ein wenig zu verschnaufen und auszuruhen von den Mühen der Reflexion.

Die philosophische Reflexion scheint kein Sonntagsspaziergang und kein Freizeitvergnügen zu sein. Hat man sie einmal ernsthaft begonnen, lässt sie einen nicht mehr los. Man wird vielmehr zunehmend in sie hineingezogen, gleich einer unsichtbaren Sogwirkung, und doch dauert es geraume Zeit, ehe man erkennt, dass man sich mit und in ihr auf ein Schlachtfeld begeben hat, auf welchem ein Kampf tobt, um „Leben und Tod“, allerdings in einem stillen, subtilen, verborgenen, seelisch-geistigen Sinn.

Auch tummelt sich dort nur ein einziger Gegner, von welchem man zudem niemals gedacht hätte, dass er überhaupt ein solcher sein könnte: Ich selbst. Und die Besonderheit dieses Gegners ist, dass er zugleich ein individueller und ein allgemeiner ist, analog unserem faktischen Sein als Diese(r)-hier und als Teil der Menschheit.

Betrachten wir nun unsere philosophisch-wissenschaftlichen Annäherungs- oder An-griffs-versuche, um diesem Gegner Herr zu werden, so ist es, als würden wir gegen eine sehr gut befestigte Burg anlaufen, mit besonders fest verankertem Burgtor, gegen eine schier uneinnehmbare Festung, sichtbar daran, dass der Rammbock unserer Reflexion nur ganz allmählich das Mauerwerk mürbe machen kann, so dass der Eindruck entsteht und lange, lange bleibt, unser An-Griffs-Werkzeug (= unsere Vernunft) habe keinerlei Durchschlagskraft und die Stöße (= neue Ideen im Reflexionsprozess) würden rein gar nichts bewirken können, sondern ins Leere greifen, anstatt auf Widerstand zu treffen und diesen zu bearbeiten. Ins Geistige zurückübersetzt: Die Philosophie scheint nun auf der Stelle zu treten, und wir können es konkret im Text daran ablesen, dass gerade im letzten Abschnitt die Gedanken und Formulierungen sich zuletzt wiederholten, als sei der Gedankengang ins Stocken geraten und ein Vorwärtskommen in der Begriffsbildung und weitergehenden Wahrnehmung nicht mehr möglich.

Und genau deshalb ist es richtig und notwendig, die Denkbemühungen oder Stoßrichtungen aller Philosophen und Wissenschaftler zusammenzunehmen, um gegen diesen allgemeinen und übermächtigen Gegner auf Dauer doch irgendeine Chance zu haben. Der Vergleich hinkt zwar insofern, als in der Philosophie und Wissenschaft nicht mit Gewalt und Brecheisen vorgegangen wird, und auch gar nicht vorgegangen werden kann, weil der Gegenstand keinen physischen Widerstand bietet. Der Vergleich stimmt aber doch wieder insofern, als ein sehr hoher Kraft- und Konzentrationsaufwand in unserem Denken erforderlich ist, um hier doch immer wieder stückchenweise, über die Zeiten hinweg, vordringen zu können, um das bisherige Übersehen oder Nichtwahrnehmen in ein Sehen und Wahrnehmen überführen zu können.

Insofern ist es dann doch richtig, von einer Philosophia perennis zu sprechen, nur dass diese nicht durch eine gemeinsame und über die Zeiten hinweg beibehaltene Methodik und Systematik charakterisiert werden kann. Jeder doktert individuell und eigenständig vor sich hin, und es gehört mit zur Aufgabe der Späteren, die Vorversuche der Früheren in die eigene Bemühung systematisch miteinzubinden, damit die Einzelaktivitäten summarisch potenziert und in ihrer möglichen Durchschlagskraft verstärkt werden können.

Und deshalb benötigen wir sehr viel Sauerstoff, müssen öfters Luft holen und brauchen einfach immer wieder Pausen des Ausruhens. Wittgenstein soll sich von der Philosophie im Kino erholt haben. Ich selbst pflege einen Mittagsschlaf von 1-2 Stunden, ohne Wecker, wann immer ich kann, und höre vornehmlich Barockmusik.

In diesem Krieg nun, der äußerlich unsichtbar ist und jeweils als bloßes individuelles Philosophie- oder Wissenschafts-Duell ausgetragen wird, weil nur wir selbst uns darin befinden und weil wir ihn auch selbst angezettelt haben, geht es vordergründig um die Wahrheit, hintergründig um die Selbstbehauptung. Beide Themen vermischen sich und ringen sozusagen miteinander, obwohl es wir selbst sind, die sich hier selbst malträtieren („Wie dumm Menschen doch sein können…“), wie „Bewusstsein und Unbewusstes“, oder wie „Ich und Abwehrmechanismen“, und so wird auch mit unlauteren Mitteln gekämpft - von uns selbst gegen uns selbst. Und doch wird es uns irgendwie gelingen müssen, Selbsttäuschung und Selbstbetrug zu unterbinden, das eigene Unbewusste also irgendwie in Schach zu halten und ein bewusstes Veto einzulegen, gegen das eigene Herumgeschubst werden durch ein „Etwas“, ein „UHO“ (unbekanntes Handlungsobjekt, vielmehr: -subjekt), mit der Zielrichtung, diesen „unbewussten Wildfang unserer selbst“ unter Kontrolle zu bekommen und letztlich zur Selbstaufgabe und Kapitulation vor unserem Bewusstsein zu zwingen.

Sollte uns hierbei unterbewusst der Eindruck entstanden sein, wir werden aus diesem Kampf nicht als Sieger hervorgehen können, mischt sich in unseren Wahrheitswillen heimlich unser Überlebenswille hinein, der uns unseren Wahrheitswillen verkleidet, vor uns selbst verbirgt, - und nun wird die philosophische Reflexion klammheimlich „umgebogen“, so dass zuletzt aus unserem Nachdenken eine „Wahrheitsbehauptung“ resultiert, die zwar faktisch eine Irrtumsbehauptung und Wahrheitsflucht ist, die uns aber zumindest unser (innerliches, psychisches) „Überleben“ zu sichern scheint, weshalb wir dann die so resultierende rettende Lüge als willkommene Wahrheit annehmen.

Diese „Wahrheitsflüchtigkeit“ und „Selbstgegnerschaft“ ist (oder sollte sein) das tägliche Brot der Philosophie, sei es bewusst, sei es unbewusst, zumindest seit Beginn der Neuzeit (allerspätestens seit Freud). Und so sehen wir Descartes über einen „allmächtigen Betrüger“ (Genius malignus) sinnieren und nachdenken, dem er – genau mit diesem seinem scharf-kritischen Gedanken der Gegner-Identifizierung - methodisch-zielsicher das Handwerk legt - so glaubt er jedenfalls: „Ich fasse den Gedanken des Betrogen werdens -> Und damit ist der Betrug ausgeschaltet, nicht mehr möglich! Denn nun habe ich ja meinen verborgen und anonym bleiben wollenden Rumpelstilzchen-Gegner beim Namen genannt und damit entlarvt!“

Was würde Descartes aber getan haben, wenn ihn aus den Tiefen seines Unbewussten heraus die Hiobsbotschaft erreicht hätte, das Bisherige sei noch gar nichts gewesen, gemessen an dem, was an Reflexions-Wegstrecke, an Anstrengung und Mühsal, vielleicht auch an Gefährlichkeit und Selbstgefährdung, noch vor uns als nachdenkenden, philosophierenden Menschen liege? So einfach sei „die Sache mit der Wahrheit“ nicht, als könne man Irrtum und Täuschung methodisch-rational entfernen wie eine lästige Fliege mit der Klatsche?

Auch kann es nicht als abgemacht gelten, dass wir den Reflexionsprozess überhaupt zu Ende bringen können und also sozusagen im Denken ans Ende der Dinge vordringen werden, selbst dann nicht, wenn es uns tatsächlich gelingen sollte, einen Selbstbetrug dauerhaft zu vermeiden. Denn vielleicht werden wir ja selbst auf der Strecke bleiben, soll heißen: Wir werden den Blick auf das Ende der Dinge nicht mehr (mit-)erleben, weil wir zuvor schon unser eigenes Ende erreicht haben werden, nämlich die Grenze unserer intellektuellen Leistungsfähigkeit, unserer psychischen Kraft und Seelenstärke, unseres physischen Stehvermögens, die einfach nicht ausreichten, um das Ende der Reflexion zu erleben und auszuhalten, so dass zuvor schon wir selbst kapitulieren mussten? - Ähnlich wie Magellan, der in die neuzeitliche Geschichte als erster Weltumsegler eingegangen ist, obwohl er ihre Vollendung selbst gar nicht mehr miterlebte, weil er noch unterwegs im Kampfgeschehen fiel. Und wir möchten auch gar nicht wissen, unter welch jämmerlichen oder makabren Umständen diese „glorreiche Tat der beginnenden Neuzeit“ zu Ende gebracht wurde, und wir wechseln deshalb jetzt lieber wieder vom Leben zum Denken zurück, weil wir uns nicht selbst entmutigen und uns nicht die Kräfte rauben wollen - für das, was noch vor uns liegen könnte, sei es auch nur in Gedanken, nicht im wirklichen Leben…

7. Wir müssen unsere prekäre Geistessituation in der Gegenwart sehen wollen

a) Einleitend: Gehen lernen im Geiste

Das Kapitel über das „alte Sein“ ist ziemlich spekulativ geraten, was aber vor allem daran liegen mag, dass wir uns schwertun, das „alte Sein“ als solches überhaupt wahrnehmen zu können, und die Gefahr ist eine sehr große, dass wir beim Versuch, in die Vergangenheit zurückzugehen, gar nicht "mit unseren Beinen fest auf der Wahrheit aufsetzen“ werden, sondern sie – aus Versehen – "mit Füßen treten", also wegkicken, um unser modernes Gegenwarts-Ich an ihre Stelle zu setzen und somit unser Neues als das Alte auszugeben. Wir müssten (und müssen!) unser eigenes Jetzt-Sein oder Anders-geworden-Sein soweit zurücknehmen können, dass wir es in die Vergangenheit nicht unzulässig hineintragen, weil wir ansonsten doch wieder nur uns selbst und unsere Zeit darin zu sehen bekommen, so dass sich uns das Vergangene in ein Gegenwärtiges verkleidet, während uns die Veränderung des menschlichen Seins als solche unsichtbar bliebe.

So zeigt sich, dass die Gegenstände der Geisteswissenschaft, in diesem Fall der Historie, besonders „flüchtig“ sind, und so werden wir zuerst einmal ein ordentliches Fingerspitzengefühl entwickeln müssen, Samthandschuhe brauchen, „geistigen Takt“ (er-)finden müssen, ehe es uns gelingen kann, solcherlei „Gegenstände“ überhaupt „sichtbar“ zu bekommen, anstatt lediglich mit uns selbst beschäftigt zu sein und uns im Kreis der Gegenwart zu drehen, während wir fälschlich glauben, nicht mit uns, sondern mit der Sache selbst beschäftigt zu sein und die Vergangenheit eingeholt, rezipiert, er- und begriffen zu haben.

Wenn die altgriechische Naturphilosophie faktisch selbst "speculatio" gewesen sein sollte, so können wir ihr auch nur durch „Spekulation“ nachspüren und nahekommen, jeder andere Annäherungsversuch wäre dem Gegenstand selbst unangemessen und ein Verfehlen der menschlichen Realitäten.

Die „Spekulation“ ist nun von Kant her negativ besetzt, und er scheint das menschliche Erkenntnisvermögen als eine feste Größe gedacht zu haben, analog einem Glas, das gefüllt werden kann, und wenn es gefüllt ist, mit Wissen, ist Schluss. Blicken wir aber auf den Fortschritt unserer Atomphysik, so können wir sagen, dass wir auf (kosmologische oder atomare) Erkenntnisgrenzen gestoßen sind, und hier müssten wir nach Kant nun haltmachen, sehen aber zugleich, dass dies nicht sinnvoll ist, weil das, was wir erkannt haben, in einen größeren Sinnzusammenhang gestellt und als Wissen abgerundet werden muss. Also macht eine weitergehende bzw. spekulative Theoriebildung so sehr Sinn, dass wir einfach nicht darauf verzichten wollen.

Außerdem ist Kants negative Beurteilung nicht die einzig mögliche Sichtweise der „Spekulation“. Sein Zeitgenosse und Mitaufklärer G. E. Lessing vertritt eine ganz andere Auffassung: Die Spekulationen haben den Sinn und Zweck, uns im Denken einzuüben. Die Vernunft muss also erst einmal vielfach gebraucht gewesen sein, damit sie versiert und routiniert werden kann. Und wenn der Mensch auf dem Weg dorthin mit seinen Spekulationen irrt, so ist dies nicht schwerwiegend, vielmehr zu akzeptieren, denn er übt sich ja erst ein in der Denkbewegung, im Sich-Bewegen im Gedanken. Es ist daher ein Methoden-Fehler, die jeweilige Spekulation des geistesgeschichtlich sich erst entwickelnden menschlichen Denkens bereits als Endprodukt anzusehen, während sie in Wahrheit nur Nebenprodukt der Übungsphase ist, so dass es keinen Sinn macht, Anstoß daran zu nehmen, dass die eine Spekulation so, die nächste gegenteilig ausfällt, wie etwa "Sein ist" (Parmenides) und "Alles ist im Fluss" (Heraklit).

§. 77.

...Begriffe vom göttlichen Wesen, von unsrer Natur, von unsern Verhältnissen zu Gott...

§. 78.

Es ist nicht wahr, daß Speculationen über diese Dinge jemals Unheil gestiftet, und der bürgerlichen Gesellschaft nachtheilig geworden. – Nicht den Speculationen: dem Unsinne, der Tyranney, diesen Speculationen zu steuern; Menschen, die ihre eigenen hatten, nicht ihre eigenen zu gönnen, ist dieser Vorwurf zu machen.

§. 79.

Vielmehr sind dergleichen Speculationen – mögen sie im Einzeln doch ausfallen, wie sie wollen – unstreitig die schicklichsten Uebungen des menschlichen Verstandes überhaupt...

§. 80.

Denn ... auch den Verstand nur allein an dem üben wollen, was unsere körperlichen Bedürfnisse betrift, würde ihn mehr stumpfen, als wetzen heissen. Er will schlechterdings an geistigen Gegenständen geübt seyn, wenn er zu seiner völligen Aufklärung gelangen ... soll ...

§. 81.

Oder soll das menschliche Geschlecht auf diese höchste Stufen der Aufklärung und Reinigkeit nie kommen? ...

Externer Link zum Text: G.E. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, §77-81, Projekt Gutenberg-DE - https://www.projekt-gutenberg.org/lessing/erziehng/erziehn2.html, abgerufen am 19.03.2024

Kant sieht das anders in seiner sogenannten Antinomien-Lehre (innerhalb seiner KrV - Kritik der reinen Vernunft), wobei er m.E. hiermit eine Wortschöpfung prägte, die eine „Gesetzlichkeit“ bzw. „Widergesetzlichkeit“ der menschlichen Vernunft suggeriert, wo gar keine solche ist. - Und dennoch schenken Common Sense und Wissenschaft der Kant’schen Suggestion Glauben?

Als Vergleich können wir das Gehen lernen des Kindes wählen. Kant sagt gleichsam, im Blick auf unsere Geistesgeschichte: „Ja, wenn du nur stolperst und hinfällst, dann lassen wir das mit dem Gehen lernen bei dir lieber sein.“ Lessing hingegen: „Steh wieder auf, wenn du stolperst und hinfällst. Mach’s nochmal und nochmal. Und du wirst sehen, wenn du lange genug übst, wird ein ordentliches, sicheres Gehen daraus werden.“ Und wenn wir nun unsere heutige Wissenschaftlichkeit betrachten, so können wir sagen, wir haben hier über einen längeren Zeitraum hinweg gelernt, auf die Dinge genauer hinzusehen und unseren so geschärften Blick in Begrifflichkeit und Fachtermini zu fassen, so dass er "be-greifend", "griffig", erkennend geworden ist.

Die Sprachentwicklung beim Kind bildet sich mit dem Gehen lernen und Hingehen zu den Dingen aus, und mit unserer wissenschaftlichen Begriffsbildung ist es im Grunde analog. Wo möglich, gehen wir hin zu den Dingen (Kolumbus-Schifffahrt übers offene Meer, Magellans Weltumseglung, Mondlandung), wo nicht, benutzen wir Mikroskop, Teleskop, Satelliten, Raumsonden, außerdem Labor und Experiment. Wir haben also ein geistiges scharfes Sehvermögen ausgebildet, und wenn wir berücksichtigen, dass wir uns hierbei im Universum gleichsam herumwenden und frei bewegen, einmal teleskopisch ins Weite und Ferne, einmal mikroskopisch ins Nahe und Nächste – sollten wir dann nicht sagen können, wir hätten uns den Kosmos erwandert und ge-läufig gemacht, also in unserem Geiste kosmisch Stehen und Gehen gelernt?

Wir müssen aber unterscheiden die begrifflichen Inhalte, die wir faktisch gefunden haben, und das Differenzierungs- oder Sehvermögen, das wir hierbei ausgebildet haben. Die Inhalte hängen davon ab, was wir als Gegenstände gewählt haben, und darin unterscheiden sich unsere Wissenschaften. Das Differenzierungs- und Sehvermögen als solches ist aber allen Wissenschaften grundsätzlich gemeinsam, auch wenn es sich in der gegenstandsbezogenen Anwendung spezifizieren muss. In den Wissenschaften erlernen wir also einen Erkenntnisumgang mit den Dingen, wobei für unterschiedliche Gegenstände auch unterschiedliche Erfassungskategorien zweckdienlich und angemessen sind, weshalb sich dieser Erkenntnisumgang dem jeweiligen Gegenstand anpassen muss und auf diese Weise spezifische Terminologien und Fachsprachen entstehen...

...wobei es allerdings dann vielfach passiert, dass der eine Wissenschaftler in seiner Forschungsrichtung dem andern nicht mehr ohne weiteres folgen kann, so dass Wissen hier und Wissen dort entsteht, ohne dass dieses sich untereinander (philosophisch) austauscht und miteinander verbindet, ohne sich also zu summieren und zu potenzieren. Unsere Wissenschaftler (bzw. Fachbereiche) sind weitgehend Einzelkämpfer, und das, was sie an Wissen erwerben, dringt nicht oder nur bruchstückhaft bis zu uns, zum Common Sense durch, geeignet, uns „breiter in unserer Existenz zu bilden“, aber nicht ausreichend, um uns „tiefer in dieser Existenz zu bilden“.

Nun will der menschliche Geist nach Lessing sein Können insbesondere an „geistigen Gegenständen“ erproben, um an sein Ziel, nämlich „zu seiner völligen Aufklärung“ zu kommen (EdM § 80), die Lessing in der Aufklärungsepoche seiner Zeit offenbar noch nicht erreicht sieht. Und jetzt können wir nochmals auf den Deutschen Idealismus hinblicken, der in jedem Fall eines gemacht hat: Er hat versucht, ein sinnlichkeitsfreies, geistanschauliches Denken zu entwickeln, also ein solches, das den Geist und das rein Geistige (also gerade das Flüchtige) zum Gegenstand wählt, ohne eine sinnliche Stütze zu haben. Und vielleicht nur, weil wir darin nicht sehr geübt, nicht versiert sind, kann unser allgemeines, durchschnittliches Erkenntnisvermögen damit noch nichts Rechtes anfangen? Denn es erfordert eine sehr hohe geistige Konzentrationskraft, solchen Differenzierungs-Beobachtungen und Denkwegen überhaupt adäquat folgen zu können.

Und dieses unerlässliche „Üben im Geiste“ scheint mir nun ein neuer, ungewohnter, vielleicht auch anstößiger Gedanke zu sein, weil sich daraus ergibt: Die durchschnittlich entwickelte menschliche Vernunft steht nicht eo ipso im Zenit menschlich möglicher Vernünftigkeit, soll heißen Wahrnehmungsfähigkeit, so, wie der Durchschnittsmensch sich körperlich sozusagen defizitär abhebt vom Athleten, der den menschlichen Leib intensiv durchtrainiert und dadurch ein physisches Vermögen, eine körperliche Leistung des Menschen zuwege bringt, mit welcher der – ungeübte und untrainierte - Otto Normalverbraucher einfach nicht mithalten kann.

Vielleicht also sollten wir den menschlichen Geist, den zwar prinzipiell alle haben, nicht über einen Kamm scheren, sondern innerhalb der menschlichen Vernunft einen analogen Qualitätsunterschied berücksichtigen lernen? Die einen üben ihre Vernunft tagtäglich, durch wissenschaftliche Begriffs-Schärfung an einem Gegenstand (vgl. EdM § 80: wetzen), was sich doch in der Ausbildung eines feineren Wahrnehmens irgendwann bemerkbar machen müsste? Die andern aber behalten lediglich jenen Vernunftgebrauch bei, den sie in ihrer Kindes- und Schülerzeit durch Erziehung und Bildung erlernt haben, und dieser reicht dann auch aus, um irgendwie durchs Leben kommen zu können, denn sie hatten und haben vielleicht auch nicht den Anspruch, dieses Leben selbst geistig durchsichtig zu bekommen?

Weil nun solche – rein geistige – Gegenstands-Erfassung schwierig bleibt, haben wir uns die Sache etwas vereinfacht, z.B. durch Vergabe akademischer Titel, damit man schnell und leicht, schon äußerlich erkennen kann, welche Vernunftqualität einen erwartet, wenn man z.B. einem Akademiker gegenübertritt. Und die Empörung ist dann groß, wenn ein Mediziner praktiziert und bekannt wird, er habe gar keinen „Doktor“ gemacht, oder wenn jemands Doktortitel sich als ein Plagiat erweist. Dann kann man von Betrug sprechen; aber: Warum nicht schon vorher, wenn man mit dem „Schwindler“ redet? Weil „wahr“ und „falsch“, echt und unecht auf dieser subtileren Wahrnehmungsebene ununterscheidbar sind? Oder weil unser allgemeines Wahrnehmen noch nicht fein genug eingeübt und ausdifferenziert ist, so dass wir sein geistiges Leistungsvermögen aus dem Sprachgebrauch und Differenzierungsreichtum des Individuums nicht unmittelbar entnehmen können, oder man auch sprachlich einen falschen Anschein erwecken kann?

