11. Muss unsere Wissenschaft fürchten, überholt zu werden?
Das Prinzip, von welchem dieser Text und Gedankengang ausgegangen ist, ist im Eingangssatz dieses Menüpunktes 2 genannt: Das Streben nach Erkenntnis, und zwar in einer solchen Form, dass es einen natürlichen Anfang nimmt, keinen künstlich erdachten, nämlich das (eigene) Denken in seiner Augenblicks-Gestalt, wodurch der Beginn bei Nichtnull liegt (vgl. Ende Abschnitt 1), nicht bei einem rational angesetzten Null-Punkt wie beispielsweise dem Cartesischen „Cogito, ergo sum“.
An der „Prämissen-Denkweise“ haben wir nun ein Verdachtsmoment dafür gefunden, dass mit unserer Wissenschaft irgendetwas nicht stimmt. Möglicherweise hinkt sie sich selbst hinterher, indem sie Prinzipienfehler in sich enthält, die ihr selbst unbewusst geblieben sein müssen, denn ansonsten würde sie sie ja nicht machen?
Und an der Ignorierung und Nichtanwendung ihrer psychoanalytischen Entdeckung auf sich selbst sehen wir ein weiteres Verdachtsmoment dafür, dass unsere Wissenschaft irgendwie von sich selbst wegschaut, lieber „dem Anderen“ zugewandt ist (das sie für ihre eigentlichen "Gegenstände" hält), und darüber „sich selbst“ übersieht?
Und eben dadurch könnte sie sich in jenem Fehler oder Irrtum befinden, der eingangs explizit genannt wurde, um vermieden werden zu können: der „Fehler des Sich-selbst-Missverstehens“ (vgl. 1. Absatz des ersten Abschnitts), indem unser Erkenntnisstreben als solches sich selbst übersprang und sogleich „Gegenstände“ in den Wissenschaftsblick nahm, gleichsam in der Hoffnung, keine wertvolle Zeit zu verlieren und schneller ans Erkenntnis-Ziel zu kommen, als sich - unnötigerweise - beim bloßen Streben als solchen aufzuhalten.
Und wir wollen nun zusehen, ob diese mutmaßlichen Fehlerhaftigkeiten oder Irrtümer womöglich Indizien einer prinzipiellen Fehlausrichtung unseres gesamten Wissenschaftsapparates sein könnten, so dass eine Frage am Horizont unseres Bewusstseins aufschimmert, auf welche unsere Wissenschaft möglicherweise aus sich selbst heraus niemals kommen würde, so dass sie ihr von außen angetragen werden muss: Sollte unsere Wissenschaft sich selbst reformieren? Kann sie nicht bleiben, wie sie ist? Befindet sie sich nicht in jenem Bestzustand, den sie vielleicht von sich selbst annimmt?
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Traditionell hat sie sich nach dem Prinzip der Arbeitsteilung entwickelt. Nach und nach hat sie neue Wissenschaftszweige geistesgeschichtlich aus sich herausgesetzt. Sie hat damit gleichsam ihr Wissenschafts-Personal fachspezifisch in alle möglichen Richtungen des Seins entsandt, die dort nun - stellvertretend für alle Wahrheitssuchenden oder Weisheitsliebenden - Forschung betreiben sollen.
Wie Ameisen viele Ecken und Ritzen eines Hauses absuchen, um einen Zu- und Durchgang zu finden zur potenziellen „Vorratskammer des Süßen“ im Haus, ebenso scheint unsere Wissenschaft in alle Ecken und Ritzen des Seins hineinorientiert zu sein, um einen Erkenntnis-Schatz zu heben.
Wir bleiben im Bild: Wenn nun eine Ameise fündig geworden ist – was macht sie dann? Sie teilt es den Andern mit, damit diese nachkommen und alle sich zu einer konzertierten Aktion des Schätze-Holens zusammentun können.
Und wir erkennen es am Entstehen von sog. Ameisenstraßen, denen man dann nur nachgehen muss, um auf der einen Seite die „Quelle“ zu finden, auf welche die Ameisen gestoßen sind, um auf der andern Seite aber freilich auch das „Schlupfloch“ zu finden (welches von unserem Standpunkt aus größere Bedeutung hat), damit wir das (moralisch neutrale) Schätze-Holen der Ameisen, den „Raub“ (aus unserer Sicht) unterbinden können, indem wir ihnen den Weg abschneiden, wir könnten auch sagen: ihnen ihr „Erkenntnis“-Schlupfloch verstopfen, ihr Wissen in ein Nichtwissen zurückverwandeln, so dass sie leer ausgehen.
