Leseprobe 9

                                                                         Gibt es "die Gegenwart" schon immer?

Und wir wollen nochmals ausdrücklich fragen, ob wir mit unserer bisherigen Sichtung der Geschichte nicht einen schwerwiegenden Perspektiven- oder Dimensions-Fehler machen? Denn wir setzen momentan – gleichsam mathematisch – voraus, „Gegenwart“ sei eine Konstante, die man auf dem Zahlenstrahl der Geschichte beliebig hin und her verschieben könne, wie eine Lupe, mit welcher man einen einzelnen Zeitabschnitt näher betrachten will.

„Gegenwart“ ist aber kein Punkt, auf den wir hinzeigen könnten, wie auf eine Stelle x auf einem Zahlenstrahl. Sie ist auch kein Zeitpunkt, schon eher eine Zeitstelle, eine Stelle, an der jemand steht, so wie wir von „unserer Zeit“ sprechen und damit unser Hier-und-Jetzt-Sein meinen.

Wir müssen also zweierlei berücksichtigen: die Stelle in der Zeit und das dortige Stehen von Menschen. Wir werden uns das Stehen von Menschen zu unterschiedlichen Zeiten zuerst einmal genauer ansehen müssen, dann erst können wir entscheiden, ob „Gegenwart gleich Gegenwart“ sei, oder inwiefern „Gegenwart nicht gleich Gegenwart“ ist, oder ob gar „Gegenwart“, wie wir sie heute empfinden, womöglich nicht „schon immer“ war, sondern geschichtlich, geistesgeschichtlich erst irgendwann entstanden ist? Und wenn ja, warum?, wodurch?, wozu? Und was war vorher? Und gibt es vielleicht auch ein Nachher…?

Machen wir zunächst den Versuch, in das „alte Sein“ hineinzublicken, um vielleicht Aufschluss über unsere Frage nach der „Gegenwart“ zu erhalten. Und am besten suchen wir eine Zeitstelle innerhalb unserer Geistesgeschichte auf, an welcher sich uns der „alte Blick“ von sich aus auftut, das ist in der alten griechischen Philosophie, die uns wenigstens in Fragmenten erhalten geblieben ist.

entnommen: 3. ABC-Versuch einer neuen Wahrnehmung des alten Seins, aus der angenommenen Misere-Situation unserer Gegenwart der Moderne heraus, dort unter B 3 c.

B. MODERNE
   3. Warum überblicken wir unsere eigene Geschichte nicht?
      a) Europäische Geschichtseinteilung und Raumeroberung des gemeinsamen Globus

      b) Halbheit unserer Geschichtserkenntnis und subjektive Gegenwarts-Monopolisierung
      c) Gibt es die „Gegenwart“ schon immer?