Die äußerliche „Dr.“-Kennzeichnung ist aber auch nicht zwingend, nur Konvention, und der Schwindler könnte faktisch ein besserer Arzt sein als der Herr Doktor. Dann könnte man einwenden: „Warum missachtet der Schwindler die Konvention, wenn er sie doch erfüllen kann?“ Und er könnte einwenden, sein „Schnitt“ habe nicht ausgereicht, er wusste aber um seine medizinische Begabung, und so verstieß er gegen die (in seinen Augen falsche) Konvention, um das Gute, das er tun kann, umsetzen zu können? Oder er hat gar Alternativwege zur Konvention gefunden und beschritten, die wertvoll und wichtig sein könnten und denen gegenüber die Nichteinhaltung einer bloßen Konvention eher zu vernachlässigen war?

Die Evidenz der unterschiedlichen Resultate in der Leiblichkeit sehen wir am Leistungssport, und wir nehmen daran, dass Leistungssportler uns hier körperlich voraus sind, keinerlei Anstoß, z.B. durch Neid, sondern erkennen sie ohne jegliche Anstoßnahme an, weil wir wissen, wir könnten das auch, wenn wir entsprechend körperlich gesund wären und unsern Körper entsprechend trainieren (und disziplinieren) würden, nur haben wir für uns selbst eben andere Prioritäten im Leben gesetzt, soll heißen, uns für andere Dinge Zeit, Lebenszeit genommen.

Auch im Seelischen können wir ein Geübt sein nachvollziehen, wie jeder bei sich selbst dort sehen kann, wo er sein Seelenleben im Griff hat, ebenso dort, wo dies (noch) nicht der Fall ist, woraus sich nämlich eine ganze Menge Unannehmlichkeiten und Störungen des eigenen Handelns ergeben können, mit welchen man sich dann im Leben herumschlagen muss, so dass man sagen kann: Sein Seelenleben zu beherrschen, bringt den großen Vorteil, dass man nicht leicht von demjenigen abgelenkt werden kann, was man sich im Leben vorgenommen hat, indem man selbst über das Gestört werden entscheiden kann, anstatt in seiner Seele beliebig beweg- und angreifbar zu sein, also von zufälligen Lebensumständen abhängig zu sein oder von Laune und Willkür Anderer getrieben oder herumgestoßen werden zu können.

Und weshalb sollte es nun im Geistigen anders sein? Auch im Denken kann man sich einüben und Erfahrung sammeln. Und eine vorsätzliche, längerfristige, hartnäckige höhere Konzentration mag hier Dinge ermöglichen und zur Sichtbarkeit bringen, die einer Durchschnittskonzentration schlichtweg unsichtbar bleiben müssen?

Nehmen wir einen Schachmeister als Beispiel, der es in einer Blitzschachrunde vielleicht mit zehn Gegnern gleichzeitig aufnehmen kann, indem er – zugweise - von einem Gegner und Schachbrett zum nächsten wechselt, weil seinem geschärften Blick die Figurenkonstellation sogleich offen liegt, so dass ihm Handlungsmöglichkeiten gegeben sind, die dem Gegner einfach entgehen, weil dieser die Strukturen, die Ordnung in dem Figurengewirr nicht gleich gut und schnell überblicken kann. Der Meister sieht aber nicht nur seine eigene Ordnung, sondern er sieht auch die Unordnung des Anderen, d.h. er sieht dessen Fehler, dessen Irrtümer. Er registriert sie, hält sie aber vor seinem Gegenüber verborgen, um in Ruhe und Sicherheit das Schachmatt vorzubereiten, das den Gegner dann oft überrascht und unvorbereitet trifft. Oder der Gegner sieht sogar, wie sich die Schlinge um seinen König immer mehr zuzieht, kann aber nichts mehr dagegen tun, weil seine anfänglichen Stellungs- bzw. Handlungsfehler sich schon zu weit potenziert haben, so dass er durch sein „früheres“ unzulängliches Handeln sich selbst nun „in der Gegenwart“ reaktions- und handlungsunfähig gemacht hat? Daher lautet die Meister-Devise im Eröffnungsspiel: „Ich muss in meiner Bewegung Fehler vermeiden, um meine Stellung nicht schon anfänglich zu schwächen und dem Gegner Angriffsmöglichkeiten für sein Handeln in der Zukunft, d.h. im Mittel- und Endspiel zu eröffnen.“

Dieser im Schachspiel offenbar werdende geschärfte geistige Blick des Menschen mag womöglich im Leben so weit gehen können, dass ein regelrechtes „Leben im Denken“ daraus werden kann, wenn ein Mensch das will und sich vornimmt, und welches wir unterscheiden müssen vom zufälligen Gedanken-Sprudel, wie er den Lebensvollzug ständig begleitet, weil der Mensch sein Denken nicht abstellt oder auch nicht abstellen kann. Man kann sich daher gut vorstellen, dass in einer mittelalterlichen Mönchszelle ein intensiveres Denken ausgebildet werden konnte als im heutigen Informations-, Planungs- und Freizeit-Getriebe, das unserer geistigen Zerstreuung, Ablenkung und Nichtkonzentration mehr als förderlich ist, wobei wir uns durch unsere Terminlichkeit und Zeitknappheit („Wir wollen viel tun und erreichen in unserem kurzen Leben“) unsere „Erkenntnis-Zeit“ womöglich selbst arg beschneiden, indem unsere Lebens-Agenda prall gefüllt ist und für Nichtstun oder Muse (resp. Nachdenken des Vorgenommenen) wahrlich kaum Zeit bleibt. Thomas von Aquin soll vier oder fünf Schreibern gleichzeitig diktiert haben, zu verschiedenen Themen, und er wird hierbei auch seine Runden gedreht haben.

Analog versucht die Philosophie die Strukturen der Wirklichkeit, die Ordnung des Seins zu erkennen. Und insofern dies den Philosophen gelingt, finden und sehen diese dann Zusammenhänge oder Verbindungslinien, die den Nichtphilosophen verborgen bleiben, und so tun sich ihnen vielleicht auch Wege und Handlungsmöglichkeiten auf, womöglich in die Zukunft der Menschheit hinein, die für die Anderen schlicht unsichtbar sind und nichtexistent bleiben, sogar dann, wenn sich die „Schlinge der Gegenwart“ zuziehen und ein „Kultur-Schnitt“ passieren wird, der die einen in die Zukunft ihres unsichtbaren, geistigen Wesens hinein mitnehmen wird, während die andern zurückgelassen bleiben, in einer Endlos-Zeitschleife materialistischer Virtualität und sinnloser Frei-Zeit – analog zum (bereits emanzipatorisch gestalteten) Bibelwort:

„… Dann werden zwei auf dem Felde sein; der eine wird angenommen, der andere wird preisgegeben. Zwei Frauen werden mahlen mit der Mühle; die eine wird angenommen, die andere wird preisgegeben. Darum wachet; …“ (Mt. 24,40-42)

Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart, und Einheitsübersetzung © 2016 der Katholischen Bibelanstalt GmbH, externer Link: https://www.bibleserver.com/LUT.EU/Matth%C3%A4us24, abgerufen am 31.03.2024.

Vielleicht also sind wir in unserem Denkvollzug gar nicht so ungebunden und vogelfrei, wie wir zu sein glauben, sondern stehen – in Wahrheit, aber unbewusst - unter einem enormen „geistes- und lebensgeschichtlichen Zeitdruck“ unserer Reflexion, die ein „Höherer Schnitter“ minutiös mitverfolgt, um zu „unserer Reifezeit“ (von der wir nicht ahnen, dass es eine solche überhaupt geben könnte) ein kosmisches Münchhausen-Kunststück an der Menschheit zu vollziehen: „…uuund Schnitt!!“? - Dann werden wir sagen wollen: „Halt! Stopp! Das ging doch jetzt viel zu schnell! Wir sind nicht mitgekommen! Wir brauchen noch etwas Zeit zur Reflexion!“ Und die Höhere Antwort könnte dann lauten: „Mensch, du hast Jahrtausende Zeit bekommen, um dich in deinem Vernunftwesen zu entfalten. Du bist aber in deinem Geiste nicht angemessen fortgeschritten, sondern hinter dir selbst zurückgeblieben, ebenso hinter unseren Erwartungen, obgleich die rechte Potenz in dich gelegt war…“ – „Aber wir wussten doch nicht, dass wir von uns überlegenen Geistwesen beobachtet werden und dass wir also nur eine gewisse Frist Zeit hatten für unser Nachdenken. Ja, wenn wir das gewusst hätten, dann hätten wir uns doch ganz anders angestrengt, in unserem Nachdenken, weil wir dann gewusst hätten, dass dieses unser Denken gar nicht „vogelfrei“ und „musisch“ ist, wie es aus Sicht des Materialismus aber erscheint, der uns für das Denken eine ganze Menge Zeit lässt, um nicht zu sagen die volle Ewigkeit. Ja, wir sind auf die „Gottlosigkeit der Moderne“ hereingefallen!!...“ – …uuund Schnitt!!“…

Was, wenn ein Gehen-lernen-im-Geiste unsere primäre geistesgeschichtliche Aufgabe wäre? Und just in dem Augenblick, wo es ein Teil von uns erlernt hätte, würde dieser sich auch schon aufmachen und losgehen, während der andere Teil, der sich selbst undurchsichtig geblieben ist, sitzenbleiben muss? Weil er seine geistesgeschichtliche Lektion nicht erlernte, also die Lektion, die ihm durch die eigene Geschichte erteilt werden sollte, nicht als solche begriff, indem er „Geschichte“ lediglich als ein äußerliches Zeitgefüge wahrnahm, nicht aber als „Ge-schichte oder Schichtung seiner selbst“, die eine Erkenntnis- und Selbsterkenntnis-Frucht bringen kann und soll?

Es könnte ja ein fatales Versäumnis sein, in unserem Geiste so stehen zu bleiben, wie er sich uns im Hier und Jetzt ergeben hat, beruhend auf dem fatalen Missverständnis, wir könnten uns in dieser unserer hochreflexiv gewordenen Moderne auf unseren bisherigen Aufklärungs-Reflexions-Lorbeeren ausruhen (Stichwort: allzu einfache Geschichtsdialektik), weil uns unser Modernitätsgefühl sagt, wir hätten bereits sozusagen ein Ganzes durchschritten; hätten bereits im Wesentlichen den vollen kosmischen Durchblick erlangt und könnten folglich die Entwicklung unserer selbst hier und heute überblicken und bis ans Ende hin abschätzen?

Wir wollen einmal dieses unser innerliches Aufklärungs-Hochgefühl als eine potenzielle Selbsttäuschung betrachten und es mit der faktischen Geistessituation unserer tristen Gegenwart konfrontieren…

b) Warum denn „Misere“?

Von einer „Misere-Situation“ kann man deshalb sprechen, weil zum einen aus der antik-mittelalterlichen Vergangenheit her der „Horizont der Geistigkeit der Welt“ verloren gegangen ist. Unsere „Einbettung“ ist verschwunden, damit eine feste und klare Lebensorientierung, die im „Glauben an Gott und eine Geistwelt“ auch die Grenzen des Lebens inklusive des Todes mitumfasste.

Vielleicht kann man diesen Horizont-Verlust des Geistes, durch den der neuzeitlich-moderne Mensch sozusagen aus dem ontologischen Rahmen gefallen ist, auch als Schwinden eines kollektiven Über-Ichs betrachten? In jedem Fall ist uns die Selbstverständlichkeit des Lebensvollzuges abhandengekommen, und die so entstandene unbewusst-normative Leerstelle in uns macht uns nun wankelmütig und überaus anfällig für Leute und Kräfte, die irgendwelche gesellschaftlichen Ersatzmuster zur Hand haben, welche zwar auch weiterhin eine gewisse Sicherheit, Ordnung und Orientierung gewähren, hierbei aber zugleich sowohl der menschlichen Vernunft als auch dem Menschen selbst ideologische Gewalt antun, wobei ein unglaubliches Maß an Menschenverachtung, Grausamkeit und Schrecklichkeit erreicht werden kann und auch bereits erreicht worden ist.

Der Mensch erträgt es offensichtlich nicht gut und leicht, dass ihm sein Über-Ich (wir müssen uns das übersetzen: sein existenzieller fester Halt) genommen wird. Wir sehen hierin aber bestätigt, was wir oben bereits formulierten, dass der Mensch nicht nur einen physischen Halt unter sich benötigt, sondern auch einen seelisch-geistigen Halt in sich. Und so findet sich auch hier wieder ein Betätigungsfeld der Philosophie und Wissenschaft, die solche gesellschaftlichen Schnellverarztungen durch ideologische Rezepte als bloße „Sofortmaßnahmen am Unfallort“ durchschauen können, die bestenfalls einen lokalen Blutfluss zu stoppen, aber keinen gesamtgesellschaftlichen Gesundungs- und Heilungs-Prozess anzustoßen imstande sind.

Es ist uns eine Leerstelle existenziellen Offen- und Unbestimmt seins entstanden, die besser nicht wie ein Leck sofort wieder zu stopfen ist, sondern die zunächst einmal auszuhalten und erst einmal näher in Augenschein zu nehmen ist, um überhaupt gewahr werden zu können, was hier mit dem Menschen eigentlich passierte, und um vielleicht herauszufinden, warum und wozu dies sinnvoll sein könnte (im Falle einer höheren Leitung der Menschheit), auch wenn wir sie spontan „sinnlos“ nennen möchten, aber: Wir wollen hier ja die Methode philosophischer Urteilsverzögerung erproben.

Wo ein Über-Ich ist, ist auch ein Es, und beides sind Ausläufer und zugleich Einschränkungen des menschlichen Ichs. Und wir können fragen, ob die geschichtliche Zurücknahme des Über-Ichs auf der einen Seite nicht auch eine Auflösung des Es auf der anderen Seite ermöglichen könnte, so dass ein neuartiges, bislang unbekanntes und noch unerprobtes „seelisch-geistiges Ich“ resultieren würde? Wer sagt denn, dass der Mensch konstitutiverweise ein Unbewusstes an sich tragen müsse? Etwa „Fachleute“, die selbst noch ein Unbewusstes an sich tragen und feststellen? Dass es traditionell immer so gewesen sei, ist kein Beweis, denn auf diese Weise könnte eine Blume aus sich selbst heraus „beweisen“, dass sie nie zur Blüte kommen darf: Sie treibt Blatt um Blatt, und dann könnte sie sich auf den Standpunkt stellen, etwas Anderes, eine Neuerung komme nicht in Frage, und sie wolle bei ihrer Tradition des bloßen Blättertreibens bleiben, weil diese sich in ihrem Leben bewährt habe.

Das Schwinden des Über-Ichs scheint eine Zeitentwicklung zu sein, auf welche unterschiedlich reagiert werden kann. Dadurch werden Denken und Reflektieren des Menschen sehr stark herausgefordert, und wir sehen, wie das Menschsein nun hier in diese Richtung, dort in jene Richtung gedacht und praktiziert wird. Und alles in allem entsteht nun eine Verworrenheit unglaublichen Ausmaßes, weil die „Stütze im Geiste“ weggefallen ist und nun offenbar durch irgendetwas „Eigenes“ frei ersetzt werden muss, als würde der Mensch – prinzipiell - sich selbst tragen können? Als sei er tragfähig in sich selbst, besitze also… „eigene Schwerkraft“?

Seelisch-geistig gesehen befinden wir uns nämlich in einem freien Fall, der nur nicht als solcher realisiert wird, weil rein physisch gesehen offensichtlich alles beim Alten geblieben ist, indem uns die dünne Erdkruste unter uns nach wie vor vor dem Fallen bewahrt und weil wir in den letzten Jahrhunderten gelernt haben, ganz besonders auf das Sinnlich-Physische zu achten, während möglicherweise eine Zeit kommt oder bereits gekommen ist, in der wir unsere Aufmerksamkeit wieder herumwenden sollen, um unser Seelisch-Inneres, das Geistig-Unsichtbare an uns (wozu bereits das bloße Denken, auch das Empfinden, zu zählen ist) in seiner Beschaffenheit und tieferen Bedeutung näher kennenzulernen?

Dies könnte dann auch eine historische Chance des Menschen und der Menschheit sein, seine und ihre eigene Vernunft zum Tragen kommen zu lassen. „Vernunft“ hier aber nicht als „abstrakte Instanz zur Festlegung sinnvoller Handlungsprinzipien“ verstanden, denn dies wäre wieder nur der äußerlich-dogmatische Weg des Löcherstopfens oder Leckabdichtens, also ein Über-Ich-Ersatz, sondern „Vernunft“ hier als „Fähigkeit zu verstehen“ verstanden, um aus diesem Verstehen heraus dann zu handeln und zu leben.

Es muss also zuerst der Wandel, der in und mit der menschlichen Existenz geschehen ist, verstanden werden. Das Verstehen selbst muss unser allererstes Handeln sein. Vorher ist es sinnlos, die Ärmel hochzukrempeln und die Arme zur Tat ausstrecken zu wollen.

c) Wir müssen unsere Misere „annehmen“, um sie „denken“ zu können

Wir leben heute in einer Hochverworrenheit, in einer großen Komplizierung der Dinge, die uns auch durch unser eigenes Reflexionsvermögen entstanden ist, das immer genauer und noch genauer hinsehen kann und will. Wir drehen und wenden die Dinge, sogar uns selbst, indem wir auf ein „Unbewusstes“ an uns gestoßen sind, das uns nun ernsthaft fragen lässt, ob Philosophie und Wissenschaft überhaupt möglich seien, oder ob der darin behauptete und verfolgte „Wille zur Wahrheit“ ein Selbstbetrug sei, eine tief im Innern verborgen liegende Unaufrichtigkeit unseres eigenen Willens, der „eigentlich“ etwas „anderes“ will, aber es aus irgendeinem Grund nicht zugeben will oder offenlegen kann?

Wie also erkennen wir, ob und wann wir uns selbst klarsehen und ob und wann wir uns selbst nur etwas vormachen? Setzen nicht Philosophie und Wissenschaft ein Herr sein des Menschen über sich selbst voraus, das wir aber – aufgrund der Entdeckung des Unbewussten – nun einmal gar nicht haben oder: noch nicht haben? Wenn wir aber nicht Herr unseres Erkennens und Wissenschaftens sind, wie kommen wir dann überhaupt zu Erkenntnis? Wie? Wodurch? Oder sollten wir in unserer Gottverlassenheit noch fragen können: Durch wen?

Als weiteres Beispiel unseres Reflexions-Verwirrungs-Desasters in der Moderne sei die Religion genannt, der in der Religionskritik der Kampf angesagt wurde, wobei es m.E. aber nicht primär darum geht, Religion zu vernichten, sondern sozusagen einen subjektiven Missbrauch von Religion freizulegen. Nur kam am Ende auch bei der Religionskritik etwas Anderes heraus, als vielleicht ursprünglich beabsichtigt: Religion kann missbraucht werden vom Menschen, um aus der Realität zu flüchten und diese nicht annehmen zu müssen. Nimmt man diesen Missbrauch aber weg - ist dann nicht die Religion selbst gänzlich mitbeseitigt und unmöglich gemacht geworden?

Wir nehmen dieses mögliche „Schlussfolgerungs-Ergebnis“ nicht als bare Münze, ersehen aber aus den genannten provisorischen Anwendungen der Vernunft, wie wir Menschen mit unserem Reflexionsvermögen letztlich auch uns selbst angreifen, antasten, mürbe und krank machen. Das Drehen und Wenden der Dinge fördert Lichtmomente, Wahrheiten zutage, aber zugleich besteht die Gefahr, dass solche Wahrheitsfünkchen, wenn sie absolut gesetzt werden, neue und vielleicht noch größere Irrtümer festzementieren. Dennoch wissen wir anderseits ganz genau, dass wir diesem Entwirrungsverfahren, welches zugleich zu einem schwerwiegenden Verwirrungsverfahren geworden ist, auch ein Stückweit echte Aufklärung zu verdanken haben. Nur haben wir nun das übergroße Problem, diese Wahrheitsstückchen als solche festzuhalten und die damit einhergehenden Unwahrheitsstückchen entweder von vornherein abzuwehren, damit sie sich nicht etwa unbewusst in unser Denken einschleichen, oder zumindest doch wieder aussondern zu können.

Wo ist Wahrheit gefunden? Wo ist Irrtum, wo Lüge, wo Selbstbetrug? Eine Richtschnur haben wir nicht, jeder Einzelne muss den rechten Maßstab in sich selbst finden, wobei er sich freilich die Erfahrungen und Ideen der Anderen zunutze machen kann. Selbst die Bibel ist als Wahrheitsnorm zweifelhaft geworden, so sehr, dass sie heute ohnehin vielfach als „ausgelesen“ angesehen wird oder „uninteressant“ geworden ist, scheint sie doch summarisch betrachtet nur eine alt gewordene Nachricht zu enthalten, eine Nachricht also, die gar keine mehr ist, weil zwischenzeitlich - jedenfalls aus unserer heutigen Sicht - einfach zu viel Zeit verstrichen ist, als sie noch ernst nehmen und für glaubwürdig halten zu können…

Die Bibel erscheint auch deshalb als Richtschnur der Wahrheit unbrauchbar, weil die Bibelstellen verschiedentlich deutbar sind, geradezu beliebig, und so haben gewiss auch der Papst und seine Habemus-Papam-Kirche eine plausible, sinnstiftende, glaubenskonforme Auslegung beispielsweise für Mt. 23,9 finden können:

„Und ihr sollt niemand euren Vater nennen auf Erden; denn einer ist euer Vater: der im Himmel.“

Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart, und Einheitsübersetzung © 2016 der Katholischen Bibelanstalt GmbH, externer Link: https://www.bibleserver.com/LUT.EU/Matth%C3%A4us23, abgerufen am 31.03.2024.

Wir leben in einer Zeit, in der die Reflexion sehr weit fortgeschritten ist, so weit, dass wir uns fragen müssen, ob sie denn nun eigentlich noch eine Kunst oder eher eine Teufelskunst zu nennen sei? Wie weit ist zu drehen, um die Dinge zu entwirren, und wo beginnt das Überdrehen und Wiederverdrehen der Dinge? Gibt es eine rechte Stelle innerhalb des Reflexionsprozesses, an der die Reflexionsrichtung sozusagen wieder umzukehren ist, weil der Angel- und Drehpunkt des Ganzen des Seins gefunden ist?

Ein Beispiel: Als allergrößter Verdrehungskünstler gilt der „Teufel“ selbst, der „Diabolos“...