Wir übertragen das Bild: Wie verhält sich nun solches Sich-Mitteilen und Sich-Zusammentun in der Wissenschaft?
Sehen wir zunächst wieder auf Platon, der in seinem Höhlengleichnis ein gutes (oder vielmehr schlechtes) Beispiel dafür gibt. Hier ist es „der Philosoph“, der ein Schlupfloch zum Erkenntnis-Schatz gefunden hat (oder gefunden zu haben glaubt), also die „emsige Ameise“, die sofort an die Anderen denkt, zu ihnen zurückeilt, um ihnen von ihrem (gesellschaftlich-menschheitlich relevanten) Fund zu berichten, was wir – rein im Sozialverhalten betrachtet - als einen eigentlich christlichen Akt bezeichnen können, eines Menschen für seine Mitmenschen. Was tun sie nun aber – die Anderen? Sie reagieren nicht erwartungsgemäß, stellen sich quer und wollen von einem Neuen und Anderen, vermutlich auch Fremdartigen, vielleicht Erschreckenden, nichts wissen. Und was kann nun unser Philosoph tun? Er kann versuchen, eindringlich auf die Anderen einzureden, um sie doch noch zum Mitkommen zu bewegen, indem er ihnen begreiflich zu machen sucht, dass er eine neuartige Erfahrung gemacht hat, mit welcher er ihnen voraus ist und die sie noch gar nicht kennen, daher auch nicht beurteilen können. Und wie werden nun die Anderen reagieren, wenn der Philosoph schließlich aufdringlich und impertinent wird? Sie werden dem Philosophen sagen, er solle aufhören, auf sie einzureden und sie zu drangsalieren, solle ihnen gefälligst ihr Eigenurteil und ihren Eigenwillen belassen, und wenn er partout damit nicht aufhören sollte, dann werden sie ihn packen, züchtigen, mundtot machen, vielleicht töten.
Allerdings sind bei Platon diese beiden „Institutionen“ nicht sauber getrennt: Wissenschaft und Common Sense. Der Common Sense mag wohl so reagieren, wie Platon es beschreibt.
Auf die Wissenschaft aber, die damals noch gar nicht - als Bildungsinstitution eigener Art - aus der Philosophie hervorgekommen war, kann das nicht zutreffen, weil ihr ja bereits ein gemeinsamer Erkenntnis-Wille zugrunde liegt. Folglich haben alle Wissenschafts-Ameisen grundsätzlich ein Bewusstsein davon, dass sie jeweils an unterschiedlichen Stellen suchen und dass das, was sie finden, auch wiederum unterschiedlich ist, aber dennoch für alle zusammen eine hohe oder Höchst-Relevanz haben kann. Damit sind die Wissenschaftler in ihrem Sozialverhalten näher am (effektiven) Ameisenverhalten dran als der Common Sense, und damit müssen wir Platons Beispiel abändern oder ergänzen oder ummodeln, denn es beschreibt die Such- und Finde-Problematik wissenschafts- bzw. philosophieintern nicht gut genug.
Hier können wir noch feststellen, auch dies gehöre zum Erkenntnisstreben: Eine Sache denkend zur Hand zu nehmen und sprachlich-erkennend zurecht zu formen. Das Denken ist also - gerade in der Verbindung mit der Mitteilung des Erkannten - ein plastisches Gestalten, ein kreativer Vorgang.
Und damit wird sichtbar, dass Sokrates als Philosoph im Grunde bei seinem ursprünglichen Handwerk geblieben ist, nur hat er es auf eine andere Ebene verlegt oder transponiert, indem ihm die frühere Bildhauerei zur späteren Gedankenbildnerei geworden ist, die kein Schüler dann so gut verstanden und übernommen hat wie Platon.
Unsere Wissenschafts-Ameisen suchen arbeitsteilig nach potenziellen Schätzen, nicht anders als die echten Ameisen auch. Der entscheidende Unterschied besteht aber nun darin, dass sich die Wissenschafts-Ameisen, wenn eine von ihnen fündig geworden ist, nicht zusammentun, um gemeinsam die Einzelstelle aufzusuchen und gemeinsam den gefundenen Schatz zu heben – warum nicht?
