Leseprobe 8

                                                                          Heraklit verweigert die Veränderung

Heraklits Hauptsatz: „Alles ist im Fluss“ (panta rhei, den wir ihm in jedem Fall sinngemäß zuschreiben können), ist deshalb nicht ganz richtig, nicht ganz vollständig oder nicht ganz ehrlich geäußert, denn er müsste lauten: „Alles ist im Fluss - nur ich selbst nicht. Denn ich will in dieses Werden nicht mit hinein, sondern bleibe lieber hier auf der Ewigkeitsschwelle stehen, damit ich mich nicht in der Welt verliere und womöglich auch abwesend werde wie die Vielen.
“ - Vielleicht war eine solche ‚vervollständigte‘ Äußerung aber auch noch gar nicht möglich, denn wahrgenommen wird dieses eigene Ich ja nur in der peripheren, anfänglichen Form eines Mit-Seins, während eine neuzeitlich-bewusste Entgegensetzung und Gegenüberstellung zur Welt noch weit entfernt liegt. Der noch nicht ganz zu seiner Selbstständigkeit erwachte Mensch steht noch fest auf Seiten der „großen Ewigkeit“, auch wenn ein Anderes als solches bereits ins Blickfeld gerät, so dass diese in sich rege werdende „kleine Ewigkeit“ sich nun wie ein Schatten von der „großen Ewigkeit“ zunächst abzuheben beginnt, um sich nach und nach zu lösen und in ein selbständiges Dasein hinauszugehen…

Allerdings vergehen bis dahin noch volle 2000 Jahre (pauschal: 500 v.Chr. – 1500 n.Chr.), denn erst mit Beginn der Neuzeit kommt Dynamik in die statische Welt der Antike und des Mittelalters, gemessen nicht am politischen Geschehen, das es immer gab und gibt, sondern – geographisch - an der Expansion Europas nach Übersee, sowie – kosmologisch - an der grundsätzlichen Auflösung des alten, ptolemäischen Weltbildes, was dann – theologisch - weiter zur Beseitigung des „Himmels“ und zur Entgötterung und Entgeistung der Welt führte, und diese Säkularisierung wandte sich nicht nur nach außen, sondern – psychologisch – auch nach innen, so dass in der Religionskritik der Glaube und die menschliche Psyche unglaubwürdig wurden, und sogar – rational-geistig - die menschliche Vernunft mit der Entdeckung des Unbewussten eine Schlappe und Schmähung hinnehmen musste, die sie m.E. bis heute gesellschaftlich-kulturell nicht ernsthaft angenommen hat, um entschlossen daran zu gehen, sie ins eigene Selbstbild mitaufzunehmen und konstruktiv damit umzugehen bzw. daran zu arbeiten zu lernen.

entnommen: 3. ABC-Versuch einer neuen Wahrnehmung des alten Seins, aus der angenommenen Misere-Situation unserer Gegenwart der Moderne heraus, dort unter C 4 f.

C. ALTES SEIN
   4. Sind wir in unsere eigene Geschichte geistesgeschichtlich erst eingetreten?
      a) Die Philosophie entspringt als Verlustausgleich einer Defizitentwicklung
      b) Sokrates ist die geistesgeschichtliche Schnittstelle zwischen Sophia und Philo-Sophia
      c) Inhalt der altgriechischen Naturbetrachtung: Das Erwachen des Europäers zum Mit-Sein
      d) Mit Sokrates zieht der Logos als (Nicht-)Wissen in den Menschen ein
      e) Die Vorsokratiker nehmen sich selbst inmitten des Ewigkeitshorizontes wahr
      f) Der Europäer beginnt, sich als „kleine Ewigkeit“ aus der „großen Ewigkeit“ herauszulösen