Etymologisch diaballein - durcheinanderwerfen,vgl. Wikipedia "Teufel", dort "1 Wortherkunft". Dieser Text basiert auf dem Artikel "Teufel" (externer Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Teufel) aus der freien Enzyklopädie "Wikipedia" (externer Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Hauptseite) und steht unter der Lizenz "Creative Commons CC-BY-SA 4.0" (externer Link: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/legalcode.de). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren des Artikels "Teufel" verfügbar, dort unter dem Reiter "Versionsgeschichte". Abrufdatum des Artikels: 20.03.2024.

Siehe auch „diabolisch“ und "Teufel", in: Wolfgang Pfeifer et al., Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, externe Links: https://www.dwds.de/wb/etymwb/diabolisch und https://www.dwds.de/wb/etymwb/Teufel, abgerufen am 19.03.2024. Man könnte auch fragen, ob nicht eine Wortverwandtschaft zwischen "Teufel" (tivel) und "Zweifel" (twivel) bestehe?)

...von dem wir heute wissen, dass es ihn gar nicht gibt. Gesetzt, es gäbe neben Gott (wenn es ihn gibt) auch höhere Widersacherkräfte, einen „Teufel“: Wäre es dann nicht ein genialer Geniestreich, wenn dieser „Genius malignus“ dem aufgeklärten Menschen seine eigene Nichtexistenz inspirierte, um an der menschlichen Vernunft vorbei unbehelligt und ungehindert sein Verwirrungs-, Desorientierungs-, Geist-Verleugnungs-Werk zu tun? – Wo liegt nun in diesem Beispiel die rechte Reflexions-Haltestelle:

a) „Der Widersacher existiert nicht“

oder

b) „Der Widersacher inspiriert seine eigene Nichtexistenz“?

Im Folgenden wollen wir ein Stückweit in diese unsere eigene Reflexions- und Aufklärungs-Misere hineinsehen, durch welche wir uns selbst zugrunde zu richten drohen, und wir müssen versuchen, einen Weg wieder heraus aus unserer gedanklichen Vertiefung und Verstrickung in die Dinge zu finden. Gelingt uns dies nicht, so werden wir ernsthaft fragen müssen, ob nicht ein animal rationale, wenn es erst einmal in die Jahre seines Denkens gekommen ist, notwendig dazu verurteilt sei, in elender reflexiver Selbstzerstörung zu enden, weil es „wahr“ und „falsch“ nicht mehr unterscheiden kann, insbesondere nicht mehr im eigenen Inneren, so dass im „Willen zur Wahrheit“ unweigerlich ein tiefenpsychologisches, heilloses, selbstmörderisches Schachspiel gegen sich selbst entbrannt ist, mit offenem, unkontrollierbarem Ausgang? Muss nicht durch die bloße Denkfähigkeit des Menschen notwendig oder unvermeidlich ein Reflexions-Kampf in und mit sich selbst seinen bitteren Anfang und unerbittlichen Fortgang nehmen, der nur in Selbstzerfleischung enden kann, wenn oder weil kein rettendes, haltendes, die herumwirbelnde reflexive Drehbewegung anhaltendes und damit regulierendes Über-Ich mehr gesetzt ist?

Zunächst ist das „Annehmen“ im doppelten Sinn gemeint, einmal als akzeptierende Kenntnisnahme. Die Anerkennung muss das Erste sein, denn wir könnten uns diese unsere Misslichkeits-Lage ja auch wegleugnen, ignorieren, als bedeutungsloses „Interim“ einstufen und als irrelevant übergehen, als wäre geistesgeschichtlich nichts weiter geschehen, sondern im Großen und Ganzen alles beim Alten geblieben. Dies ist aber nicht der Fall. Eine – religiöse – Devise „Augen zu und durch(halten)“ kann nicht richtig sein, sie käme einem Reflexionsloch oder einer Gedankenaussparung gleich, - einem animal rationale unwürdig und unangemessen -, als wollten oder könnten wir nicht darüber nachdenken und sprechen, was uns neuzeitlich-modern widerfahren sei.

Und deshalb wird das Annehmen im ersten Sinne (eines Sich Eingestehens) als Zweites dann auch die Annahme im Sinne einer Hypothesen- und Theoriebildung nach sich ziehen, weil wir näher wissen wollen, was denn da mit uns eigentlich passiert sei. Wir müssen also versuchen, den eingetretenen Wandel zu denken, die Komplettveränderung der geistigen Konstellation um uns herum - zu verstehen. Wir leben nicht mehr im selben Kosmos, dies ist erstens ein Faktum und sollte uns zweitens zu denken geben. Wir müssen das Anders-geworden-sein denken, sofern wir es erkennen wollen, und dürfen es nicht im Glauben überspielen, übergehen, ignorieren.

Dem alten Sein steht heute ein neues, „modernes“ Dasein gegenüber, das wir im Grundton als ein Uns-verloren-fühlen-im-Kosmos bezeichnen können. Dazu gesellt sich eine allgemeine, gesellschaftliche große Ratlosigkeit, wie mit dieser fundamentalen Lageveränderung umgegangen werden solle. Schweigen und weitermachen wie bisher…? Nein, wir müssen unsere Beklommenheit, Hilflosigkeit und Sprachlosigkeit irgendwie durchbrechen, irgendeinen Anfang nehmen, irgendwo anzusetzen versuchen…

Wir wollen mit einer bloßen Beschreibung des „alten Seins“ beginnen: Die Menschenwelt weiß sich gut und fest eingefügt zwischen Himmel und Erde, umgeben von einer immerwährenden Geistwelt, in der sich die Götter (später: Gott und die Engel) aufhalten. – Nun ist es aber eine Tatsache unserer Geistesgeschichte, dass diese Grundüberzeugungen erschüttert wurden und wir uns in der heutigen Gegenwart demgegenüber in einer „Misere-Situation“ bzgl. des Seins befinden. - Was heißt das nun? Wie sollen wir weitermachen?

Im Grunde genommen müssen wir uns die Moderne als eine „Betriebsstörung der Menschheitsgeschichte“ vergegenwärtigen, denn es war nicht damit zu rechnen, dass wir geschichtlich in eine Zeit der Gottlosigkeit hineingeraten und an der materiellen Peripherie des Universums stranden würden. Der Zeitgeist drängt aber ganz stark in diese Richtung, zuerst unbewusst, und nun zunehmend bewusst.

Wir sind gewissermaßen „geistesgeschichtlich enttäuscht“ worden, und dieser gravierende geschichtliche Enttäuschungs-Moment, in welchem wir immer noch stehen und der alles (d.h. das Ganze des Seins) veränderte, muss angemessen gewürdigt, also reflektiert werden, und hier liegt auch eine Aufgabe der Philosophie.

„Die Philosophie“ - dies ist ein Abstraktum, das konkret besteht als Nachdenken des Menschen über seine eigene Existenz inmitten des Ganzen des Seins, und zwar aus der jeweiligen Zeit und Gegenwart heraus, weshalb dieses im Generationen-Takt ständig fortgeführte Reflektieren wiederum philosophie- und wissenschaftsgeschichtlich eingeholt werden muss, als Reflexion der Reflexion. Und so wird die Philosophie und Wissenschaft einer Zeit immer dadurch gewinnen, dass sie möglichst viele philosophische Ansätze, möglichst viele wissenschaftliche Frager vergangener Zeiten zusammensehen und in sich vereinigen kann, weil nur dadurch die philosophische und wissenschaftliche Denkerfahrung des Menschen potenziert werden kann, so dass sich eine geistige Neuerung ergeben, ein geistiger Durchbruch auftun könnte.

Wird eine solche Konzentration und Bündelung des Wissens einer Zeit nicht vorgenommen, - praktisch haben dies unsere Wissenschaften erst noch zu leisten, sozusagen durch Aufnahme diplomatischer, sich gegenseitig verstehender Beziehungen untereinander -, kann sich auch keine Erneuerung oder Verjüngung menschlicher Existenz ergeben.

Eine solche „Vereinigung“ wird immer nur unzureichend gelingen, zugleich zunehmend schwerer, weil jeder Einzelne seine (auch großen) Lücken hat, die aber durch Schützenhilfe Anderer geschlossen werden könnten. - Dies wäre der günstige und eigentlich hilfreiche Philosophie- und Wissenschafts-Fall: Der Einzelne bringt sich selbst nicht in Gegensatz zu einem solchen gewagten Versuch (eines Anderen), um die eigene Ideenlosigkeit zu übertünchen und sich durch seine Kritik an den Ideen Anderer doch noch selbst profilieren zu können, sondern stützt ihn durch konstruktive Korrekturleistung. - Solche konstruktive Kritik versuche ich selbst jedenfalls im Text, mit Anerkennung und Respekt vor dem geistigen Eigentum Anderer (wenngleich auch nicht unbedingt „wissenschaftlich korrekt“): Der andere Geist wird niemals nur negativ gesichtet, sondern immer auch positiv. Positives ist bei Jedem zu finden (wenn man das will), und wenn wir dieses vielfache Positive zusammentragen, potenzieren wir unsere eigene Erfahrung und gelangen quasi über uns selbst und unseren individuell-persönlichen Gesichtskreis hinaus...

...in ein Allgemeines und Gemeinsames unserer selbst hinein...

Alternativ zu einem solchen „gewagten Versuch in der Gegenwart“ können wir uns als Einzelne weiterhin in der Wissenschaft mit kleinen und gut abgesicherten „Erkenntnis-Beiträgen“ bescheiden und uns damit der Illusion hingeben, der ‚großen Wissenschaft‘ (die in Wahrheit gar keine Existenz hat), für ‚ihre Zukunft‘ geholfen zu haben; sicherheitshalber, um in eigener Person „wissenschaftlich unangreifbar“ und vielleicht auch „gesellschaftlich integer“ bleiben zu können.

…und im Übrigen soll doch die Gesellschaft und Menschheit auf einen Sankt Nimmerleinstag warten, bis sich in unserer hochkomplex gewordenen Zeit ein Irrsinniger finde, der seinen Wissenschaftshals riskieren und sogar noch aus unserem inzwischen gigantisch gewordenen Wissensturmbau heraus den irrwitzigen Versuch eines summarischen Blickes ins Große und Ganze wagen will… „Soll er doch, ich jedenfalls nicht!“...

8. Beruht unsere Isolationssituation auf einer kosmischen Interaktion mit uns?

a) Wir haben zwei kosmische Denkmodelle, wobei unsere Aufzählung falsch ist

Wir haben uns heute zwei Denkmodelle zurechtgelegt, die sich kontradiktorisch gegenüberstehen, so dass man sich offenbar entweder für das eine oder für das andere zu entscheiden hat:

a) Das alte Sein war wahr, und wir sind zunehmend in ein Unwesen unserer selbst hineingeschlittert: Unsere Welt der Moderne ist unwahr geworden.

b) Das neue Sein ist wahr, und geistesgeschichtlich wurde der Schleier der Wirklichkeitsverzauberung und Seinsbeschönigung von uns genommen: Erst unsere Welt der Moderne ist wahr geworden.

Beide Denkrichtungen stehen in einem ideellen oder auch ideologischen Ausschlussverhältnis zueinander, wonach entweder ein

a) theistischer Spiritualismus (Gott- und Geistweltanerkennung im alten Sein)

oder ein

b) atheistischer Materialismus (Gott- und Geistweltaberkennung im neuen Sein)

wahr ist.

Und wir sollten uns ernsthaft fragen, ob wir nicht heute zwischen diesen beiden Weltanschauungen stehen, wie zwischen zwei Stühlen oder Halbwahrheiten, die wir einfach nicht entscheiden wollen, weil wir – verflixt noch mal! – auf beiden Seiten Wahres sehen können!? Es bleibt zu hoffen, dass es uns nicht ergehen wird wie Buridans Esel, der verhungert, weil er sich zwischen zwei Heuhaufen nicht entscheiden kann. Wir sollten uns lieber die beiden Heuhaufen rechtzeitig genauer ansehen, um vielleicht doch noch irgendein Ausschlag gebendes Unterscheidungsmoment zu entdecken, das uns ernsthaft zupacken und uns eine wahrheitsgemäße und verbindliche Bindung im Sein aufnehmen lassen wird, bevor wir – so unverbindlich, teilverantwortlich und halbherzig, wie wir derzeit sind - unsere eigene Lebensgrundlage und damit uns selbst vernichtet haben werden…

Diese Grundfrage nach Materialismus oder Spiritualismus ist hochaktuell, geradezu brisant, aber nur dann, wenn wir uns des Wesens der Philosophie bewusst sind, so dass wir den Zweifel nicht leichtsinnigerweise und vorschnell im Meinen entschärfen und erledigen, als wäre die Wahrheit unerkennbar und als wäre jeder einzelne Mensch a priori berechtigt und dazu berufen, sich zum Schiedsrichter des Seins und der Seinsfrage zu erklären, die da lautet: „Ist das Sein oder das Nichtsein die letzte Wahrheit über uns selbst?“

Solches urteilende Handeln im Meinen erscheint uns aber als normal, denn das Urteilen liegt in der prinzipiellen Kompetenz jedes einzelnen Menschen als eines animal rationale, und weil wir offensichtlich keine Gebrauchsanleitung des Denkens in unser Dasein mitbekommen haben, müssen wir wohl in dieser Hinsicht alle Naturtalente sein, und so muss wohl - aufgrund der zwischenzeitlich gesellschaftlich gesetzten prinzipiellen Gleichheit, Gleichberechtigung und Meinungsfreiheit aller - ein „Wildwuchs des widersprüchlichen Meinens“ nicht nur in Kauf genommen, sondern auch akzeptiert oder gar als richtig befunden werden…? – Dies ist die zweite, staatlich-rechtliche Grundlage des „Meinens“, die weltanschauliche Berechtigung des Meinens wurde uns durch Kants Wissenschafts-Grenzziehung beschert…

Die philosophische Alternative zum Meinen kann über folgende Hypothesensetzung verdeutlicht werden:

„In Wahrheit besteht Grund zum Guten.“

Ist dieser Satz richtig, so müssen wir uns gar nicht mehr länger wunddenken, um endlich auch für die Gottlosigkeit der Moderne eine gute, schlagkräftige Begründung für Sittlichkeit und Moral zu finden. Denn diese „Begründung“ besteht ja bereits, in der „Wahrheit des Seins“, und unsere einzige Aufgabe liegt nur noch darin, diesen Grund als solchen zu erkennen, so dass man sagen kann: Wer die Wahrheit des Seins erkennt, wird das Gute tun, denn das Böse ist ihm dann nicht mehr mög-lich. Für das Gute ist ontologisch (und gleichsam erkenntnistheoretisch) Grund gelegt, das Böse ist darin sinnlos, kann also immer nur einen vorläufigen Pseudosinn haben, der auf irgendeiner Verdrehung der wahren Seinsverhältnisse beruht und der letztlich nicht durchgehalten werden kann.

Bei Lessing ist dies nicht ganz klargelegt. Er spricht von der „Zeit der Vollendung“, in der der Mensch „das Gute tun wird, weil es das Gute ist“ (EdM § 85). Doch wäre es zu seiner Darstellung des Wesens der Vernunft deutlicher gewesen zu formulieren: Der Mensch wird das Gute tun, weil er die Wahrheit des Seins erkannt hat und weil darin das Gute sein Wahrheitsfundament hat. Und dann hätte Lessings Satz lauten müssen: „…das Gute tun wird, weil es das Wahre ist“.

Vielleicht betreten wir mit dieser heute faktisch bestehenden weltanschaulichen Unentschiedenheit auch erst das eigentliche Arbeitsfeld der Philosophie, welches sich ihr erst heute geistesgeschichtlich überhaupt auftut in diesem Entweder – Oder einer Anschauung des Universums, das sich uns in der Moderne ergeben hat, als wäre unsere Geistesgeschichte zielsicher zugesteuert oder hingeführt worden auf diese Fundamentalfrage, diesen großen Zweifel, der nun wie ein Damokles-Schwert über dem Geschick der Menschheit schwebt, als eine mögliche Weggabelung der Menschheitskultur, die nun zugleich individuell und gesellschaftlich entschieden werden müsste? Aber wir zögern und zögern und zögern…

Die Philosophie hat hier aber gar nichts zu entscheiden, lediglich die Alternativen als solche möglichst deutlich aufzuzeigen. Und vielleicht also kann sie jetzt ja endlich unter Beweis stellen, dass sie tatsächlich die Dinge so zu drehen und zu wenden imstande ist (heute, ohne sich im Spekulativen oder vermeintlich Bodenlosen zu verlieren), dass die Wahrheit des Seins sozusagen gar nicht mehr anders kann als – aufgrund ihres (philosophischen) rechtmäßigen Vernunftgebrauchs und des Auffindens der rechten Reflexions-Haltestellen - sich selbst zu ent-scheiden, soll heißen: endlich herauszukommen – wie ein mathematisch-notwendiges Rechnungs-Resultat, das (bei richtigem Rechenweg) schließlich herauskommen muss und sich nicht länger in sich selbst verborgen und versteckt halten kann?

Beginnen wir damit: Ist unsere obige Alternativenaufzählung – atheistischer Materialismus oder theistischer Spiritualismus - überhaupt richtig und vollständig? Ein Drittes gibt es nicht? - Schon die bloße Frage erscheint uns absurd, denn die Ausschließlichkeit dieser beiden Weltbetrachtungen ist doch offensichtlich.

Dennoch kann und muss tiefer gefragt werden, denn die von uns gelisteten Alternativen sind gar nicht zwei, sondern bereits wenigstens drei, was wir nur spontan übersehen, indem wir die beiden Denkmodelle gewissermaßen abstrakt, nämlich nur statisch-räumlich ansehen, hingegen nicht zeitlich-dynamisch, das wäre: unserer faktischen Existenzsituation entsprechend. Berücksichtigen wir nämlich den „Entwicklungsfaktor Zeit“ (was in der Mathematik nicht möglich ist, dazu braucht es die Physik), so resultiert ein drittes Denkmodell:

a) theistischer Spiritualismus (als zeitlos gültig gedacht)

b) atheistischer Materialismus (als zeitlos gültig gedacht)

c) Umwandlung des Spiritualismus in den Materialismus

Diese dritte Alternative ist ja nun genau das, was uns als die „Wahrheit unserer Geschichtsentwicklung“ erscheint, und wir erhalten sie nur dann und dadurch als Denk-Alternative, dass wir berücksichtigen, dass der Mensch ein Geistwesen ist, das sich als solches im Irrtum befinden kann, was wir aber nicht berücksichtigt hatten, sondern übersehen und vergessen, und vielleicht deshalb, weil wir uns – einseitig-wissenschaftlich – nur für das Wahre interessierten, nicht – philosophisch-zweiseitig – auch für das Unwahre, das Falsche, den Irrtum?

Es war also zu einfach (und bloß mathematisch-zeitlos resp. existenz-verleugnend) gedacht zu sagen, rein kosmisch gesehen könne nur entweder der Spiritualismus oder der Materialismus wahr sein. Prinzipiell ist dies zwar richtig, nur lässt man hierbei die menschliche Existenz unberücksichtigt, was „wissenschaftlich korrekt“ sein mag, philosophisch gesehen ist es aber unsinnig und abgrundfalsch, nämlich eine menschliche und menschheitliche Selbstverfehlung, so dass man sagen könnte: Aus Sicht der Philosophie sind Wissenschaft und menschliche Existenz inkompatibel, zumindest derzeit.

Und um diese faktisch geschehene „Umwandlung“ – auf der Geistebene des Menschen - zu verstehen, erinnern wir uns an den Haupt- und Herzgegenstand der Philosophie: die Verkehrung des Seins. Dann kann man c) folgendermaßen formulieren: Der Mensch glaubte sich damals nur in einem Spiritualismus, während er sich heute in der Wahrheit, nämlich in einem kosmischen Materialismus befindet, der ihm damals lediglich mythisch verdeckt gewesen war.

Ist die Aufzählung wenigstens jetzt vollständig? Oder müssen wir nicht – sozusagen der logisch-mathematischen Vollständigkeit oder auch der systematischen Wissenschaftlichkeit halber – die Umwandlungsrichtung auch noch umkehren, so dass theoretisch ein viertes Denkmodell resultierte:

d) Umwandlung des Materialismus in den Spiritualismus?

Dieser Gedanke erscheint aber unsinnig, abstrakt, bloß theoretisch und als eine überflüssige Hypothese. Denn historisch war der Spiritualismus das Erste, abgelöst vom Materialismus, in dem wir uns heute befinden. Ist also d) nicht von vorneherein hinfällig, zwar denkmöglich, aber nun tatsächlich existenz- und wirklichkeitsirrelevant?

Stellen wir die Frage zurück und wenden uns nochmals c) zu, denn darin liegt noch eine gewisse Problematik verborgen, die wir nicht thematisierten, vielmehr übersahen, weil wir sie gewissermaßen stillschweigend oder in einem unbewusst gebliebenen Schlussverfahren erledigten und bereits als gelöst abhakten. Und diese hat schon wieder mit der Irrtumsfähigkeit des Menschen zu tun, so dass wir schon wieder den Fehler gemacht haben, die Geistsphäre des Menschen bei unserer Wirklichkeitsbetrachtung nicht mit zu bedenken, sondern einfach zu vergessen.

c) ist nämlich nicht eindeutig, wie es auf den ersten Blick erscheint, sondern zweideutig, kann also unterschiedlich bewertet werden:

c1) Umwandlung des Spiritualismus in den Materialismus als Entwicklung von falsch zu wahr

c2) Umwandlung des Spiritualismus in den Materialismus als Entwicklung von wahr zu falsch

Hier sind nun wieder jene beiden Denkrichtungen abgebildet, die wir oben als grundsätzliche Alternativen bereits genannt hatten. c1) entspricht der Sichtweise des Ungläubigen resp. Materialisten (atheistischer Materialismus), c2) der Sichtweise des Gläubigen resp. Spiritualisten (theistischer Spiritualismus).

Nun ist c1) eine Sichtweise, die man als eine vollgültige Weltanschauung betrachten und einnehmen kann, selbst wenn wir sie oben eine „allzu einfache Geschichtsdialektik“ nannten, und wir können auch beobachten, wie sie sich schleichend in der Gegenwart mehr und mehr durchsetzt: Der Materialismus scheint sich dem Spiritualismus gegenüber geistesgeschichtlich als wahr erwiesen zu haben.

