Leseprobe 7

Ameisen forschen effektiver als Wissenschaftler

Traditionell hat sie sich nach dem Prinzip der Arbeitsteilung entwickelt. Nach und nach hat sie neue Wissenschaftszweige geistesgeschichtlich aus sich herausgesetzt. Sie hat damit gleichsam ihr Wissenschafts-Personal fachspezifisch in alle möglichen Richtungen des Seins entsandt, die dort nun - stellvertretend für alle Wahrheitssuchenden oder Weisheitsliebenden - Forschung betreiben sollen.

Wie Ameisen viele Ecken und Ritzen eines Hauses absuchen, um einen Zu- und Durchgang zu finden zur potenziellen „Vorratskammer des Süßen“ im Haus, ebenso scheint unsere Wissenschaft in alle Ecken und Ritzen des Seins hineinorientiert zu sein, um einen Erkenntnis-Schatz zu heben.

Wir bleiben im Bild: Wenn nun eine Ameise fündig geworden ist – was macht sie dann? Sie teilt es den Andern mit, damit diese nachkommen und alle sich zu einer konzertierten Aktion des Schätze-Holens zusammentun können.

Und wir erkennen es am Entstehen von sog. Ameisenstraßen, denen man dann nur nachgehen muss, um auf der einen Seite die „Quelle“ zu finden, auf welche die Ameisen gestoßen sind, um auf der andern Seite aber freilich auch das „Schlupfloch“ zu finden (welches von unserem Standpunkt aus größere Bedeutung hat), damit wir das (moralisch neutrale) Schätze-Holen der Ameisen, den „Raub“ (aus unserer Sicht) unterbinden können, indem wir ihnen den Weg abschneiden, wir könnten auch sagen: ihnen ihr „Erkenntnis“-Schlupfloch verstopfen, ihr Wissen in ein Nichtwissen zurückverwandeln, so dass sie leer ausgehen.

Wir übertragen das Bild: Wie verhält sich nun solches Sich-Mitteilen und Sich-Zusammentun in der Wissenschaft?

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Unsere Wissenschafts-Ameisen suchen arbeitsteilig nach potenziellen Schätzen, nicht anders als die echten Ameisen auch. Der entscheidende Unterschied besteht aber nun darin, dass sich die Wissenschafts-Ameisen, wenn eine von ihnen fündig geworden ist, nicht zusammentun, um gemeinsam die Einzelstelle aufzusuchen und gemeinsam den gefundenen Schatz zu heben – warum nicht?

Man könnte zunächst einmal sagen, weil der gesamte Handlungsablauf vielleicht nicht in sich eingespielt ist und noch keine Routine geworden ist (wie offensichtlich bei den Ameisen). Wir stoßen hier in der Wissenschaft auf den geistesgeschichtlichen Zeitfaktor, der einen entscheidenden Unterschied zum Ameisendasein und –verhalten markiert: Das, was für die Ameisen ihr "täglich Brot" ist, ist für die Wissenschafts-Ameisen ein erstmaliger, vielleicht einmaliger Vorgang von erheblicher, geistesgeschichtlicher Länge, der gerade noch keine Routine geworden ist; hinzu kommt, dass die Suche der Wissenschaft nach „geistiger Speise“ mehr von Kür und Freiwilligkeit geprägt ist, die Suche der Ameisen nach „leiblicher Speise“ mehr von Lebensnotwendigkeit.

Außerdem ist bei den Ameisen die Identifizierung des Schatzes als solchen leicht und eindeutig – der allen gemeinsame Beurteilungsmaßstab mag „die Süße“ sein -, bei den Wissenschafts-Ameisen ist er ganz und gar nicht einfach und eindeutig, denn es macht doch einen erheblichen Unterschied, ob ich den Aufbau eines Atoms zu erkennen strebe, oder wie Menschen-Individuen sich innerhalb einer Gruppe verhalten, womöglich noch im Vergleich zu einer Tier-Herde oder einem Wolfs-Rudel, wobei auch wiederum Standort und Aufgabe des einzelnen Mitgliedes innerhalb der Gruppe eine besondere Relevanz haben usw.