Dasselbe gilt nun aber nicht auch für c2), denn wenn der Spiritualismus die wahre und eigentliche Weltsicht sein sollte, so kann unmöglich der Materialismus resp. das Falsche als ein Letztes bestehen bleiben. Folglich kann c2) – systemimmanent – nur als eine Halbwahrheit oder Teilformel angesehen werden, die noch ihrer Ergänzung bedarf, damit auch hier eine vollgültige Weltanschauung entstehe.

Und damit können wir auf das vierte Denkmodell zurückkommen, welches nun nämlich als diese Ergänzung und zweite Halbwahrheit betrachtet werden kann, so dass d) – jetzt erst vollständig – folgendermaßen abgeleitet und dargestellt werden kann:

c2)                                Spiritualismus -> Materialismus

+

d-Teilformel)                                            Materialismus  -> Spiritualismus

=

d)                                 Spiritualismus -> Materialismus  -> Spiritualismus

In Worte gefasst: Der Spiritualismus war bereits das Wahre, und mit dem Materialismus haben wir uns erst ins Unwahre hineinentwickelt, so dass etwa Platons Vision vom „Menschen in der Sinnlichkeits-Höhle“ eigentlich erst heute Realität geworden ist und folglich auch heute erst ein zu gehender Weg des Philosophen zurück zur Geistigkeit der Welt resp. zur Geistwelt plausibel, sinnvoll, notwendig wird.

Dies hätte dann zur – logischen - Folge, dass der Materialismus als eine Halbwahrheit einzustufen wäre, als ein bloßes zweites Moment innerhalb eines …geschichtsdialektischen Dreischrittes?

Wir wollen jetzt einmal - ganz forsch - unseren modernen, aktuellen Materialismus „spiritualistisch systemkonform“ zu Ende oder niederdenken - so wie ja auch der alte Spiritualismus schnell und leicht niedergedacht wurde, indem unsere Vorfahren sich nicht mehr wehren können gegen ein heute „materialistisch siegreiches“ Denken, das durch sein bloßes Später-gekommen-sein mit „Kraft und Stärke“ protzen kann; den Materialismus also versuchsweise wieder „zurückdenken“, um ihn in (s)einer möglichen Untiefe zu ermessen.

Obendrein erdreisten wir uns noch, dies „Experimentalphilosophie“ zu nennen. Denn mir ist nicht bekannt, die Naturwissenschaften oder der Materialismus hätten ein Ausschließlichkeitsrecht darauf, unsere Wirklichkeit auszuprobieren. Wenn wir heute allerdings gar nicht mehr auf die Idee kommen, an die Wirklichkeit nicht nur materialistisch herantreten zu können, sondern – eventuell – auch spiritualistisch, geistig, kommunikativ, dann zeigt mir das, dass unser Denken dem Materialismus bereits verfallen ist, der dann nämlich keine „mögliche Weltanschauung“ mehr ist, sondern bereits ein „geheimes Urteil unserer Vernunft“, die sich selbst hierbei als Realitätsfaktum vorgaukelt, was in Wahrheit nur ihre eigene Hypothese ist, die sie aber als solche nicht sehen kann oder nicht sehen will. - Hier zeigt sich anschaulich und handgreiflich das Wesen der Philosophie: Ein Wissen in Frage stellen zu können, das – jenseits der philosophischen Betrachtung – nicht in Frage gestellt wird und auch nicht werden kann, weil es als Wissen gesetzt ist.

Also: Der Materialismus ist ein sphärenmusikalischer Trugschluss, der irrtümlich für einen echten Schluss gehalten wird, weil ihm die – die Geistesgeschichte (Achtung: Ge-schichte des menschlichen Geistes) eigentlich abschließende - Picardische Terz entgehen muss, weil sie nur auf höherer, geistig-unsichtbarer Ebene erklingen wird – analog dem (spirituellen) Wort der Offenbarung:

„Und sie sangen ein neues Lied vor dem Thron und vor den vier Lebewesen und vor den Ältesten. Aber niemand konnte das Lied lernen außer den hundertvierundvierzigtausend, die von der Erde weg freigekauft sind.“ (Offb. 14,3)

Einheitsübersetzung © 2016 der Katholischen Bibelanstalt GmbH, und Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart, externer Link: https://www.bibleserver.com/EU.LUT/Offenbarung14, abgerufen am 24.06.2024.

Erst durch die Picardische Terz wird aus dem Moll der gegenwärtigen Menschheitsgeschichte ein Dur der zukünftigen Menschheitsgeschichte. Nur kann sie der unmusikalische Atheist nicht hören, weil er sich auf das Sichtbare versteift hat und daher das Unsichtbare (wie auch schon sein eigenes Denken resp. seine Eigenbewegung im Geiste) übersieht. Und daher versteht er nichts von der „Ohrentwicklung“, die die Offenbarung des Johannes für ihr eigenes Gelesen-werden-können schon voraussetzt:

„Wer Ohren hat, der höre.“ (Offb. 2,7 und mehrfach, auch bei den Synoptikern zu finden)

Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart, und Einheitsübersetzung © 2016 der Katholischen Bibelanstalt GmbH, externer Link: https://www.bibleserver.com/LUT.EU/Offenbarung2, abgerufen am 31.03.2024.

Ergebnis unseres „Experimentes“: Der Materialismus wird sich in die Unendlichkeit und Zeitlosigkeit hinein zu Tode laufen, indem er in einer vergeblichen, sinnlosen „Gegenwart“, in einem sinnlich-kosmischen „Warten auf Nichts und Niemanden“ mündet.

Ein solches „Resultat“ ergäbe sich, wenn man – versuchsweise – die Bibel als potenzielle höhere Wirklichkeits-Quelle betrachtete und dann - experimentell - in ihre potenzielle Wirklichkeits-Höhe hinaufzudenken versuchte, mit der Konsequenz, dass unser gegenwärtiges materialistisches Wirklichkeitsempfinden gleichsam in sich selbst aufgehoben werden müsste, wie dazumal das geozentrische Weltbild.

Dieses Textbeispiel dieses Textunterabschnittes ist freilich noch kein richtiges „Experiment“ zu nennen, ist nur die Andeutung einer Versuchsanordnung. Jedoch dieser Gesamttext hier enthält immer wieder Bibelzitate, um zu demonstrieren, dass die Bibel in dieser Weise tatsächlich experimentell gelesen werden kann.

b) Zur methodischen Erinnerung

Es scheint, als wäre die Philosophie eine unglaubliche Spinnerei, die schier unendlich weitergesponnen werden kann…

In diesem Text ist nicht vorausgesetzt, es gebe einen dem Menschen überlegenen Geist. Hingegen haben wir vorausgesetzt, diese Frage zunächst einmal – philosophisch - offen und unentschieden zu lassen. Das ist unbequem, weil in zweierlei Richtungen gedacht werden muss, anstatt nur in einer. Jeder, der sich eine Meinung über das Leben und Sein gebildet hat, hat es einfacher: Er muss nur noch seinem eigenen Denk-Schluss nachgehen und kann „den Rest ignorieren“, hierbei vorausgesetzt, die Wahrheit sei unerkennbar und müsse daher in subjektiven Urteilen entschieden werden.

Ist es nicht auch eine allgemeine Grundüberzeugung und gute Konvention, der Mensch müsse oder solle sich eine eigene Meinung bilden? Es ist zwar gewiss richtig, dass der Mensch als denkendes Wesen auch ein eigenes Urteil haben solle, philosophisch gesehen ist es aber noch richtiger, dieses eigene Urteil zunächst zurückzuhalten, soll heißen: zu verzögern.

Vielleicht müssen daher Philosophen als „lebenspraktisch untauglich“ eingestuft werden, denn bei lebenspraktisch anstehenden Fragen müssten sie konsequenterweise antworten: „Ich bin mir noch nicht schlüssig.“ Und gehörte nun die Philosophie gar zum guten Gesellschaftston, indem alle sich so verhielten, so würde die Gesellschaft in kürzester Zeit zugrunde gehen, weil sie sich selbst handlungsunfähig gemacht hätte.

Insbesondere von Politikern erwartet man eine ausgesprochene Handlungsentschlossenheit, und würden sie ihr Handeln „philosophisch verzögern“, so würde ihnen dies als Fehler und Schwäche ausgelegt werden. Entsprechend scheinen Parteitage im Grunde doch nur einen einzigen Gegenstand zu haben, wenn auch vielleicht nur unbewusst und uneingestanden: „Mit welchem Programm bleiben wir in der Regierung resp. kommen wieder dorthin? Welches ist das richtige Mittel (Programm) zum Zweck (Regierung)?“ Die Parteiangehörigen selbst mögen dagegen protestieren, weil sie die Kausalität gerade anders herum gesehen haben möchten: Die Regierung ist das rechtmäßige Mittel zum Zwecke der richtigen (resp. eigenen) Programm-Durchsetzung.

Vermutlich gibt es keine einzige Regierungsopposition, die nicht genau weiß, „was Sache ist“, denn wenn sie zögerlich wäre, wäre sie ja in der Nichtregierung genau am rechten Platz, um Anderen, Entschlosseneren resp. Fähigeren das Handlungsfeld zu überlassen. Das eigene Nichtwissen und Unentschlossen sein kommt erst im Regierungsfall zum Vorschein, und dann ist da schon wieder eine andere Regierungsopposition, die nun, nachdem sie nicht mehr regiert, ganz genau weiß, was Sache ist. - Würden wir diese unsere Sehnsucht nach politischer Entschlossenheit (Stichwort: gesellschaftlicher Über-Ich-Ersatz?) in rationale Worte fassen, kämen unmögliche Sätze wie dieser heraus: „Politiker sollen nicht denken, sondern handeln.“

Hermann Hesse formuliert:

„Die Praxis sollte das Ergebnis des Nachdenkens sein, nicht umgekehrt.“

(Lektüre für Minuten, hrsg. Volker Michels, suhrkamp taschenbuch 7, 16. Auflage, Frankfurt am Main 1980, S. 63, Nr. 153)

Ein nettes, schönes, aphoristisch geschliffenes Dichterwort, nur: Die Praxis kann nicht warten, denn sie ist das Leben selbst. Die Lebenspraxis ist das Erste, dann erst kommt das Nachdenken. In der Lebenspraxis ist selbstverständlich auch schon ein Denken enthalten, so dass das Denken beides zusammen ist: ein erstes oder Vordenken und ein zweites oder Nachdenken, dann ein drittes, viertes Reflektieren usw.

Und entsprechend müssen wir nun auch die Philosophie ins Leben einordnen. Das Leben kennt eine erste oder vorläufige Praxis, und es muss auch eine solche haben, denn mit der Lebenspraxis konnte noch niemals gewartet werden, bis die menschliche Reflexion (Philosophie und Wissenschaft) sie dereinst in der Theorie eingeholt haben wird. So werden Erfahrungen gesammelt, und das reflexive Nachdenken hat den Sinn und Zweck, die Lebenspraxis zu verbessern, richtiger zu machen, wahrheitsgemäßer auszurichten. Insofern scheint es unverzichtbar oder dringend geboten, dass sich die Lebenspraxis (Politik) von der Lebensbetrachtung (Wissenschaft und Philosophie) beraten lasse.

Lebenspraktische Entscheidungen müssen getroffen werden und mussten dies auch schon immer, sogar von Philosophen. Und so hat Sokrates wohl für sich selbst die Entscheidung getroffen, seine Bildhauerei etwas schleifen zu lassen und lieber mit anderen zusammen über das Leben nachzudenken, was von außen betrachtet wie bloßes „Plaudern“ aussieht, so dass Sokrates sich unvermeidlich den Zorn und Unmut seiner Xantippe zuziehen musste und von ihr ganz zu Recht als Faulpelz und Nichtsnutz gesehen wurde, was er dann „stoisch ertrug“, oder besser: halt in Kauf nahm.

Sofern es also Alternativwege im Denken gibt, von welchen nicht ohne Weiteres gesagt werden kann, welcher richtig und welcher falsch ist, müssen auch alle Alternativwege im Auge behalten und durchdacht werden, sofern man sich nicht mit einer „Lebenspraxis aufs Geratewohl“ zufriedengeben, sondern möglichst „kosmisch sicher gehen“ will. Die allgemeine Lebenserfahrung geht aber davon aus, ein kosmisches Sichergehen werde es für den Menschen niemals geben, weil das menschliche Erkennen das Ganze des Seins nun einmal nicht vollständig durchdringen könne (wie übrigens auch die kritische Philosophie selbst beweist: Kant. Oder etwa nicht?). Es ist eine plausible Überzeugung, die dann freilich zu einem „Meinen“ führt, weshalb sie philosophisch gesehen unzureichend ist. Sie enthält auch schon eine Hypothese, eine (Negativ-)Setzung über das menschliche Erkennen, mag sein, aus einer ziemlich weit reichenden Erfahrung des Menschen mit sich selbst heraus, weil die Philosophie seit Jahrtausenden zu keinem Ziel und Ende kommt, so dass es um das menschliche Erkenntnisvermögen offensichtlich nicht sehr gut bestellt sein kann.

Erfahrung ist aber eine zweischneidige Sache, sie macht einerseits „routiniert“, anderseits macht sie „erfahrungsresistent“, immun, unempfänglich für neue und andersartige, erfahrungsabweichende Eindrücke. Und falls die bisherige Erfahrung noch unvollständig gewesen sein sollte (was man erst wissen kann, wenn man ein Erfahrungsganzes vollständig durchlaufen hat), so läuft man Gefahr, sich in dieser Unvollständigkeit zu verschließen, und die „große, weit reichende Lebenserfahrung“ wird letztlich doch zu einem „großen, fatalen Lebensirrtum“. – Nehmen wir nochmals den Pflanzenvergleich: Nach jedem neu getriebenen Blatt könnte die Blume sich sagen: „Aber jetzt bin ich fertig“, und jedes Mal kann sie hierbei auf ein Mehr an Erfahrung zurückgreifen, und dennoch… Mir scheint, wir selbst verhalten uns genauso in dieser unserer „modernen Aufgeklärtheit“, so, als seien wir „schon fertig“, obwohl wir uns noch in einem „Aber jetzt“-Stadium befinden…

Analog kann man die Kant‘sche Grenzziehung skeptisch betrachten: Zum einen fußt seine „apriorische“ Auslotung der menschlichen Vernunft auf aposteriorischen Überlegungen, die über zweitausend Jahre Denkerfahrung umfassen, zum andern birgt diese „Grenzziehung“, der wir prinzipiell zu folgen bereit sind, die Gefahr in sich, als irdischer Erfahrungs-Abwehrschild des Kosmischen benutzt zu werden.

Was, wenn die Geistigkeit des Menschen nicht dauerhaft, nicht prinzipiell so isoliert und undurchlässig wäre, wie sie vorübergehend erscheint? Sollte dann nicht besser die apriorische Grenzziehung aposteriorisch wieder aufgelöst werden, weil sie der Neu- und Anders-Erfahrung nicht mehr entspräche?

Was, wenn der Weg des Menschen in die Geistigkeit der Welt hinein vorgesehen wäre? So dass es gar nicht primär unser Problem wäre, in die Geistwelt hineinzukommen, sondern die Geistwelt selbst zuvor schon das Problem gehabt hätte, sozusagen zu uns herunter- oder herauszukommen bzw. in unser sinnlich-physisches Heraussein (aus dem ontologischen Rahmen) wieder durch- und hinein zu dringen? Was, wenn jene „Gesellschaft von Geistwesen“, nun ja, sagen wir: wenn jene hypothetisch angenommene „außerirdische Lebensform“ sogar versucht hätte, Kontakt mit uns aufzunehmen, über irgendeinen Kanal, über irgendeine Art von Kommunikation, beispielweise „Evangelium“ genannt, „Gute Nachricht“, um den wesentlichen Inhalt bereits schlagwortartig auf kürzestem Wege kenntlich zu machen für uns, sozusagen als Signal oder Fanfare für uns bzgl. einer anstehenden Rückkehr und ordentlichen Wiedereingliederung in die Geistwelt, die wir vielleicht in dunkler, geschichtlich umnachteter Urvergangenheit nur außerordentlich verlassen hatten, wovon wir nur nichts (mehr) wissen, weil unser Gegenwartsbewusstsein, unsere Geistesgegenwärtigkeit damals noch nicht ausreichte, rechtzeitig eine Art menschheitliches Erfahrungs- und Erinnerungs-Archiv in und für uns selbst bewusst und sorgfältig anzulegen, so dass uns unser eigenes Anders-geworden-Sein durch uns selbst authentisch und überprüfbar überliefert wäre, was nun aber leider nicht der Fall ist? Nun haben wir leider nur ein „kollektives Unbewusstes“, mit dem man doch nicht wirklich etwas anfangen kann?

Freilich müssten wir uns eine solche etwaige „Botschaft“ in unsere menschliche und zeitbezogene Sprache erst einmal wieder herunter- oder herausübersetzen, um sie so verstehen zu können, wie sie gemeint ist. Und womöglich dauert es bis zum echten Verstehen auch genau solange, wie unser Gehen-lernen-im-Geiste faktisch noch dauern wird (falls wir es doch noch nicht erlernt haben sollten), so dass uns - gleichsam als Himmels-Wink mit dem Denk-Zaunpfahl – extra noch dazugesagt werden muss, das Hören der Botschaft werde noch nicht genügen, sondern sie müsse auch verstanden werden…

„Der aber auf das gute Land gesät ist, das ist, der das Wort hört und versteht und dann auch Frucht bringt; und der eine trägt hundertfach, der andere sechzigfach, der dritte dreißigfach.“ (Mt. 13,23; Herv. v. Verf., vgl. V. 19; vgl. Mk. 4,20; Lk. 8,15)

Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart, und Einheitsübersetzung © 2016 der Katholischen Bibelanstalt GmbH, externer Link: https://www.bibleserver.com/LUT.EU/Matth%C3%A4us13, abgerufen am 31.03.2024.

… ein Zusatz, der uns moderne Aufgeklärte, Leseerfahrene und Denkroutinierte ärgerlich stimmen und sagen lassen könnte: „Was soll denn dieser… Zusatz – wir sind doch nicht… begriffsstutzig!?“ Da wir aber gar nicht mehr hinhören auf diese Botschaft und Nachricht, die keine mehr ist, kann uns die biblische Unterstellung unseres Begriffsstutzig seins auch nicht mehr treffen (wenngleich… vielleicht trotzdem… betreffen?)…

Nehmen wir als Anschauungsbeispiel die Schlagermusik. Jeder Schlager enthält eine eigene, „seine Textaussage“ – und doch: Diese rationale Textaussage wird in die (beabsichtigte) seelisch-musikalische Stimmungs-Aussage hinein aufgehoben: „Alles wird gut.“ Die Textaussage (Sprache) verschwindet in die Stimmung (Empfindung) hinein, wird dadurch als Textaussage gar nicht mehr wahrgenommen, denn egal welcher Text – die Aussage ist doch immer dieselbe.

Genau darauf scheinen mir zahlreiche Bibelstellen hinzuzielen: „Nehmt unsere „Gute Nachricht“ nicht einfach als pauschale „Alles wird gut“-Aussage!“ - Und vielleicht sollte man einmal alle Warnungen listen, die die Bibel enthält. Immer wieder sagt sie uns: „Bitte, bitte, bitte – Seid achtsam! Vorsichtig! Bedacht! Wir wollen euch nicht einlullen! Hört bitte auf die Worte und Aussagen als solche hin, die bloße Aufnahme der „guten Stimmung“ allein genügt noch nicht!“

Und man könnte sich nun die Frage stellen, ob die Kirchen vielleicht deshalb zunehmend leerer werden, weil die Menschen die in der Predigt vermittelte „Alles wird gut“-Stimmung satthaben, sie ist eine ungenügende Vermittlung des Evangeliums, das nämlich als Evangelium verstanden werden muss und wohl auch verstanden werden will, aber nicht verstanden werden kann, weil offensichtlich schon diejenigen, die es vermitteln sollen, es selbst nicht recht verstehen. Dies wiederum ist nicht einfach den Pfarrern und Pastorinnen anzulasten, denn dieses Verstehen der Guten Nachricht hat sich erst geistesgeschichtlich zu ereignen, und dazu bedarf es des Wirkens des Geistes in der Zeit, wenn oder weil die Eigenkräfte der menschlichen Vernunft nicht ausreichen, das Richtige zu finden.

Wenn aber dieses Bewusstsein und Grundverständnis der Zukünftigkeit des Verstehens unter uns nicht vorhanden ist, dann wird kein Seelsorger wagen zuzugeben, er verstehe das Evangelium selbst (noch) nicht. Und dann muss er ein Verstehen vorgeben oder vorgaukeln, das er gar nicht hat; und aufgrund der Aufklärung, die wir durchlaufen haben, ist nun das Schafsein der Schafherde doch nicht mehr so groß, dass sie nicht bemerken würde, dass das Evangelium schlecht und unzureichend vermittelt wird, sprich: in der Lebenswirklichkeit keinen rechten Sinn ergibt. Und die Quittung für diese falsche Kommunikation ist das Fernbleiben vom Gottesdienst, zuletzt der Kirchenaustritt, weil das Leben in der Moderne in der Vermittlung des Glaubens nicht mehr abgebildet ist, so dass ein Fremdgewordenes als ein im Hier und jetzt Weiterhelfendes genommen werden soll, aber nicht mehr genommen werden kann.

Warum also meinen wir, es käme auf unser Können und Erkenntnisvermögen an, so dass eine Auslotung des Menschenvermögens sozusagen als Menschheits-Grundsatzprogramm (das Kant für uns erledigte) notwendig sei? Fußt nicht diese bloße Überlegung schon auf der (deistischen bis atheistischen) Aufklärungs-Voraussetzung, die menschliche Vernunft sei im Universum alleine gelassen?

Aber was heißt das schon - „alleine gelassen“? Selbst dann ist es nicht zwangsläufig ein absolutes Verwaist sein des Menschen in seiner Vernunft, sondern es könnte sich auch um ein bloß relatives Isoliert sein handeln. Wenn unsere Kinder gehen lernen sollen, dann müssen wir bereit sein, kurzzeitig ihre Hand loszulassen, und wenn sie nicht loslassen wollen, vielleicht aus Angst vor der anstehenden Beweglichkeit und Freiheit, dann müssen wir unsere Hand sogar abziehen von ihnen, ihnen also scheinbar Böses oder Schlechtes antun, wohlwissend, dass das für das Gehen erforderliche physische Gleichgewicht gar nicht anders zu erlangen ist, als durch Benutzung der eigenen Füße.

Und wenn nun unser kosmisches Alleinegelassen sein auch nichts anderes wäre, als die bloße Voraussetzung dafür, dass wir ein „kosmisches, inneres Gleichgewicht“ gewinnen können, ein spirituelles Stehen- und Gehen-Können finden, durch Benutzung unseres eigenen Geistes (der „Tragfähigkeit“ in sich besitzt wie die Füße unserer Kinder), weil der Mensch, auf lange oder ewige Sicht gesehen, ohne Über- und Unter-Ich auskommen solle, wie es einem „normal entwickelten Geistwesen“ womöglich geziemt? Wovon wir Erdenmenschen aber nichts (mehr) wissen, weil wir alle „unnormal“ entwickelt sind, so dass uns die rechte Selbst(er)kenntnis fehlt, zumindest seit dem Sündenfall, nach Aussage des Evangeliums?

Im Verlaufe dieser Textlektüre haben wir jedenfalls schon wiederholt sehen können, dass wir bislang noch nicht einmal ein durchgängiges Bewusstsein unserer Geistseins haben, sondern dass wir es beim Denken resp. bei unseren intellektuellen Gehversuchen immer wieder vergessen, sozusagen auf Schritt und Tritt, vielleicht, weil die Übermacht der sinnlichen Eindrücke eine allzu große ist?

Wenn die Welt aber eine geistige Grundlage und Substanz haben sollte, dann wird der kosmische Geist ganz gewiss auch die Mittel und Wege kennen, wie er zu uns geistigen Laien und Denk-Kindern durchdringen kann - sofern er das will, analog dem Bibelwort:

„Wen ich liebe, den weise ich zurecht und nehme ihn in Zucht. Mach also Ernst und kehr um!“ (Offb. 3,19)

Einheitsübersetzung © 2016 der Katholischen Bibelanstalt GmbH und Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart, externer Link: https://www.bibleserver.com/EU.LUT/Offenbarung3, abgerufen am 31.03.2024.

Und wir könnten dagegen nicht einmal einwenden, diese Argumentation sei obsolet, indem zwischenzeitlich, seit „Denkbeginn“ schon 2500 Jahre und mehr, seit dem „Evangelium“ schon 2000 Jahre verstrichen seien. Denn wir haben keinen Erfahrungswert darüber, wie lange es dauert, im Geiste gehen zu lernen. Dazu müssten wir es erst einmal erfolgreich erlernt haben, um die Wegstrecke als solche – rückblickend - überblicken zu können.

Wir müssen auch davon ausgehen, dass der biblischen Verwendung von Termini wie „kurz“ (Joh. 16,16ff.) oder „nahe“ (Mk. 1,15) eine Geschichtsperspektive unbekannt großen Ausmaßes zugrunde liegt, so dass wir ihren Aussagen erst oder nur dann werden folgen können, wenn wir unsere Perspektivik ihrer angepasst haben, während wir im umgekehrten Fall die Bibel – und damit unsere eigene Wirklichkeit - notwendig verzeichnen werden.

Es bleibt dabei: Die Existenz uns überlegener Geistwesen ist im Text nicht vorausgesetzt, sie ist lediglich - durch Verzicht auf ein einseitiges, erkenntnistheoretisch unzulässiges "Meinen" - nicht ausgeschlossen worden.

In der Lebenspraxis sind Entscheidung und Festlegung unverzichtbar, in der Philosophie ist das anders. Insofern könnte man Philosophen auch „Lebensfeiglinge“ nennen, weil sie das „Wagnis des Lebensirrtums“ partout nicht eingehen wollen. Konsequenterweise muss ihre eigene Lebenspraxis etwas Vorläufiges haben und behalten, damit ihnen – im Erkenntnisfall – eine Lebenswegkorrektur möglich bleibe, so dass eine mögliche anfängliche existenzielle Fehl-Positionierung ihrer selbst nicht zu einer unumkehrbaren Stellungs-Fehlerkette für sie werden muss (wir erinnern uns an den Schachspiel-Vergleich).

Es klingt etwas abstrus, dürfte die Sache aber richtig treffen: Philosophen müssen Wanderer des Lebens sein, Nomaden des Geistes, sie dürfen nicht sesshaft werden, weil sie ansonsten sich selbst und ihr Anliegen verlieren. Würden sie sesshaft werden, könnten sie zwar in ihrer Gegenwart als „taugliches Mitglied der Gesellschaft“ angesehen und anerkannt werden, aber „die Philosophie“ ginge ihnen darüber womöglich verloren. - Ob eine solche Angst in Heraklits bloßer theoria-Selbstpositionierung wohl mitschwang: ins Werden selber lieber nicht mit einzugehen, um sich dabei nicht – eventuell - selbst zu verlieren?

c) Kann eine Verkehrung des Seins spiritualistisch gesehen Sinn machen?

Diese methodische Zwischenüberlegung hatte nicht den Sinn und Zweck, von den Denkschwierigkeiten eines Spiritualismus abzulenken. Zuletzt wurde ja der Materialismus kritisiert und als mögliche Halbwahrheit dargestellt, während ebenso gut der Spiritualismus hätte kritisiert werden können, denn: Was soll denn – bitteschön – der Sinn und Zweck einer materialistischen Verkehrung des Seins sein? Wozu sollte es gut sein, den Menschen zuerst aus der Wahrheit heraus zu führen, um ihn später dann wieder zur Wahrheit zurück zu führen? Wenn der Spiritualismus wahr sein sollte: Warum bleibt er denn dann nicht einfach konstant und verlässlich, durchgängig bestehen? Warum also eine solche geistesgeschichtliche Gängelung, ein solches Spielen mit dem Menschen und seiner Vernunft, oder gar Erniedrigung und Entwürdigung des schlicht aufrichtig und anständig denken und sein wollenden Menschen, als wären wir selbst Objekt eines höheren, kosmischen Experimentes mit uns, z.B. eines „Geist-Werdungs-Experimentes“?

Damit aus dieser scheinbaren Irrsinnsidee (einer materialistischen Verkehrung des Seins) ein vernünftiger, plausibler Gedanke werden kann, bedarf es nun wohl einer sehr guten Begründung.

Und als Grundlage meiner Argumentation soll mir die Bibel dienen, die heute als ausgelesen und überholt gilt, so dass meine Wahl nicht besonders gut getroffen zu sein scheint. Allerdings ist meine Wahlentscheidung - zwischenzeitlich - „zweiwertig“ zu nennen, je nachdem, welches Geschichtsmodell zugrunde gelegt wird. Legen wir das Denkmodell c1) zugrunde, dann kann meine Wahl als „schlecht“ bezeichnet werden, weil die Bibel darin als ausgelesen gilt: Der Materialist hat die Bibel durchschaut, und der Spiritualismus ist ad acta gelegt:

Denkmodell c1) Umwandlung des Spiritualismus in den Materialismus als Entwicklung von falsch zu wahr

Alternativ könnte für die Bibel aber auch beispielsweise ein Aphorismus Lichtenbergs gelten:

„Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?“

Externer Link zum Text: Georg Christoph Lichtenberg, Aphorismen (Sudelbücher D: 1773-1775), Schnellsuche: Scrollen bis 2/3 der Website, Projekt Gutenberg-DE - https://www.projekt-gutenberg.org/lichtenb/aphorism/chap004.html, abgerufen am 25.03.2024

Oder, etwas konstruktiver formuliert, könnte gelten: „Wie man in den Bibel-Wald hineinruft…“

Legen wir das Denkmodell d) zugrunde und verorten nun die subjektive Einschätzung des Ausgelesen seins der Bibel in der geschichtlich vorübergehenden Phase des Materialismus, also im „sphärenmusikalischen Trugschluss“, so erhalten die Bibel und meine Argumentation ein neues, anderes Aussehen, und wir müssen vielmehr damit rechnen, die Bibel sei nur scheinbar schon ausgelesen:

Denkmodell d) Spiritualismus -> Materialismus -> Spiritualismus

Ich ziehe hier nochmals den Aufklärer Lessing heran, der 1780 Folgendes über die Bibel und den Menschen in seiner Entwicklung formuliert und behauptet:

„Und was noch itzt höchst wichtig ist: – Hüte dich, du fähigeres Individuum, der du an dem letzten Blatte dieses Elementarbuches stampfest und glühest, hüte dich, es deine schwächere Mitschüler merken zu lassen, was du witterst, oder schon zu sehn beginnest.

Bis sie dir nach sind, diese schwächere Mitschüler; – kehre lieber noch einmal selbst in dieses Elementarbuch zurück, und untersuche, ob das, was du nur für Wendungen der Methode, für Lückenbüßer der Didaktik hältst, auch wohl nicht etwas Mehrers ist.“

Externer Link zum Text: G.E. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, §68f, Projekt Gutenberg-DE - https://www.projekt-gutenberg.org/lessing/erziehng/erziehn2.html, abgerufen am 20.03.2024

Lessing betrachtet also den Gedanken des Überholt seins der Bibel bereits in seiner Zeit, inmitten der Aufklärung, als verfrüht und unangemessen, und zugleich deutet er an, dass diejenigen, die einen weitergehenden Geist in der Bibel vermuten, diesen ihr dann auch entnehmen und in sich aufnehmen werden können, und so werden sie mit ‚biblischer Erziehungshilfe‘, wir könnten auch sagen: durch die biblische Denk-Gebrauchsanleitung, die Anderen geistig überholen und ihnen voraus sein können.

Sie legen dadurch auch ein anderes Entwicklungstempo des Geistes an den Tag, im Vergleich zu den Anderen, die nur die Natur oder ihr Naturtalent-sein als Hilfsmittel für ihr Denken und Forschen haben, weshalb sie auf das zufällige Geratewohl ihres Eigendenkens angewiesen bleiben:

„Das Kind der Erziehung fängt mit langsamen aber sichern Schritten an; es holt manches glücklicher organisierte Kind der Natur spät ein; aber es holt es doch ein, und ist alsdann nie wieder von ihm einzuholen.“ (§ 21 EdM)

Externer Link zum Text: G.E. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, §21, Projekt Gutenberg-DE - https://www.projekt-gutenberg.org/lessing/erziehng/erziehn2.html, abgerufen am 20.03.2024

***

Die von mir gewählte Bibelstelle findet sich im zweiten Thessalonicher-Brief, der unter Theologen als „pseudopaulinisch“ gilt, wobei offengelassen sei, ob damit nur gesagt ist, der Brief sei nicht von Paulus, oder ob damit gesagt wird, er sei weniger wert als ein echter Paulusbrief. Ich will eine Äußerung nicht daran messen, von wem sie stammt, sondern daran, was sie inhaltlich besagt, denn dies ist ja ihr Geist. Alternativ könnten wir uns auch in den Kunsthandel begeben: „Dieses Werk ist nicht von Paulus, nicht vom Meister selbst – es ist gewiss als weniger wertvoll einzustufen…“

Einschub: Die "reformatorische Erkenntnis" der Philosophie

Die Schlüssel-Stelle ist folgende: 2 Thess. 2,10f

Als Übersetzung lege ich hier zugrunde die Einheitsübersetzung von 1980, weil sie mir präziser zu formulieren scheint als die anderen, und zwar gerade auch durch ihr Abweichen vom griechischen Wortlaut, ganz offensichtlich in der Absicht, den Sinn des Wortlautes möglichst klar herauszustellen, was ihr m.E. überragend gelungen ist.

Es seien für 2 Thess. 2,10f nebeneinandergestellt: Einheitsübersetzung von 1980, Novum Testamentum Graece (NA28), Einheitsübersetzung 2016, Lutherbibel 2017.

"...sie gehen verloren, weil sie sich der Liebe zur Wahrheit verschlossen haben, durch die sie gerettet werden sollten. Darum lässt Gott sie der Macht des Irrtums verfallen, sodass sie der Lüge glauben..." (Einheitsübersetzung von 1980, Herv. v. Verf.)

Einheitsübersetzung von 1980, online zugänglich über die Universität Innsbruck, externer Link: https://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/bibel/2thess2.html, abgerufen am 26.06.2024. Ich zitiere die Einheitsübersetzung von 1980 online mit freundlicher Genehmigung der Katholischen Bibelanstalt GmbH. - Hinweis: Die Universität Innsbruck hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass sich in den nächsten Jahren die URL ändern wird. Sofern ich die Änderung nicht zeitgerecht nachvollziehe, dürfte der Bibeltext durch Internetsuche leicht auffindbar sein über Schlagworte: Einheitsübersetzung - Uni Innsbruck - Theologischer Leseraum - Quelltext.

ἀνθ’ ὧν τὴν ἀγάπην τῆς ἀληθείας οὐκ ἐδέξαντο εἰς τὸ σωθῆναι αὐτούς. 11καὶ διὰ τοῦτο πέμπει αὐτοῖς ὁ θεὸς ἐνέργειαν πλάνης εἰς τὸ πιστεῦσαι αὐτοὺς τῷ ψεύδει (Novum Testamentum Graece, NA28)

Griechische Textgrundlage: Nestle-Aland, Novum Testamentum Graece, 28., revidierte Auflage, hg. v. Barbara und Kurt Aland, Johannes Karavidopoulos, Carlo M. Martini und Bruce M. Metzger in Zusammenarbeit mit dem Institut für Neutestamentliche Textforschung, Münster, © 2012 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart - externer Link: https://www.die-bibel.de/bibel/NA28/2TH.2, abgerufen am 27.06.2024.

"...denn sie haben sich der Liebe zur Wahrheit verschlossen, durch die sie gerettet werden sollten. Darum lässt Gott sie der Macht des Irrtums verfallen, sodass sie der Lüge glauben..." (Einheitsübersetzung 2016)

"Denn sie haben die Liebe zur Wahrheit nicht angenommen, dass sie gerettet würden. Und darum sendet ihnen Gott die Macht der Verführung, dass sie der Lüge glauben,..." (Lutherbibel 2017)

Einheitsübersetzung © 2016 der Katholischen Bibelanstalt GmbH, und Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart, externer Link: https://www.bibleserver.com/EU.LUT/2.Thessalonicher2, abgerufen am 26.06.2024.

a) Das Schwergewicht dieser Bibelstelle: Betonung der Bedeutung der menschlichen Vernunft

Mein Hauptaugenmerk liegt auf der ersten Zitathälfte, das ist der zweite Halbvers 10 - oben von mir hervorgehoben in der Einheitsübersetzung von 1980.

Der zentrale Terminus ist die "Liebe zur Wahrheit", der in allen Übersetzungen erscheint und einfach wörtlich dem griechischen Text entspricht (τὴν ἀγάπην τῆς ἀληθείας). Besonderheit ist, dass er hier kombiniert ist mit dem Terminus "Rettung", der grundlegend für den christlichen Glauben ist. Diese Verbindung scheint mir überaus bemerkenswert. Es hätte ja auch sinngemäß formuliert sein können: "Der Glaube an das Evangelium soll den Menschen retten." Aber nein, hier wird gesagt: "Die Liebe zur Wahrheit soll den Menschen retten."

Allerdings wird diese "Wahrheit" im Vers 12 biblisch-evangelisch spezifiziert: "die der Wahrheit nicht glaubten" (Lutherübersetzung, auch im Folgenden). Und diesem spezifischen Wahrheitsbegriff, der sich auf die gefallene Existenzsituation des Menschen bezieht, dem ein Evangelium entgegenkommt, korrespondiert ein spezifischer Ungerechtigkeitsbegriff, den wir im ersten Halbvers 10 finden und wieder in 12:

10: mit jeglicher Verführung zur Ungerechtigkeit

12: (die der Wahrheit nicht glaubten, sondern) Lust hatten an der Ungerechtigkeit.

Der Terminus "Ungerechtigkeit" (ἀδικίᾳ = Gerecht-losigkeit) irritiert hier zunächst. Man kann diese Irritation dadurch zum Verschwinden bringen, dass man sie auch wiederum vom spezifischen, höheren Wahrheitsbegriff her betrachtet. Und danach muss diese "Ungerechtigkeit" im Zusammenhang mit der Rechtfertigungslehre gesehen werden, aus der wir uns den biblisch-evangelischen Satz bilden können: "Es ist gerecht, dass der gefallene Mensch höhere Hilfe erhält." Und wenn wir nun in unsere eigene Gegenwart blicken, so sehen wir, dass Atheismus und Materialismus um sich greifen. Was passiert in ihnen? Der biblisch-evangelische Wahrheits- und Gerechtigkeits-Begriff verschwindet, so dass nur noch ein "natürlicher" oder "blanker" Wahrheits- und Gerechtigkeits-Begriff übrig bleibt. Und dieser jetzt verweltlichte, somit sinnentleerte (oder auch sinnverzerrte) Gerechtigkeitsbegriff setzt nun irdische Rechts- und Richtigkeits-Verhältnisse fest, die im biblisch-evangelischen Verständnis als "Ungerechtigkeit" erscheinen müssen: Die höhere Hilfsbedürftigkeit des Menschen ist getilgt, und irdisch wird auf ein "blankes Rechtsverständnis" gebaut, als befände sich der Mensch gar nicht in (s)einer Gefallenheits-Situation: Die Welt kennt keine Sündensituation des Menschen, und so kennt sie auch nicht die himmlisch einspringende "höhere Gerechtigkeit", und so kennt sie nur eine - himmlisch gesehen - "gefallene Gerechtigkeit" (die sie nicht als gefallen erkennt, sondern für natürlich hält), die sich vom Himmel aus gesehen dann objektiv als "Ungerechtigkeit" ausnimmt.

Wir sehen, wie die Bibel eine "begriffliche Gratwanderung" vornehmen muss: Der irdisch-"natürliche" Gerechtigkeits-Begriff nimmt sich vom Himmel aus beurteilt als Ungerechtigkeits-Begriff aus, und sie bleibt sich selbst treu, indem sie ihre höhere Warte nicht verlässt, sondern dann auch tatsächlich unseren Gerechtigkeits-Begriff "Ungerechtigkeit" nennt. Denn aus ihrer Sicht befindet sich der Mensch in einer Verkehrungs-Situation, und sie ist gewillt - dem Evangelium entsprechend -, diese Verkehrungs-Situation als solche zur Sprache zu bringen, damit der Mensch die Möglichkeit erhalte, in die (eigentlich natürliche) Unverkehrung zurückzukehren.

Für uns Christen im Irdischen heißt das aber dann umgekehrt, dass wir in die biblischen Aussagen nicht ohne weiteres "unsere irdische Begrifflichkeit" hineinmischen dürfen, indem wir die biblisch-himmlische Aussage über die "Ungerechtigkeit" etwa so verstehen wollten, als spräche der Himmel hier über unser irdisches Verständnis von "Ungerechtigkeit". Das tut er nämlich nicht.

Und aus dieser Betrachtung des höheren, biblisch-evangelischen Gerechtigkeits- und Wahrheits-Begriffes könnte mir nun theologisch eingewendet werden, dass mein "Schlüssel-Satz" doch gar keine außerordentlich bedeutungsvolle Aussage mache? Denn die "Liebe zur Wahrheit" ist ja dann biblisch gesehen als "Liebe zur höheren Wahrheit des Evangeliums" zu sehen, und damit ist dann - höher-deutungsimmanent - gar nichts Besonderes oder spezifisch Bemerkenswertes an dem zweiten Halbvers 2 Thess. 2,10!?

Nun kommt aber mein Punkt:

Man kann die Bibel nicht nur aus dem Glauben heraus lesen, sondern auch aus dem Unglauben heraus. - Und wir sind in unserem Leben gewohnt, zwischen der Glaubensperspektive und unserer Wirklichkeitsperspektive hin- und herzuspringen - Beispiel: Wenn ein irdisches Gericht feststellt, ein Mensch habe aus bestimmten Gründen Schuld auf sich geladen, so kommen Theologen nicht auf die Idee einzuwenden, der Rechtsspruch (der Welt) sei evangelisch-biblisch gesehen unzutreffend, also falsch, indem die grundsätzliche Sünder-Situation des Menschen (zugleich die Rechtfertigungs-Situation des Glaubens) hierbei keinerlei Berücksichtigung finde, so dass man - das spricht ja lieber niemand wirklich aus - diese Rechtsprechung als "gott- und glaubenslos" bezeichnen müsste usw. Nein, wir haben uns daran gewöhnt, dass irdisch andere Begrifflichkeiten zum Tragen kommen (müssen) als himmlische. Wir springen also faktisch hin und her zwischen zweierlei Begrifflichkeiten, den irdisch-unzulänglichen bzw. vorläufigen, die im Hier und Jetzt für uns Relevanz haben, und den himmlisch-zulänglichen bzw. letztgültigen.

Die Bibel aber springt nicht hin und her! Und deshalb nennt sie "unser Rechtswesen" - in ihrer Eigenterminologie verbleibend - "Ungerechtigkeit". Und in der Folge davon werden wir von uns selbst sagen müssen, dass wir das Christentum irgendwie gar nicht konsequent praktizieren, weil wir ja hin- und herspringen, anders als die Bibel, indem wir das Bedürfnis haben, unserer Welt (die schließlich zu uns gehört) entgegenzukommen, die Bibel nicht!? Wir fahren "zweigleisig", die Bibel nicht, so dass sie - konsequentermaßen - unsere Christlichkeit "Halbchristlichkeit" nennen müsste (Wir werden diese Vermutung später, in der Offenbarung des Johannes, bestätigt finden, in der näheren Betrachtung von Offb. 3).

Nun meine Punkt-Erläuterung:

Ich selbst habe, aus meiner Lebenssituation heraus, die Bibel zunächst einmal zwar nicht "ungläubig" gelesen, eher "glaubenslos", gewissermaßen neutral. Denn als Jugendlicher glitt ich (vom römischen Katholismus her) in den Atheismus oder die Glaubenslosigkeit hinein, indem mir die Vernunftgrundlage und Plausibilität des Glaubens dahinschwand. Und so begann ich als junger Erwachsener, mich für die Philosophie zu interessieren, übersetzt: für das auf sich selbst gestellte Denken des Menschen (über Gott und die Welt), das geistesgeschichtlich gesehen in der Zeit der Aufklärung seinen Anfang nahm und welches seither als "vernunftgesetzt" gilt. Und mit diesem Hintergrund ging ich dann auf die Bibel zu, und sie begegnete mir zuerst in der Form der Einheitsübersetzung von 1980.