Kurz: Die „Schatzsuche in der Wissenschaft“ ist ungemein komplizierter, weil das Wahrnehmungsvermögen in Form zunehmender Differenzierung in der gegenstandsbezogenen, also wissenschaftsspezifischen Begrifflichkeit je eigens erst entwickelt werden muss und nicht als „Schmecken der Süße“ von vorneherein allgemeinverbindlich feststeht. Daher gilt für die Wissenschafts-Ameisen: Wer nicht Grundbegriffe wie Proton und Elektron und Teilchenladung schon mitbringt, mit dem kann man auf keinen Fall ein Atom näher erforschen, und man wird ihm später dann, im Falle eines Schatz-Findens, auch diesen gefundenen Schatz nicht ohne weiteres als solchen erklären können usw.

Und insofern kann die Arbeitsteilung der Ameisen als eine rein räumliche betrachtet werden (weil sie in ihrer „Forschungs-, Such- und Finde-Begrifflichkeit“ schlicht und einfach übereinstimmen), während diejenige unter den Wissenschaftlern auch eine qualitative ist, weil sich das Wissenschafts-Ameisen-Wahrnehmungsvermögen in je anderer Richtung erst einüben und ausbilden muss. Und dadurch ergibt sich für die Wissenschafts-Ameisen die Problematik, dass die eine der andern nicht ohne weiteres folgen können wird, auch dann nicht, wenn die „Fachameise“ weiß, dass sie fündig geworden ist (was die Schatzfindung und -sichtung nur fachintern leicht macht). Und weil die Laien-Ameise der Fachameise nicht geistig folgen kann, macht es auch gar keinen Sinn, ihr räumlich zu folgen, z.B. ins Labor hinein oder auf die Steppe hinaus, weil sie auch dort Laie bleibt und nicht urplötzlich urteilsfähige Fachameise wird.

Das Bild zusammenfassend können wir also die „Schatzsuche an sich“ als bestehend aus zwei Teilschritten betrachten: das individuelle, arbeitsteilig praktizierte Suchen und Finden von Süße- resp. Erkenntnis-Schätzen, welchem dann – als der Aufgabe zweiter Teil – die konzertierte Aktion des Schätze-Holens folgen muss, wenn die Such-Aufgabe als solche nicht von vornherein sinnlos sein oder auf Dauer unsinnig bleiben soll.

Und wenn ich mir nun – von diesem Bild aus - unsere Wissenschaft ansehe, so habe ich den Eindruck, dass sie den zweiten (und eigentlich erst zielführenden) Teil der Aufgabe übersieht oder vergessen hat - im Verlaufe der geistesgeschichtlichen Länge der allgemeinmenschlichen Such- und Findungs-Aufgabe, die ja nur die Vorbedingung der späteren und eigentlichen Schatz-Hebungs-Aufgabe ist oder sein sollte?

entnommen: 2. Das Streben nach Erkenntnis, 11. Muss unsere Wissenschaft fürchten, überholt zu werden?

2. Das Streben nach Erkenntnis
1. Thema dieses Menüpunktes: Das Streben nach Erkenntnis
2. Schülersein (Lernen) und Lehrersein (Lehren) fallen in eins
3. Ist Fragenstellen eine Kunst?
4. Geistesgeschichtliches Lernen führt zu Erkenntnis-Potenzierung und Bildung
5. Hängt die Qualität einer Forschung an der Qualität ihres Fragens?
6. Geistesgeschichtliche Veränderung unserer Blickrichtung
7. Eine große geistesgeschichtliche Umwälzung liegt hinter uns
8. Enge unserer Erkenntniserwartung trotz Weite unserer Wissenschaft?
9. Haben wir die platonische Höhle verlassen oder sind wir jetzt erst richtig in ihr drinnen?
10. Ist unsere Art, wissenschaftlich zu denken, geozentrisch geblieben?
11. Muss unsere Wissenschaft fürchten, überholt zu werden?
12. Vorläufiger Schluss und Ausblick