Und im Durchlesen und Durchstöbern der Bibel stieß ich dann auch auf 2 Thess. 2,10, und ich hörte hierbei den ("philosophischen") Satz heraus: "Die Liebe zur Wahrheit wird den Menschen retten." Dieser Satz zog mich in seinen Bann, absorbierte meine volle Aufmerksamkeit, und es erschien mir, als steche dieser eine Satz aus dem ganzen Neuen Testament heraus, denn ich dachte: "Hoppla, was ist denn das!? Warum weicht die Bibel denn hier von ihrer sonstigen Thematisierung des Glaubens ab?" Der Satz nimmt sich - innerbiblisch gesehen - wie ein Fremdkörper aus, als sei ein nicht zur Bibel gehöriger Satz in sie hineingeschmuggelt worden. Warum weicht die Bibel hier von ihrer sonstigen Lehre, der Glaube sei das Rettende, ab?

Und es war für mich ein Gefühl höchster Freude, indem ich mich - aus der Welt und Weltlichkeit herkommend - von ihr hier angesprochen sah! Ich hatte mich aus dem Glauben zurückgezogen, hinein in ein schlichtes, eigenständiges, philosophisches Wahrheitssuchen, und deshalb stachen mir in diesem und dem Folgevers zwei Termini in die Augen, die - biblisch gesehen - fachfremd waren und rein philosophische Termini waren. Der Terminus "Liebe zur Wahrheit" hat eine angestammte philosophische Bedeutung, die älter ist als das Evangelium und als die Bibel - immer betrachtet innerhalb das Irdischen, vom Maß unserer Wirklichkeit her, auf welche das Evangelium ja schließlich von außen zukam. Die Philosophie, sagen wir beginnend bei den altgriechischen Vorsokratikern, war explizit eine "Liebe zur Weisheit", aber vor dem Hintergrund, dass damals und ursprünglich noch eine (ontologische) "Weisheits-Sphäre" (Geist-Sphäre, Geist-Welt) als real angenommen war, und diese "Liebe zur Weisheit" wurde dann ziemlich rasch zu einer (die Wissenschaften auf ihren Weg bringenden) "Liebe zur Wahrheit", die ihre ganze Energie in das Streben nach Erkenntnis, also Streben zur Wahrheit verlegt hat. Und der zweite Terminus ist "Irrtum", der auch ein spezifisch philosophischer ist, denn dies ist ja das Ziel der (sokratisch-platonisch aufgefassten) Philosophie, aus dem (Höhlen-)Irrtum und Herumirren im Irdischen endlich herauszukommen, zurück zum Licht der "Wahrheit des Geistes".

Und es war für mich ein phantastisches Erlebnis, wie mir, dem auf seiner Wahrheitssuche in der und durch die Welt nun halt auch die Bibel vor die Füße oder in die Hände gefallen war, wie mir aus dieser Bibel heraus gleichsam der Satz entgegenkam: "Du tust gut daran, die Wahrheit zu lieben und nach ihr zu suchen, denn eben dadurch wirst du gerettet werden." Und so kam ich in eine Übersetzungs-Schlusskette hinein, die darauf hinauslief, dass die Bibel die Aussage enthielt: Das Suchen der Philosophie ist himmlisch gerechtfertigt, und zwar so sehr, dass die Bibel zugleich ihr Finden gewährleistet! Also: Die Philosophie (Vernunfterkenntnis) führt den Menschen schnurstracks in die Rettung, und die vom Menschen eigeninitiativ gestartete philosophische Suche nach der Wahrheit hat eine ontologisch-objektive Grundlage im Sein, in welcher die Zielerreichung bereits vorgesehen ist!

Biographisch kann ich es nicht mehr nachvollziehen, aber es kann sein, dass ebendieser Bibelsatz mich zum Glauben zurückführte, indem ich an ihm die Vernunftgrundlage der Bibel (und des Glaubens) erkannte, und aus dem Unbewussten heraus ergab sich so ein "theologischer Handlungsgrundsatz": "Folge den verschlungenen Vernunftpfaden der Bibel. Sie sind da. Suche sie, und du wirst sie finden - und offenlegen können."

Nun meine Punkt-Erklärung:

Wenn die Bibel diesen ihren Satz ernst meint, dann muss sich der Mensch ja gar nicht grundsätzlich in der Glaubensebene bewegen, um Rettung erlangen zu können, sondern es genügt vollauf, wenn er sich (richtig) in seiner (gefallenen) Vernunftebene bewegt? Dann kann aber der Glaube selbst nicht ein Erstes und Ursprüngliches sein, und ein Ansetzen in der Vernunft ist als viel ursprünglicher anzusehen. Und so wurde mir die Vernunft, das Verstehenwollen des Menschen und sein Streben nach Erkenntnis zum Dreh- und Angelpunkt des Ganzen des Seins: Die Vernunft hat eine ontologische, schöpfungskonstitutive Bedeutung und Aufgabe, und auch ein entsprechendes Vermögen, und diese Stellung hat sie auch als Dreh- und Angelpunkt der Bibel inne.

Und dieser Dreh- und Angelpunkt zeigt sich darin, dass die biblische Aussage "Die Liebe zur Wahrheit wird den Menschen retten" einen Kreuzungspunkt darstellt, den Schnittpunkt zwischen irdischer Weltlichkeit ("Fleischlichkeit") und biblisch-evangelischer Geistigkeit ("Geistlichkeit") - erkennbar daran, dass es der vielleicht einzige Satz in der Bibel ist, wo himmlische und irdische Begrifflichkeit sich nicht ins Gegenteilige verkehren müssen, um in sich selbst gewahrt zu bleiben, wie etwa beim irdischen Gerechtigkeits-Begriff, der als himmlischer Ungerechtigkeits-Begriff erscheint.

Das Evangelium ist vom Himmel her auf die Erde heruntergekommen, die höhere oder Heils-Begrifflichkeit des Himmels ist auf unsere niedere oder Unheils-Begrifflichkeit im Irdischen zugekommen - eine Bewegung von oben nach unten. Und was bedeutet dann der Bibel-Satz "Die Liebe zur Wahrheit wird den Menschen retten"? Er bedeutet, dass auch umgekehrt eine Bewegung von unten nach oben möglich ist, und zwar aus reiner Vernunftentfaltung heraus, indem der Mensch hartnäckig und ausdauernd sich in der Liebe zur Wahrheit betätigt und sich in eine solche Geistesgrundhaltung einübt und hineinbegibt...

Allerdings muss man hierbei die grundsätzliche, prinzipielle, schöpfungskonstitutive Funktionsweise der menschlichen Vernunft berücksichtigen: Dem irdischen Streben nach Erkenntnis kann/wird ein himmlisches Gewähren von Erkenntnis entgegenkommen, und zwar genau dann, wenn irdisch die rechte Geistesgrundhaltung gegeben ist. Diese kann der Mensch aus sich selbst heraus hervorbringen, indem er Erkenntnis haben will und sich selbst also für den Erkenntnis-Empfang bereit macht. Und der entscheidende Punkt ist, dass der weltliche/irdische Philosoph (und Wissenschaftler) diese höhere Funktionsweise der Vernunft (eines himmlischen Gebens und irdischen Nehmens) gar nicht zu kennen braucht. Das einzige, was er tun und wissen muss, ist, dass er die rechte Geistesgrundhaltung in sich ausbilde, und diese benennt die Bibel als die "Liebe zur Wahrheit". Die weltliche Liebe zum Erkennen ist keine andere Liebe als die höhere Liebe zur höheren Wahrheit (des Glaubens ans Evangelium), sie hat nur eine andere Form oder Ausrichtung oder ist - im Glauben - schon auf eine höhere Inhaltsebene gelangt, basierend aber auf ein und derselben "rechten Geistesgrundhaltung". Die Philosophie ist grundsätzlich einmal orientierungslos, daher "suchend", der christliche Glaube (= die christliche Theologie) ist nicht mehr orientierungslos, sondern "gefunden habend", und daher muss es aus dem Glauben heraus möglich sein, nicht nur das Geistige und die Geistverhältnisse im Sein richtig zu erkennen, sondern auch das Andere, das Weltliche und das noch Orientierungslose. Die Philosophie muss christlich-theologisch gemessen und ermessen werden können. - Das Umgekehrte trifft nicht zu: Hier bildet sich die Welt und Wissenschaft ihr Ermessen-können nur ein, weil ihr der höhere Beurteilungsmaßstab fehlt, der nur im Glauben sichtbar ist.

Und sehen wir es nicht schon in ihren griechischen Anfängen, wenn ein Platon auf die Idee kommt, der Mensch befände sich in einer Höhle, also in einer Verkehrungs-Situation und müsse (philosophisch) zusehen, dort wieder herauszufinden?

Das christlich-theologische Pendant zu dieser ("philosophischen") Thessalonikerbrief-Stelle finden wir in Joh. 4,23f, wo uns gesagt wird, die Religiosität des Menschen müsse eine andere werden, nämlich eine "im Geist und in der Wahrheit". Es ist die genaue Umkehrung, denn die philosophische Liebe zur Wahrheit kann auch nicht einfach sich selbst gleichbleiben, sondern muss und wird sich verwandeln, indem sie lernt, die Glaubenswahrheit anzuerkennen als eine ihr selbst in ihrer Vernunftfähigkeit "vorweggenommene Wahrheit", die die philosophische, suchende, irrende Vernunft aus sich selbst heraus niemals finden könnte. - Noch klarer formuliert: Joh. 4 sagt uns: Die (christliche) Theologie kann in ihrer "Geistesgrundhaltung glaubenden Höherwissens" nicht verbleiben, sondern muss sich umwandeln und kristallisieren in echtes Höherwissen, das die Wahrheit präsent, vor Augen und unmittelbar zugänglich hat. 2 Thess. 2 sagt uns:  Die (weltlich irrende und suchende) Philosophie, die ursprünglich und selbstdefinitorisch "Liebe zum verlorenen Weisheits-Horizont der Welt" ist, kann in ihrer "Geistesgrundhaltung suchenden Abgetrenntseins vom Weisheits-Horizont" nicht verbleiben, sondern muss erkennen, dass sich in der Evangeliumsverkündigung dieser Weisheits-Horizont selbst ins Irdische niederbeugt und dem die Wahrheit suchenden Menschen eine Hand zur Rückkehr zum Höherwissen entgegenstreckt, die er nun nur noch ergreifen und dem biblischen Lehrpfad der Wahrheit folgen muss, um selbst in diesen Weisheits-Horizont wieder mitaufgenommen werden zu können - jenen Weisheits-Horizont, nach welchem ihm seit Philosophiebeginn verlangte und von welchem er - fälschlich-aufklärerisch - annahm, er müsse ihn vollständig aus eigener Kraft und ohne fremde Hilfe finden. "Nein", sagt der Glaube zur philosophischen Vernunft, "das musst du gar nicht. Aber du kennst ja nicht die wahre, höhere Funktionsweise dieser deiner Vernunft, die du nicht selbst gemacht hast, sondern die dir übereignet wurde und die du daher - im Vernunftgebrauch - erst einmal ordentlich und höherwertig kennenlernen musst. Und dafür gebe ich dir die biblische Denk-Gebrauchsanleitung an die Hand, die dir die Funktionsweise der menschlichen Vernunft über das Wirken des Geistes erklärt. Sie zeigt dir, wie du sein musst, damit der Geist in dir (und deiner Welt) Fuß fassen kann, womit - gleichursprünglich - du im Geist (und seiner Welt) Fuß fassen wirst."

Zusammenfassend: Die Erkenntnisfähigkeit des Menschen ist der Dreh- und Angelpunkt des Seins, selbst wenn der Mensch in ein Außerhalb des eigentlichen Seins gefallen sein sollte (wie im Atheismus und Materialismus), und in 2 Thess. 2,10 wird auch der gläubige Mensch darauf gestoßen, so dass er nicht gut daran tut, die menschliche Vernunft in ihrer Bedeutung zurückzusetzen oder gar zu verwerfen.

b) Begriffs-Parallelen im näheren Kontext

Ich setze hier nur kleine Lichtpunkte, weil die Bibelexegese meine Sache und Profession nicht ist, und der Schwerpunkt meiner selbst anders gelagert.

- Liebe zur Wahrheit (10 τὴν ἀγάπην τῆς ἀληθείας) - Lust an der Ungerechtigkeit (12 εὐδοκήσαντες τῇ ἀδικίᾳ)
- der Wahrheit nicht glauben (12 μὴ πιστεύσαντες τῇ ἀληθείᾳ) -  der Lüge glauben (11 πιστεῦσαι αὐτοὺς τῷ ψεύδει)
- das Wirken des Satans (9 ἐνέργειαν τοῦ σατανᾶ) - der Macht des Irrtums verfallen (11 πέμπει αὐτοῖς ... ἐνέργειαν πλάνης) - das Geheimnis des Frevels (7 μυστήριον ... ἐνεργεῖται τῆς ἀνομίας)
- lügenhafte Zeichen und Wunder (9 σημείοις καὶ τέρασιν ψεύδους) - dass sie der Lüge glauben (11 πιστεῦσαι αὐτοὺς τῷ ψεύδει)
- ἀνομία (7 Un-/Ohn-Gesetzlichkeit) - ὁ ἄνομος (8 der Un-/Ohn-Gesetzliche) - ἀπάτῃ (10 Un-/Ohn-Wahrnehmbarkeit = Täuschung) - ἀδικία (10 Un-/Ohn-Gerechtigkeit)

Die Perikope 2 Thess. 2,1-12 vermittelt insgesamt ein infernales Feuerwerk des In-die-Irre-Geführtwerdens, zusammengefasst im Begriff der "Macht des Irrtums" (11 ἐνέργειαν πλάνης), wobei πλάνης für umherirrend oder herumirrend steht und wir einmal den alttestamentlichen Turmbau zu Babel assoziieren können, wo Gott die Menschen über die Erde zerstreute, um sie von ihrem Vorhaben, sich zu bündeln und sich einen Namen zu machen, (erfolgreich) abzubringen. "Umherirren" und "zerstreut sein" scheinen mir sinnverwandt. Zum andern können wir auch das (philosophische) Herumgehen des Sokrates (unter den Menschen), um die kosmische Weisheit wiederzufinden, assoziieren, wobei wir nun aber unterscheiden müssen: Das Umherirren (und auch Zerstreut werden) hat keine (menschliche) Methode, das sokratische Herumgehen aber sehr wohl. Und wir können uns daraus ein Prinzip ableiten: Der Mensch kann sich möglicherweise mit einem methodisch-systematischen "Herumgehen" (oder auch: die Dinge durchgehen) vom Umherirren (oder auch ontologischen Herumgeschubst- und Durcheinandergebrachtwerden von höheren bösen Kräften) befreien.

Der Terminus ἐνέργειαν πλάνης ist noch dadurch zusätzlich biblisch charakterisiert, dass diese Macht oder Kraft zwar vom Satan kommt (Vers 9), dass in Vers 11 aber ausdrücklich ausgesagt wird, Gott lasse diese Macht zu und hindere sie nicht. Damit ist den Bibellesern oder Christen zu verstehen gegeben, dass Gott nicht etwa machtlos gegen diese Gegenmacht sei, sondern dass er sie - nun - ganz bewusst zulässt. Im Hintergrund steht freilich das Evangelium, das den Menschen eine "himmlische Gerechtigkeit" kundtun will, und dieses Evangelium hat seinen Zeit- und Wirkungs-Rahmen, um vor den herumirrenden Menschen die "höhere Gesetzlichkeit" und "höhere Gerechtigkeit" und "höhere Wahrnehmbarkeit" (der Dinge) zu etablieren. Die Un-/Ohn-Begrifflichkeit als solche verwendet die Bibel deshalb, weil ihr Augenmerk auf dem Gegenteil liegt, das aber offensichtlich - zumindest beim Gros der Menschen - nicht gekommen bzw. nicht angemessen erfasst worden sein wird.

Bemerkenswert für uns freilich ist, dass unsere Geistesgeschichte im vorab bereits "abgeschätzt" und "ermessen" ist. Freilich war mit der "Entscheidung zum Evangelium" bereits himmlisch klar geworden, dass der Mensch aus seinen Verstrickungen von selbst nicht wieder herauskommen würde. Nun aber sagt uns das NT, dass dies auch trotz des Evangeliums der Fall sein werde (bei einem Großteil der Menschen).

Dass die Zeit ein kritischer Faktor ist, sehen wir an Wendungen wie [ich benutze wieder die Lutherbibel]:

- 6: was ihn noch aufhält, bis er offenbart wird zu seiner Zeit
- 7: ist bereits wirksam
- 7: nur muss der, der es jetzt aufhält, erst hinweggetan werden
- 8: und dann wird ... offenbart werden
- 8: wird ihm ein Ende machen durch seine Erscheinung, wenn er kommt
- 9: wird kommen durch das Wirken des Satans
- 10: die verloren werden
- 12: auf dass sie gerichtet werden.

Wir können daraus entnehmen, dass das Evangelium einen Zeitrahmen hat (als sei der in die Sünde gefallenen Menschheit eine Galgenfrist zur Umkehr gesetzt), der, sobald er erfüllt ist, zu einem Anders-Handeln Gottes führen wird.

Insgesamt kann man einen Polarisierungs-Bau des Textes erkennen. Und dann kann man sich fragen, ob nicht die Wendung "μυστήριον ... τῆς ἀνομίας" (7 Geheimnis der Ohn-Gesetzlichkeit) gegen diese Struktur verstößt, weil ihr ein Gegenpol fehlt? Dann kann man zunächst weiterfragen, was mit dieser Wendung denn überhaupt gemeint sei? Und mir scheint, wenn man vom Zeitpunkt der Abfassung des Textes geistes- bzw. heilsgeschichtlich voranschreitet, bis in unsere Gegenwart herein, so finden wir dieses "Geheimnis", welches zuerst lange zurückgehalten wird, um zu "seiner (= unserer) Zeit" offenbar zu werden: Es ist damit der Atheismus und Materialismus unserer eigenen Gegenwart bezeichnet, der sich dadurch auszeichnet, dass der Mensch darin richtungs- und orientierungslos im Sein dahintreibt, indem die wahre "Gesetzlichkeit" (der Geistigkeit der Welt) in die Un-Sichtbarkeit verschwunden ist. Der Atheist und Materialist ist der biblische "Mensch der Gesetz-losigkeit". Und wenn wir jetzt die Frage des Geheim-seins aufwerfen, so ist die Heimlichkeit der Gesetz-losigkeit in unserer Zeit offenbar geworden. Damit ist der eine Pol im Text kenntlich gemacht. Was ist mit dem / einem anderen Pol?

Die Heimlichkeit des anderen Pols ist dadurch charakterisiert, dass er gar nicht ausdrücklich angesprochen wird. Insofern ist der Pol als solcher geheimgehalten, und es handelt sich um die Schlüsselstelle der Perikope - um meinen eigenen Textschwerpunkt: Die Liebe zur Wahrheit wird den Menschen retten (10).

Und dann zeigt sich Folgendes: Der erste Geheimnis-Pol (7) ist als solcher ausgesprochen, aber nur formal gekennzeichnet durch die Wendung "Geheimnis der Ohn-Gesetzlichkeit", die solange unverstanden bleiben muss, bis sie zu ihrer Zeit offenbar werden wird, so dass endlich erkannt werden kann, was mit ihr denn eigentlich gemeint sei: Atheismus und Materialismus (die einer spiritualistischen = biblischen Weltauffassung diametral entgegenstehen). Der zweite Geheimnis-Pol (10) ist als solcher nicht ausgesprochen, also gewissermaßen verheimlicht, aber er ist - im Gegenzug - inhaltlich gekennzeichnet in seiner Wirkungsweise, wenn man die schöpfungskonstitutive Funktionsweise der menschlichen Vernunft, wonach die Wirksamkeit des Beistands-Geistes zu berücksichtigen ist, in Betracht zieht.

Man kann damit sagen: Vers 10 bezeichnet in der "Liebe zur Wahrheit" das geheime Schlupfloch, den Ausweg aus der Sackgassenhaftigkeit oder Aussichtslosigkeit des atheistisch-materialistisch gewordenen Menschen der Moderne, der hilflos festsitzt in seiner  Ohn-Gesetzlichkeit, Ohn-Gerechtigkeit, Ohn-Wahrnehmbarkeit. - Diese seine eigene Ohn-Wahrnehmbarkeit bleibt ihm selbst geheim, obwohl sie dem "wachsamen" Christen, der die Bibel geistes- und heilsgeschichtlich zunehmend besser lesen kann, offenbar und evident (werden) wird.

Dem "Geheimnis der Ohn-Gesetzlichkeit" entspricht damit ein anderes "Geheimnis", nämlich das "Geheimnis der höheren Gesetzlichkeit" und damit das "Geheimnis des Evangeliums" (vgl. das öfters begegnende Diebes-Bild, in welchem uns der Eindruck des Verstohlenen und Geheimen vermittelt wird). Der Text kann dies aber gar nicht "Geheimnis" nennen, denn die Geheimnishaftigkeit liegt ja auf der Seite der (ohn-gesetzlichen) Welt, die Bibel aber wendet sich ja gerade an die Christen, und indem sie das "Geheimnis" inhaltlich benennt ('Ihr müsst die Liebe zur Wahrheit pflegen - dann habt ihr gewonnenens Spiel'), sagt sie den Christen (und Bibellesern) damit gleichsam: "Ihr erfahrt durch mich höhere (kosmische) Geheimnisse, und achtet auf das, was ich sage. Wenn ihr es mit eurer Wirklichkeit und Geschichte vergleicht, so werdet ihr sehen können, dass der Lauf der Dinge auch ein solcher sein wird. Ihr werdet eingeweiht in höhere Geheimnisse der Wirklichkeit, den Andern widerfährt schlicht die Wirkung im Irdischen, und sie wissen nicht, wie ihnen geschieht - ihr schon, indem ihr mich lest und meine Worte ernst nehmt." ...wobei man noch ergänzen könnte: "...meine Worte ernst nehmt als Worte, die höher sind als eure derzeitige Vernunft, die meine Höhe, mein Vernunft-Niveau noch nicht erreicht hat."

c) Meine Bevorzugung der Einheitsübersetzung von 1980

Das griechische (οὐκ) ἐδέξαντο (Grundform: δέχομαι) übersetzt die Lutherbibel wörtlich mit "nicht angenommen". "Annehmen" hat grundsätzlich den Sinn von "bereitwillig entgegennehmen", und Menschen sollen beispielsweise das Evangelium annehmen (und somit Christen werden). Dieses "annehmen" im Sinne von "empfangen" passt aber hier nicht, denn die "Liebe zur Wahrheit" kann nicht ebenso "empfangen" werden wie das mitgeteilte, kommunizierte Evangelium. Das "annehmen" meint hier "die rechte Geistesgrundhaltung annehmen", also "in sich hervorbringen", "einüben", "ausbilden". Eine Liebe soll ausgebildet werden, also ein intensives Wollen. Und was soll gewollt werden? Natürlich auch die höhere Wahrheit des Evangeliums. Aber es geht - noch grundsätzlicher - um alle Wahrheit, daher soll die Wahrheit überhaupt gewollt werden. - Im übrigen macht ein Streben zur Wahrheit überhaupt nur dann einen Sinn, wenn man sich nicht schon in der Wahrheit befindet. Dies ist ja auch ein Grundproblem aller Philosophie, dass der (weltliche) Common Sense der Auffassung ist: "Philosophie ist überflüssig, wir befinden uns doch schon in der Wahrheit"; wäre diese Überzeugung richtig, so könnten wir alles Wissenschaften sofort einstellen. Der (christliche) Glaube hat nun ein analoges Problem, nur dass er um die tiefere Bedeutung dieser tatsächlichen "Verkehrungssituation des Natürlichen" ausdrücklich weiß; er weiß, sie hat ontologische Bedeutung und betrifft unsere "falsche Wirklichkeits-Wahrnehmung", wenn wir un-/ohn-christlich in die Welt und auf uns selbst blicken. - Der Common Sense liegt gänzlich daneben, der Philosoph ist rechtmäßig existenziell zum Suchen übergegangen, und der christliche Theologe ist drauf und dran, immer tiefer und reichhaltiger im Finden zu leben - er bringt dreißigfache, sechzigfache, hundertfache Frucht, indem er nach dem Maß seiner innerlichen Öffnung Erkenntnis gewährt erhält.

Die Einheitsübersetzung von 1980 bevorzugt eine Übersetzung mit "sich verschließen" und kennzeichnet damit ausdrücklich, dass es hier um ein Handeln, ein Aktiv-sein des Menschen geht, nicht um ein passives Entgegennehmen (und die Revision von 2016 behält dies auch bei).

Die beiden philosophischen Grundbegriffe, die die Übersetzung an die Hand gibt, habe ich schon genannt, und auch sie sind in der Revision erhalten geblieben.

Und sie formuliert "Macht des Irrtums", was mir wiederum besser erscheint als die lutherische "Macht der Verführung", weil in der "Verführung" deutlich gemacht ist, dass hier ein höherer Verführer am Werk ist, was zwar glaubensintern korrekt oder sogar angemessener versprachlicht ist. Aber der "Irrtum" als solcher charakterisiert nun besser die vom höheren Verführer verursachte oder hervorgerufene "Falsch-Situation des Menschen", denn "Irrtum" ist ein neutraler Begriff, und dem höheren Verführer gelingt sein Werk ja gerade dadurch am besten, dass er als Akteur nicht in Erscheinung tritt und unerkennbar bleibt (Stichwort: ἀπάτῃ - Un-/Ohn-Wahrnehmbarkeit = Täuschung). Diese Unerkennbarkeit vor der Welt ist im Terminus "Macht des Irrtums" eingefangen.

Biblisch konsequent und interessant ist auch die Wendung "der Wahrheit glauben" (12). Aus unserer irdischen Sicht scheint es sich um eine Unsinns-Formulierung zu handeln, denn die Wahrheit ist grundsätzlich nichts, das zu glauben wäre: sie liegt vielmehr offen zu Tage (wenn man sie hat). In diesem Fall bezieht sich "Wahrheit" aber auf die höhere Wahrheit des Evangeliums, auf die der Mensch aus sich selbst heraus nicht kommen kann, und selbst wenn sie ihm mitgeteilt ist, kann er sie auch zunächst nicht unmittelbar einsehen, so dass er sie glauben muss. "Der (höheren) Wahrheit glauben" steht gegenüber "der (höher verursachten) Lüge glauben" (11). Betroffen davon sind diejenigen, die der "Macht des Irrtums" unterliegen, in der die täuschende "Kraft des Satans" (als Lüge) wirksam ist. Das "Glauben" hat hier die Bedeutung von "überzeugt sein" oder gar "für evident halten". Und die Evidenz oder Selbstverständlichkeit ist nun gerade das, wogegen die Philosophie angehen möchte durch ihr methodisch-prinzipielles In-Frage-stellen oder In-Zweifel-ziehen, so dass wahre Philosophen oder Wissenssuchende dieser "Macht des Irrtums" nicht unterliegen werden, indem sie an ihrer suchenden, strebenden Geistesgrundhaltung jenes Schlupfloch besitzen und pflegen, das sie aus der vom Satan erzeugten Wirklichkeits-Höhle oder -Illusion herausfinden lassen wird.

Und genau in diese Situation ist nun der Schlüsselsatz der Perikope hineingesprochen, der wie ihr Ruhepol erscheint: "Sie gehen verloren, weil sie sich der Liebe zur Wahrheit verschlossen haben, durch die sie gerettet werden sollten." Die "Liebe zur Wahrheit" überhöht oder überholt das Der-Wahrheit-glauben, denn zur höheren, evangelischen Wahrheit gehört ja auch die Wirksamkeit des Beistands-Geistes, des Parakleten. Und wenn sich der Mensch in eine philosophische, die Wahrheit liebende und suchende Geistesgrundhaltung hineinbegibt, so wird er über die Wirktätigkeit des Parakleten in die Rettung hineingeführt werden können. Das heißt: Bei recht entwickelter Geistesgrundhaltung kann der die Wahrheit suchende Mensch in die höhere Wahrheit des Evangeliums hineinfinden und dadurch zum Christen konvertieren oder auch umkehren.

Ich rechne es der Einheitsübersetzung von 1980 hoch an, dass sie sich die Freiheit genommen hat, das "Verlorengehen" aus dem ersten Halbvers 10 im zweiten Halbvers 10 nochmals zu wiederholen, wodurch der Schlüsselsatz als eigenständige, in sich runde Aussage hingestellt ist, was die Einheitsübersetzung 2016 dann leider wieder aufgegeben hat. Damit verliert aber der Schlüsselsatz seine Eigenständigkeit und Mittelpunktstellung, wird in eine "Teilaussage unter Teilaussagen" wieder zurückgesetzt, wodurch sie einer ausdrücklichen Aufmerksamkeit leichter entgeht. - Ich aber kann mich doch noch erinnern, dass mir der Satz (der Einheitsübersetzung von 1980) auch dadurch besonders auffiel, weil er aus dem Zusammenhang herausnehmbar ist und dabei seinen vollständigen Sinn in sich bewahrt, in der Begriffs-Parallelisierung:

                                                          verlorengehen = sich der Liebe zur Wahrheit verschließen

                                                                                       die Liebe zur Wahrheit entwickeln = gerettet werden.

Diese Stelle - im biblischen Kanon - zeigt m.E., dass der menschlichen Vernunft ein sehr hoher oder höchster Stellenwert zuerkannt ist, entweder von den Bibelschreibern oder von dem sie inspirierenden Geist. Denn das, was der Mensch in Philosophie und Wissenschaft tut: sich in der Liebe zur Wahrheit zu üben, d.h. nach Erkenntnis zu streben, soll ihn demnach schnurgerade in die Rettung führen, - so scheint es vorgesehen -, wobei wir uns den theologischen Terminus der „Rettung“ in die philosophische Kategorie der „Lösung des Menschenrätsels“ umformen können, denn die Fragwürdigkeit der menschlichen Existenz ist gleichsam die Not der Philosophie (oder des in seiner Existenz ratlosen Menschen), aus der sie (Er-)Lösung oder Rettung sucht.

Ich betrachte diese Deutung dieser Bibelstelle als „reformatorische Erkenntnis der Philosophie“, mit der sie die biblische Theologie über sich selbst hinausführt und den Glauben alsGlauben“ aufzuheben vermag, indem dieser nun als „uns vorweg genommenes höheres Wissen“ sichtbar wird, auf welches die menschliche Vernunft aus sich selbst heraus niemals gekommen wäre (vgl. Lessing unten), auf welches sie sich aber mit evangelisch-biblisch-geistiger Hilfestellung zubewegen kann.

So gesehen schließen Wissen und Glaube sich nicht aus, sondern gehen letztendlich in eins zusammen, und dann muss die Philosophie auch nicht mehr vor dem Glauben zurückschrecken, wie der Teufel vor dem Weihwasser, vielmehr geht sie durch den Glauben einfach hindurch, zur höheren Geistebene hinauf, von welcher der Glaube als etwas nur vorübergehend Gültiges, als Vorstufe des Wissens herunter- und vorausgeschickt worden war. Und indem der Mensch dieses höhere Wissen aus der Geistwelt (die, falls es sie gibt, auch schon vor Christi Geburt Realität hatte, gewiss auch in den Augen der griechischen Philosophen) als solches erkennt und annimmt und mit seiner Vernunft die Lehren der biblischen Denk-Gebrauchsanleitung spekulativ einübt, formt er sich selbst um zum Geistwesen, das Geist unmittelbar empfangen kann. Denn in der Zukunft wird die Bibel (als mittelbares, schriftlich fixiertes Wort Gottes) irgendwann dann doch ausgelesen sein, und die weitere Unterweisung findet als „ewiges Evangelium“ statt (Offb. 14,6, vgl. § 86f. EdM), nun unmittelbar von „Geist“ zu „Geist“.

Die Bibel liest sich hier ganz anders, als sie für gewöhnlich oder bisher gelesen wird: Der Mensch ist weniger auf Gnade oder Hilfe von außen angewiesen, sondern er hat sein Schicksal eher selbst in der Hand. Der entscheidende Anstoß kann und soll auch von ihm selbst kommen: Er muss nur seine Vernunft lange und weit genug offenhalten, im und zum „Vernehmen“ (was wir philosophisch „Urteilsverzögerung“ genannt haben), und dann und dadurch wird sich ihm das Rätsel des Seins wie von selbst lösen, nämlich en passant im Rahmen seiner Wahrheitssuche, die er „durchhält“, indem er auf Schritt und Tritt darauf achtet, keine Fehlschlüsse zu ziehen resp. sich in seiner Existenz nicht zu „ver-schließen“, jetzt im doppelten Sinn verstanden: Denn im (über den Kosmos urteilenden) Fehl-Schluss geht die prinzipielle Offenheit der menschlichen Existenz verloren, und der Mensch begibt sich in seinem (sich selbst, also sein eigenes Ich-sein inkludierenden!) Fehl-Urteil irrtümlich in ein geschlossenes System hinein (z.B. Materialismus), riegelt sich so in „seiner Wirklichkeit“ ab und kommt damit in einer Höhlen-Wirklichkeit heraus, die zwar an sich noch eine umfassendere Wirklichkeits- und Wahrheitssphäre um sich hat (wenn der Terminus "Höhle" zutreffen können soll), die aber für ihn durch sein falsches Eigenurteil unwahrnehmbar, „nichtexistent“ (geworden) ist.

Das Offenhalten der Existenz hat das Offenhalten der Vernunft zur Voraussetzung, und Letzteres ist schwer, weil der Mensch natürlicherweise dazu neigt, in seinem Lebensvollzug zum Schluss kommen zu wollen, soll heißen: ins Volle zu gehen, denn ein Leben der Vorläufigkeit oder des Provisoriums – wie es in der Philosophie methodisch-prinzipiell gelebt werden muss - ist doch… irgendwie… nichts…

In dieser Bibelstelle ist auch die gleichsam Höhere Behauptung grundgelegt, der Erkenntnisweg der Philosophie sei tatsächlich gangbar und möglich, bis zum Ziel hin! Wir könnten sie insofern als das positive (biblisch-„theologische“) Gegenstück zum philosophischen Nichtwissen der Unmöglichkeit dieses Weges betrachten, denn von Höherer Seite aus ist offensichtlich das Wissen um die Möglichkeit dieses Weges vorhanden, so ist es in dieser Bibelstelle ausgesagt.

Der Schlüssel zur Lösung des Menschseins liegt demnach im rechten Vernunftgebrauch, theoretisch ganz einfach, praktisch aber dann doch nicht so einfach, weil der Irrwege, Verstrickungs- und Verzettelungsmöglichkeiten so sehr viele sind, gerade auch im eigenen Urteilen und Schlussfolgern.

Nun ist zu beachten, dass die Bibel hier sozusagen dialektisch, wir könnten auch sagen: diametral spricht. Denn nur indirekt wird über die Philosophen und Wahrheitsliebenden gesprochen, als würde solche Indirektheit für die Verständigen zum Verstehen durchaus genügen (im Gegensatz zu den Anderen, bei denen vielleicht nicht einmal ein Wink mit dem Zaunpfahl ausreicht). Direkt gesprochen wird über die Unverständigen, die die philosophische Urteilsverzögerung nicht durchhalten wollen oder können, was die Bibel mit der Wendung „sich der Liebe zur Wahrheit verschließen“ belegt und was wir philosophisch als das „Abwürgen des Wahrheitsstrebens im Meinen“ bezeichnet haben. - Man kann also auch hier wieder eine "Entsprechung" herstellen zwischen philosophisch-irdischem Denken und biblisch-himmlischem Sprechen.

Und nun komme ich zum eigentlichen Argument meiner Ausführung, denn die Bibel äußert nun, dass das menschliche Fehlverhalten dann auch noch durch ein analoges, zeitlich späteres Gottesverhalten quasi quittiert wird: Diejenigen, die zuerst von sich aus die „Offenheit der Philosophie“ nicht ein- und aushalten wollen, werden dann auch noch von Gott selbst der „Macht des Irrtums“ ausgesetzt, in der die (ohnehin sehr irrtumsanfällige, sozusagen beständig auf der Kippe stehende) „Offenheit der Vernunft“ in die „Geschlossenheit eines kosmischen Missverstehens und Fehlschlusses“ umkippt.

Lessing nimmt in seiner EdM auf diesen Terminus („Macht des Irrtums“) und den zugehörigen Sachverhalt zumindest methodisch-prinzipiell Bezug, wenn er zwischen einer „positiven“ und einer „negativen Vollkommenheit“ der Bibel unterscheidet, durch welche der „Weg zu den noch zurückgehaltenen Wahrheiten“ einerseits durch Andeutungen erleichtert (positive Vollkommenheit), andererseits nicht durch sprachliche Irreführung versperrt (negative Vollkommenheit) werde (EdM § 47, vgl. § 43 ff).

Solange sich die Menschheit in der Phase ihrer Geist-Genese befindet, - dies ist der Zeitabschnitt der Relevanz biblisch-geistiger Schriftlichkeit (wobei die Bibel selbst schon bemerkt, ihre eigene Schriftlichkeit werde überholt werden, durch eine künftige direkte Kommunikation von Geist zu Geist) -, solange nimmt Gott auf sie Rücksicht durch die Methodik der negativen Vollkommenheit, die ganz gezielt den Weg zur Wahrheit hin offenhält. Sobald die Menschheit aber in ihre Reifezeit eintritt und ein ausreichender Gesellschaftsteil der Menschen sein eigenes Geistsein weit genug entwickelt und realisiert haben wird, ist diese „biblische Schonzeit“ des irrtumsanfälligen Denkens vorbei. Dann kommt nur noch die „Realität selbst“ in Betracht, nicht mehr die (schriftlich an die Hand gegebene) Bibel als (noch vorhandenes) Korrektiv des Denkens und der Wirklichkeitswahrnehmung des Menschen. Und folglich ist dann die „negative Vollkommenheit“ beseitigt und beendet, und die Menschheit wird ab diesem Zeitpunkt der geschichtlich-realen „Macht des Irrtums“ ausgesetzt, die nun mit voller Wucht auf die (störrische, begriffsstutzige, besserwisserische, „halbaufgeklärt-überhebliche“) Menschenwelt negativ einwirken kann.

Und wie macht Gott das, die unverständigen Menschen der Macht des Irrtums auszuliefern? So, dass er mit ihnen gerade nichts (mehr) macht, analog der oben genannten Bibelstelle („Wen ich liebe, den weise ich zurecht…“, Offb. 3,19), oder analog der Formulierung Lessings ziemlich zu Beginn seiner EdM:

„... Und wer weiß, wie viele Millionen Jahre sich die menschliche Vernunft noch in diesen Irrwegen würde herumgetrieben haben…: wenn es Gott nicht gefallen hätte, ihr durch einen neuen Stoß eine bessere Richtung zu geben.“ (§ 7, EdM)

Externer Link zum Text: G.E. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, §7, Projekt Gutenberg-DE - https://www.projekt-gutenberg.org/lessing/erziehng/erziehn2.html, abgerufen am 20.03.2024

Im ersten Zitat-Teil (von 2 Thess. 2,10f) ist vom Nichthandeln des Menschen die Rede, als einem Versäumnis des animal rationale, im zweiten Zitat-Teil ist von einem Nicht(mehr)handeln Gottes die Rede, als der Quittung für das Versäumnis. Gott stellt sein Erziehungs-Handeln bzgl. des animal rationale ein, welches grundsätzlich darin bestanden hatte, den Menschen die Richtung auf die Wahrheit hin finden zu lassen, durch „Richtungsstöße“, wie Lessing sich ausdrückt. Bleiben diese Richtungsstöße nun aus, so muss der Mensch auch im Irrtum, im Status quo seines Umherirrens verbleiben, und es bleibt ihm selbst überlassen, diesen Status quo seines „kosmischen Irrtums“ zu qualifizieren: Vielleicht hält er ihn ja für „Aufgeklärtheit“?

Solange die Richtungsstöße aber gegeben werden, wird der Mensch dadurch

„auf nähere und bessere Begriffe vom göttlichen Wesen, von unsrer Natur, von unseren Verhältnissen zu Gott, geleitet werden können, auf welche die menschliche Vernunft von selbst nimmermehr gekommen wäre“ (§ 77, EdM).

Externer Link zum Text: G.E. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, §77, Projekt Gutenberg-DE - https://www.projekt-gutenberg.org/lessing/erziehng/erziehn2.html, abgerufen am 20.03.2024

Nach Lessing ermöglicht uns Gott also durch die Bibel

- einen tieferen Einblick in sich selbst,

- zugleich in uns selbst

- und zugleich in die Ich-Gott-Beziehung,

und zwar solche Einblicke, die wir von uns aus, durch unser (gebrauchsanweisungsloses) Naturtalent-Denken niemals finden würden.

Die beiden letztgenannten Lessing-Zitate zeigen also auch eine merkwürdige Zweischneidigkeit, Unbeholfenheit oder Unsouveränität der menschlichen Vernunft: Einerseits besitzt sie - prinzipiell - eine volle Erkenntnisfähigkeit, anderseits braucht sie – faktisch - immer wieder Impulse von höherer Seite her, um dieses ihr eigenes Erkenntnisvermögen auch wirklich aktualisieren zu können. Bleiben diese Impulse aus, so kann die menschliche Vernunft ihr eigenes Erkenntnisvermögen nicht entfalten…!? – Wir sehen hier in der EdM ein wesentlich komplexeres (z.B. auch interaktives) Denken über das menschliche Erkenntnisvermögen ausgeführt, als es die KrV enthält.

Nicht unerwähnt sei gelassen, dass auch damit gerechnet werden sollte, dass Richtungsstöße zwar geistesgeschichtlich tatsächlich erfolgen, aber als solche von uns unerkannt bleiben und damit ungenutzt verstreichen. So gibt Lessing im „Vorbericht“ einen „Fingerzeig“ zum richtigen Verständnis seiner eigenen Schrift, erläutert uns diesen Terminus aber dann als zunächst einmal nur zur biblischen Methodik Gottes zugehörig (nämlich der oben genannten „positiven Vollkommenheit“):

„Einen Fingerzeig nenne ich, was schon irgendeinen Keim enthält, aus welchem sich die noch zurückgehaltne Wahrheit entwickeln lässt. …“ (§ 46, EdM)

Externer Link zum Text: G.E. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, §46, Projekt Gutenberg-DE - https://www.projekt-gutenberg.org/lessing/erziehng/erziehn2.html, abgerufen am 20.03.2024

Und an später Stelle reiht er sich selbst und seine Schrift dann entsprechend ein:

„Geh deinen unmerklichen Schritt, ewige Vorsehung! Nur lass mich dieser Unmerklichkeit wegen an dir nicht verzweifeln. – Lass mich an dir nicht verzweifeln, wenn selbst deine Schritte mir scheinen sollten, zurück zu gehen! – Es ist nicht wahr, dass die kürzeste Linie immer die gerade ist.

Du hast auf deinem ewigen Wege so viel mitzunehmen! so viel Seitenschritte zu tun! …“ (§ 91f, EdM)

Externer Link zum Text: G.E. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, §91f, Projekt Gutenberg-DE - https://www.projekt-gutenberg.org/lessing/erziehng/erziehn2.html, abgerufen am 20.03.2024

Lessing nimmt sich selbst (und seine Schrift) in diesen Paragraphen 91f. zurück, so, wie auch Gott es nach seiner Erziehungs-Darstellung tut, indem er zuerst aus der Natur hervortritt, als persönlicher Gott, der sich einem bestimmten Menschenvolk zuwendet, um sich im späteren Teil der Schrift dann aber wieder in die Natur zurückzunehmen, so dass nun der aufmerksame Leser / Beobachter weiß, in der Natur ist der persönliche Gott und lebendige Geist gegenwärtig, nur in einer sehr gesetzmäßigen und daher unauffälligen Form, die der § 91 nun als „ewige Vorsehung“ anspricht und die nun auch den mittels der Bibel zum Geist aufgestiegenen Menschen in sich enthält, der sich nun frei in diese Gesetzmäßigkeit und Unauffälligkeit Gottes oder der Natur oder des Geistes mit hineinbegibt.

Deswegen klotzt Lessing nicht mit einem die gebildete Welt seiner Zeit aufhorchen lassenden Wissens-Glaubens-Slogan wie Kant,

„Ich musste also    das Wissen aufheben    um zum Glauben    Platz zu bekommen.“ (Vorrede zur zweiten Auflage der KrV 1787)

Externer Link zum Text: Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft - Vorrede zur zweiten Auflage, Textstelle siehe ab 14. Zeile von unten, Projekt Gutenberg-DE - https://www.projekt-gutenberg.org/kant/krvb/krvb001b.html, abgerufen am 20.03.2024

der nicht einmal der wahren Intention Kants entspricht, der nämlich mit dem Glauben nichts am Hut hatte. Der Schlagspruch verrät vertriebliche oder Public Relations-Absichten, nachdem die Erstauflage der KrV (1781) von den Zeitgenossen offenbar noch nicht als „kopernikanische Wende“ – so Kants Selbsteinschätzung - gewürdigt worden war. Näher besehen bietet Kant hier der Theologie und Glaubensgesellschaft seiner Zeit sogar seinen eigenen „Wissenschafts-Abfall“ als geistig wertvolles Produkt an, denn der „Platz“, von welchem er spricht, resultiert zwar aus seinem Denken, aber weder ein „Platzschaffen für den Glauben“ noch ein „Aufheben des Wissens“ waren seine ausdrückliche Wissenschaftsabsicht, aufheben wollte er vielmehr nur das metaphysische Pseudowissen, auf gar keinen Fall aber das Wissen an sich, dessen Sicherung in Wahrheit sein tiefstes Wissenschaftsanliegen war und blieb.

Und der „Platz für den Glauben“ ergibt sich schlicht aus Kants Idee einer „Erkenntnisgrenze“, die m.E. auf einem sinnlichen Missverstehen der Metaphysik beruht, als könne nämlich die menschliche Vernunft das Nahe und Nächste besser und richtiger beurteilen als das Weite und entfernt Liegende. Daher auch sein Missverständnis der Philosophie / Metaphysik als Versuch einer Erkenntniserweiterung, quasi vom noch gut erkennbaren Menschlich-Diesseitigen hinaus ins verschwommen werdende Göttlich-Jenseitige. In Wahrheit betrifft ein falsches Urteil zugleich das Nahe und das Ferne, umgekehrt ebenso ein richtiges Urteil. Und ziehen wir jetzt Lessing bzw. die Bibel im Vergleich heran, so können wir sagen: Im Glauben ist der menschlichen Vernunft im vorab eine Schärfe in der Fernsicht (höheres, fernkünftiges Wissen) gegeben, die sie aus sich selbst heraus schlicht nicht haben kann. Und wenn Kant die Bibel in seinem Vernunft-Denken unberücksichtigt lässt (anders Lessing), dann kann er freilich auch zu keiner Fernsicht (und keiner "Erkenntniserweiterung") kommen, und so resultiert seine ...ja,  unchristliche, heidnische „Erkenntnisgrenze“.

Streng besehen finden wir also in Kants Wissens-Glaubens-Slogan eine bewusst leger-unwissenschaftliche, über den Daumen gepeilte Formulierung vor; böse geäußert oder kritisch besehen, einen verkaufsstrategischen Werbesatz, der einer „Händler- und Schwindler-Mentalität“ entspricht, die es mit der Wahrheit nicht unbedingt so genau nimmt, weil ihr Ziel das Feilbieten einer Ware ist, hier vorgenommen von einem Philosophen, der sein Haupt-Denk-Werk endlich an den Mann bzw. die Gesellschaft bringen möchte. Der Werbespruch öffnet dem Missverstehen Tür und Tor, aber das ist Kant hier egal, weil er hier als Händler spricht, der eine Ware anbieten will, oder als ein Sophist, der mit seinem Wissen quasi Handel treibt, zwar nicht, um seinen Lebensunterhalt damit zu bestreiten, aber, um philosophischen Ruhm zu erwerben, bezeichnet er doch in derselben Vorrede die Metaphysik als einen

„Kampfplatz …, der ganz eigentlich dazu bestimmt zu sein scheint, seine Kräfte im Spielgefechte zu üben, auf dem noch niemals irgendein Fechter sich auch den kleinsten Platz hat erkämpfen und auf seinen Sieg einen dauerhaften Besitz gründen können.“ (Vorrede zur zweiten Auflage der KrV 1787)

Externer Link zum Text: Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft - Vorrede zur zweiten Auflage, Textstelle im 9. Absatz, beginnend mit "Der Metaphysik, einer ganz isolierten spekulativen Vernunfterkenntnis...", Projekt Gutenberg-DE - https://www.projekt-gutenberg.org/kant/krvb/krvb001.html, abgerufen am 20.03.2024

Kant möchte sich also mit seiner KrV „seinen Platz“ in der Philosophiegeschichte „erkämpfen“, was aber ein völlig falsches Bild des Erkennens und Verstehens ergibt, als käme es hier darauf an, andere aus dem Felde zu schlagen oder sie in ihrem Denken zu widerlegen, anstatt mit ihnen zusammenzuwirken, sie in ihrem Denken zu bestätigen und auf ihren Früchten und Reflexionen aufzubauen, so dass Wissenschaft, Philosophie und Erkenntnisstreben allgemein als das sichtbar werden, was sie – bei richtiger Auffassung - sein können und sollen: sowohl ein menschheitliches Gesamtanliegen als auch eine gesellschaftsübergreifende Gemeinschaftsleistung, bei welcher die Individuen sich besser hübsch zurücknehmen, anstatt hervorstechen und sich profilieren zu wollen, denn ihr komplettes Denken wäre ohne die Vorleistung der Anderen überhaupt nicht möglich gewesen, so dass sie sich einen „Ruhm“ zugeschrieben wissen wollen würden, der „ihnen“ gar nicht zukommt.

Der „Geist“ ist keine Plattform, auf der ein „Kampf ums Dasein“ auszutragen wäre. Und wenn in der Philosophie „gekämpft“ werden muss, dann findet dieser Kampf „in sich selbst“ statt. Der Philosoph muss sich selbst als seinen größten und im Grund sogar einzigen Gegner erkennen, nicht die Anderen, die auch nur diesen selben „Kampf in sich selbst“ ein Stückweit fortzuführen bemüht waren. - Interessanterweise schimmert hier auch Lessings Übungs-Verständnis der Spekulation durch („seine Kräfte im Spielgefechte zu üben“), aber das mag Zufall sein, ich weiß es nicht.

Nein, Lessing klotzt nicht, sondern spricht von seiner großartigen EdM, die trotz ihrer Kürze ein ganz anderes geistiges Gewicht hat als Kants ausladende KrV, als von einem „unmerklichen Schritt“, und zwar, nachdem die erste Texthälfte bereits Jahrzehnte früher erschienen war.

Weiter im Gedankengang. Gott steuert den Menschen in seiner Vernunft durch eine Irrtums-Beseitigungs-Methode – dies ist Lessings Fingerzeig in seinem Vorbericht:

„Gott hätte seine Hand bey allem im Spiele: nur bey unsern Irrthümern nicht?"

Externer Link zum Text: G.E. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, Vorbericht des Herausgebers, letzter Satz, Projekt Gutenberg-DE - https://www.projekt-gutenberg.org/lessing/erziehng/erziehng.html, abgerufen am 20.03.2024

Lessing geht hier also, bereits 1780, d’accord mit dem eigentlichen Thema der Philosophie: der besonderen Aufmerksamkeit auf die Irrtümer der menschlichen Vernunft, ein Thema, das Kant dann erst in seinem Opus Postumum entdeckte, erst im Nachgang zu seinem Lebens-Hauptwerk.

Gott gibt dem Menschen immer wieder neue Richtungsstöße zur Vernunftanregung. Der Mensch reagiert aber nicht unbedingt auf Anhieb auf jeden dieser Anstöße, und so scheint eine Art geistesgeschichtliches Reißverschluss-Verfahren zu greifen. Das eine Mal reagiert der Mensch auf die Setzung, das andere Mal nicht und geht stattdessen einem eigenen Gutdünken und Irrtum nach, also: göttliche Setzung – irdische Gegensetzung – göttliche Setzung – irdische Gegensetzung. Und zu späteren Zeitpunkten bemerkt der Mensch dann seine Irrtümer und kann zugleich die früheren göttlichen Setzungen oder Richtungsstöße als solche verifizieren, aufsammeln und als Fort-Setzungen Gottes in den Weg des Geistes hinein erkennen. Und wie in einem Reißverschluss-Verfahren zieht er sein „neues, berichtigtes Wissen“ nun doch noch zusammen.

Das Ganze hat freilich keine symmetrische Ordnung oder systematische Struktur, sondern erscheint geistesgeschichtlich als ein Wirrwarr, das auch als ein Vor-Zurück-Vor-Zurück erscheint („wenn selbst deine Schritte mir scheinen sollten zurückzugehen“), allerdings auch nur für diejenigen, die die tatsächlichen Fortschritte des Geistes auch als solche verifizieren können, denn für die anderen ist alles gleichwertig, beliebig, zufällig, ohne innere Ordnung und kausale Struktur.

Und deshalb ist auch keine „mathematische Sichtung“ der menschlichen Geistesgeschichte möglich. Die Mathematik reicht nicht aus, um den Geist in seiner Geschichte zu erfassen. Aus diesem Grund muss auch eine philosophische und geistesgeschichtliche Systematik wie diejenige Hegels auf Unverständnis stoßen, weil das Holprige der Geschichte allzu sehr geglättet erscheint. Ich verstehe, dass das Hegelsche Denken einen solchen Anschein erwecken muss, denn es führt uns gleichsam ein symmetrisches Reißverschluss-Verfahren vor, das prinzipiell richtig sein mag, jeweils im theoretischen Nachhinein, konkret-geschichtlich aber nicht recht erkennbar und nur schwer nachvollziehbar. Aus diesem Grund halte ich es für sinnlos, über Hegel zu reden, stattdessen „tue“ man ihn einfach. Denn es kommt ja nicht auf ein theoretisch-systematisches Darstellen von Erkenntnissen an („Seht her, wie toll systematisch die Philosophie ist!“), sondern darauf, dass Erkenntnisse tatsächlich gefunden und vermittelt werden können.

Diejenigen nun, die mit „Dialektik“ etwas anfangen können, werden sie dann schon auch in diesem Textverlauf hier identifizieren können. Und diejenigen, für die der Terminus eine negative Konnotation hat und von ihnen daher abgelehnt wird, mögen für die im Text behaupteten Erkenntnisse dann trotzdem aufgeschlossen bleiben, auch wenn sie meinetwegen den Zusammenhang nicht verifizieren können oder wollen, dass z.B. in der Einleitung von der Philosophie zuerst gesagt wird, sie habe wohl nichts „Eigenes“ mehr (weil ihr alles von den Wissenschaften weggenommen wurde), und an späterer Stelle wird dann von den Wissenschaften gesagt, sie sollten sich nicht einbilden, unabhängig von der menschlichen Existenz (mit der sich die Philosophie konstitutiv verbunden hat) irgendetwas „Eigenes“ sein zu können. Das ist Dialektik, aber darauf soll es uns nicht ankommen, und um der Kommunikation und Verständigung willen würde ich diesen Terminus lieber ganz fallen lassen: Es lohnt nicht, darüber zu streiten, konzentrieren wir uns lieber auf die Erkenntnisse als Erkenntnisse.

Zurück zu unserem Ausgangsproblem des Spiritualismus. Nun müssen wir uns das biblische Abstraktum „Macht des Irrtums“ nur noch in das geistesgeschichtliche Konkretum „Materialismus“ übersetzen bzw. unseren Materialismus heute als die biblisch genannte „Macht des Irrtums“ identifizieren, dann können wir sehen, dass die Bibel selbst also von einer Verkehrung des Seins spricht, und folglich muss eine solche im Falle der kosmischen oder ontologischen Richtigkeit des Spiritualismus auch Sinn machen.

Und warum ist diese materialistische Verkehrung eine „Macht“ - und kein bloßer, einfacher Irrtum? Wohl nicht nur deshalb, weil der Mensch sich durch falsche Urteile – selbstverschuldet - in Wirklichkeits-Irrtümer begibt und dadurch sich selbst „ohnmächtig“ und handlungsunfähig macht. Sondern weil die Bibel selbst von der „Realität des Bösen“ ausgeht und daher auch im Kontext meiner Bibelstelle von einem „Widersacher“ spricht, so dass wir, wenn wir diese Denkrichtung noch weiterverfolgen wollen, auf die oben genannte „Haltestellen-Problematik der Reflexion“ zurückkommen müssen und eine entsprechende Zuordnung im Beispiel vornehmen können:

a) „Der Widersacher existiert nicht“ -> Materialismus

b) „Der Widersacher inspiriert seine eigene Nichtexistenz“ -> (postmaterialistischer) Spiritualismus

Und wenn b) richtig wäre, dann kann innerhalb einer materialistischen Weltsicht ( = a) auch niemals von einem „höheren Widersacher“ die Rede sein, denn die Realität ist einzig die Tiefe der Materie - da ist sonst „niemand“. Umgekehrt erscheint dann aus spiritualistischer Weltsicht der in der Welt materialistisch orientierte Mensch wie „festgezurrt“ im materialistischen Denken. Der Widersacher wirkt mit einer enormen Sogkraft auf den Menschen und sein Denken ein, und Letzteres wird hingebannt auf die Materie, wodurch der Widersacher ganz phantastisch von sich selbst ablenkt, und das Genialste an dieser „diabolischen Methodik“ ist, dass der aufgeklärte (resp. halbaufgeklärte) Mensch den Widersacher zu 100% unterstützt, indem er ihm – wunschgemäß – seine Nichtexistenz aufklärerisch bestätigt, indem er also – materialistisch-halbaufgeklärt - den Irrtum zur Wahrheit erklärt.

Wenn ich hier den Terminus „festgezurrt“ verwende, dann assoziiere ich hierbei Platons Höhlengleichnis, das den Höhlenmenschen ja als von Anfang an „festgebunden“ beschreibt, so dass dieser nur die Schatten sehen kann (= das Sinnlich-Physische, das Materielle) und diese für die eigentliche Wirklichkeit hält. - Liest man das Höhlengleichnis noch genauer, dann findet man auch noch die Prophezeiung einer materiellen Wissenschaft ausgesprochen, in der die Wissenschaftler darum wetteifern, wer das Schattenhafte am genauesten zu erfassen vermag (und wir können hier die Nobelpreis-Vergabe der Gegenwart assoziieren).

Meine biblische Argumentation könnte nun als „erfüllt“ betrachtet werden - q. e. d. Aber mir selbst genügt sie noch nicht. Denn es ist ja noch keine inhaltliche Begründung zu sagen: „Da, die Bibel sagt es auch!“

Also: Welchen Sinn hat eine Verkehrung des Seins im Falle der Wahrheit des Spiritualismus? Und wir wollen uns auch jetzt wieder an das erinnern, was wir laufend wieder vergessen, nämlich, dass der Mensch ein Geistwesen ist und auch in einer – seiner eigenen – Geistsphäre lebt. Und dann können wir versuchen, unser viertes Denkmodell d) noch etwas anzureichern, um eine Richtung ausfindig zu machen, in welcher dieser Verkehrungs-Sinn liegen könnte:

d) unbewusster Spiritualismus -> bewusster Materialismus -> überbewusster Spiritualismus

Damit ist nicht nur die alte Verkehrungsbehauptung der Philosophie gewahrt und aktualisiert, sondern auch – bibelkonform - der Geistebene des Menschen Rechnung getragen, und mehr noch: Wir können nun die oben genannte Idee konkreter zu denken versuchen, das Unbewusste (Unter-Ich) und das Über-Ich könnten geistesgeschichtlich sozusagen gegenseitig zurückgefahren und ins seelisch-geistige Ich hinein aufgehoben werden, so dass ein neues, bislang unbekanntes „menschliches Ich“ resultierte, aber nicht zufällig, sondern entwicklungskonform, der Natur und (Sünden-)Geschichte des animal rationale entsprechend.

Gegen Ende des Kapitels „D. Gegenwart“ haben wir uns auch ein paar Fragen aufgehoben, die wir nun aufgreifen können:

- Wenn es eine Bewegung aus dem Ewigkeitshorizont heraus in Zeit und Geschichte hinein gegeben hat (= Geschichte Europas), gibt es dann vielleicht auch eine Rückkehrbewegung, aus Zeit und Geschichte wieder heraus, in den Ewigkeitshorizont zurück?

- Welchen Sinn kann eine solche Bewegung hinein und wieder heraus haben?

- Gibt es vielleicht ein „Etwas“, das in der Hineinbewegung in die Zeitlichkeit entsteht, so dass wir es geschichtlich an uns selbst greifen können, welches dann aber bei der Wieder-Heraus-Bewegung als Ergebnis und Resultat bestehen bleibt?

Ich will diese Fragen nun in folgende Frage umgießen, mit welcher dieser Abschnitt über unsere Misere geschlossen werden soll: Hat der Mensch vielleicht eine geistesgeschichtliche Entwicklung zur Selbstständigkeit durchlaufen, die er nur dadurch erzielen konnte, dass sich – geschichtlich vorübergehend – die Geistwelt vom Menschen zurückzog, damit sein Blick nicht hinorientiert und hingebannt bleibe auf höhere Geistwesen und er aufmerksam werden konnte auf sich selbst? So, wie beim Kleinkind der Zeitpunkt kommt, ab welchem es „ich“ zu sich sagt, also (s)ein eigenes Ich-Zentrum findet, während es zuvor von sich selbst in der dritten Person Singular sprach, also sozusagen außer sich war, weil es sich selbst noch dezentriert, vom Ich-Zentrum der Mutter her wahrnahm?

Das Ich-sein und unser aller starkes Individualisiert sein ist uns heute eine Selbstverständlichkeit. Es könnte sich hierbei aber um ein entwicklungsgeschichtliches und insbesondere geistesgeschichtliches Resultat handeln. Und eigentlich kann erst in einer solchen Ausgangsposition dem einzelnen Menschen eine Entscheidung und ein Urteil abverlangt werden, wie es die Bibel mit ihrem Umkehr-Aufruf fordert, also erst heute, nicht schon in der antiken Zeit der Bibelentstehung, so dass die Bibel zunächst einmal in eine Zeit hineingesprochen haben muss, die ihr noch gar kein angemessenes Verständnis entgegenbringen konnte.

Und deshalb wird es uns nicht überraschen, wenn die Bibel gerade in der Offenbarung des Johannes, in ihrem „letzten Blatte“, wie Lessing formuliert (EdM § 68), den einzelnen Menschen in seiner Individualität anspricht (sofern der Individuum gewordene Mensch der Bibel heute überhaupt noch zuhört…).

Die Menschheit ist einen allgemeinen, gemeinsamen Weg vom ersten oder unbewussten Spiritualismus in den bewussten Materialismus hineingegangen, und sie scheint darin stecken zu bleiben (vgl. z.B. das bereits zitierte Gleichnis vom Sämann, Mk. 4, Mt. 13, Lk. 8). Ein Weg darüber hinaus kann nur individuell gefunden werden, indem der Einzelne zum Geist kommt, zum Bewusstsein seiner Geistigkeit, womit er ein neues Stehen im Sein findet.

Bleibt nun vor allem zu klären, was im angereicherten vierten Denkmodell unter „überbewusst“ zu verstehen sei? Aber zuvor soll nochmals die Religionskritik durchlaufen werden, weil wir heute so unsere Probleme mit dem Terminus „Gott“ haben, und erst, wenn diese hinreichend erfasst sind, können wir offen und empfänglich sein für einen Terminus wie „überbewusst“, vorher nicht.

ZWISCHENÜBERBLICK A-E

A. EINLEITUNG

1. Braucht die Philosophie auch eine Wissenschaftsform oder sollten vielmehr unsere Wissenschaften sich zur Philosophie reformieren?

a) Die Wissenschaften haben die Philosophie überholt
b) Das unüberholbare existenzielle Wesen der Philosophie
c) Die Philosophie überholt die in ihrem Fachwissen unbeweglichen Wissenschaften wieder

2. Thema und Methodik dieses Textes

a) Vergegenständlichung unseres modernen Selbstverständnisses in der Philosophie
b) Philosophische Umformung unseres Selbstverständnisses im terminologischen Thema-Durchlauf

B. MODERNE

3. Warum überblicken wir unsere eigene Geschichte nicht?

a) Europäische Geschichtseinteilung und Raumeroberung des gemeinsamen Globus
b) Halbheit unserer Geschichtserkenntnis und subjektive Gegenwarts-Monopolisierung
c) Gibt es die „Gegenwart“ schon immer?

C. ALTES SEIN

4. Sind wir in unsere eigene Geschichte geistesgeschichtlich erst eingetreten?

a) Die Philosophie entspringt als Verlustausgleich einer Defizitentwicklung
b) Sokrates ist die geistesgeschichtliche Schnittstelle zwischen Sophia und Philo-Sophia
c) Inhalt der altgriechischen Naturbetrachtung: Das Erwachen des Europäers zum Mit-Sein
d) Mit Sokrates zieht der Logos als (Nicht-)Wissen in den Menschen ein
e) Die Vorsokratiker nehmen sich selbst inmitten des Ewigkeitshorizontes wahr
f) Der Europäer beginnt, sich als „kleine Ewigkeit“ aus der „großen Ewigkeit“ herauszulösen

D. GEGENWART

5. „Gegenwart“ ist die Sammlung menschlicher Individuen in ihr gemeinsames, menschheitsgeschichtliches Wesen

a) Terminologisch gesehen ist „Gegenwart“ kein Warten und kein Ausschau halten
b) Der Geschichtsstau zeigt unsere historische Anthropozentrik und immer noch fehlende zeitliche Objektivität oder Selbstrelativierung an
c) Das „Gegen“ der Gegenwart ist die Bewegung der Geschichte
d) Liegen auch den Naturdingen Ideen zugrunde?
e) Ist das Auffinden der „Idee unserer selbst“ ein Ereignis unserer Geistesgeschichte?
f) Das „Wart“ der Gegenwart ist unser Gewahr werden unseres geschichtlichen Bewegt werdens

6. Mit der „Gegenwart“ sind wir ins Zentrum der Seinsveränderung gelangt

a) Ist das Ich eine Konstante oder eine Variable?
b) „Zukunft“ und „Vergangenheit“ sind Außenansichten werdender oder gewesener Ich-Gegenwart
c) „Gegenwart“ ist die „kleine Ewigkeit“ des Ich, die sich in die universale „Anderswerdung“ schwer hineinfindet

E. ANGENOMMENE MISERE-SITUATION

7. Wir müssen unsere prekäre Geistessituation in der Gegenwart sehen wollen

a) Einleitend: Gehen lernen im Geiste
b) Warum denn „Misere“?
c) Wir müssen unsere Misere „annehmen“, um sie „denken“ zu können

8. Beruht unsere Isolationssituation auf einer kosmischen Interaktion mit uns?

a) Wir haben zwei kosmische Denkmodelle, wobei unsere Aufzählung falsch ist
b) Zur methodischen Erinnerung
c) Kann eine Verkehrung des Seins spiritualistisch gesehen Sinn machen?