Man könnte zunächst einmal sagen, weil der gesamte Handlungsablauf vielleicht nicht in sich eingespielt ist und noch keine Routine geworden ist (wie offensichtlich bei den Ameisen). Wir stoßen hier in der Wissenschaft auf den geistesgeschichtlichen Zeitfaktor, der einen entscheidenden Unterschied zum Ameisendasein und –verhalten markiert: Das, was für die Ameisen ihr "täglich Brot" ist, ist für die Wissenschafts-Ameisen ein erstmaliger, vielleicht einmaliger Vorgang von erheblicher, geistesgeschichtlicher Länge, der gerade noch keine Routine geworden ist; hinzu kommt, dass die Suche der Wissenschaft nach „geistiger Speise“ mehr von Kür und Freiwilligkeit geprägt ist, die Suche der Ameisen nach „leiblicher Speise“ mehr von Lebensnotwendigkeit.
Außerdem ist bei den Ameisen die Identifizierung des Schatzes als solchen leicht und eindeutig – der allen gemeinsame Beurteilungsmaßstab mag „die Süße“ sein -, bei den Wissenschafts-Ameisen ist er ganz und gar nicht einfach und eindeutig, denn es macht doch einen erheblichen Unterschied, ob ich den Aufbau eines Atoms zu erkennen strebe, oder wie Menschen-Individuen sich innerhalb einer Gruppe verhalten, womöglich noch im Vergleich zu einer Tier-Herde oder einem Wolfs-Rudel, wobei auch wiederum Standort und Aufgabe des einzelnen Mitgliedes innerhalb der Gruppe eine besondere Relevanz haben usw.
Kurz: Die „Schatzsuche in der Wissenschaft“ ist ungemein komplizierter, weil das Wahrnehmungsvermögen in Form zunehmender Differenzierung in der gegenstandsbezogenen, also wissenschaftsspezifischen Begrifflichkeit je eigens erst entwickelt werden muss und nicht als „Schmecken der Süße“ von vorneherein allgemeinverbindlich feststeht. Daher gilt für die Wissenschafts-Ameisen: Wer nicht Grundbegriffe wie Proton und Elektron und Teilchenladung schon mitbringt, mit dem kann man auf keinen Fall ein Atom näher erforschen, und man wird ihm später dann, im Falle eines Schatz-Findens, auch diesen gefundenen Schatz nicht ohne weiteres als solchen erklären können usw.
Und insofern kann die Arbeitsteilung der Ameisen als eine rein räumliche betrachtet werden (weil sie in ihrer „Forschungs-, Such- und Finde-Begrifflichkeit“ schlicht und einfach übereinstimmen), während diejenige unter den Wissenschaftlern auch eine qualitative ist, weil sich das Wissenschafts-Ameisen-Wahrnehmungsvermögen in je anderer Richtung erst einüben und ausbilden muss. Und dadurch ergibt sich für die Wissenschafts-Ameisen die Problematik, dass die eine der andern nicht ohne weiteres folgen können wird, auch dann nicht, wenn die „Fachameise“ weiß, dass sie fündig geworden ist (was die Schatzfindung und -sichtung nur fachintern leicht macht). Und weil die Laien-Ameise der Fachameise nicht geistig folgen kann, macht es auch gar keinen Sinn, ihr räumlich zu folgen, z.B. ins Labor hinein oder auf die Steppe hinaus, weil sie auch dort Laie bleibt und nicht urplötzlich urteilsfähige Fachameise wird.
Das Bild zusammenfassend können wir also die „Schatzsuche an sich“ als bestehend aus zwei Teilschritten betrachten: das individuelle, arbeitsteilig praktizierte Suchen und Finden von Süße- resp. Erkenntnis-Schätzen, welchem dann – als der Aufgabe zweiter Teil – die konzertierte Aktion des Schätze-Holens folgen muss, wenn die Such-Aufgabe als solche nicht von vornherein sinnlos sein oder auf Dauer unsinnig bleiben soll.
Und wenn ich mir nun – von diesem Bild aus - unsere Wissenschaft ansehe, so habe ich den Eindruck, dass sie den zweiten (und eigentlich erst zielführenden) Teil der Aufgabe übersieht oder vergessen hat - im Verlaufe der geistesgeschichtlichen Länge der allgemeinmenschlichen Such- und Findungs-Aufgabe, die ja nur die Vorbedingung der späteren und eigentlichen Schatz-Hebungs-Aufgabe ist oder sein sollte?
Die Ameisen haben von einer solchen Problematik schlechterdings keine Ahnung, weil sie die menschliche Unterscheidung zwischen physischer und geistiger Nahrung nicht kennen, soll heißen: Wenn ihre Such- und Findungs-Teilaufgabe nicht mit der Schatz-Hebungs-Teilaufgabe abgeschlossen werden kann, geht das Ameisenvolk zugrunde.
Das Menschenvolk überlebt, weil eine geistige Nahrung für ein physisches Überleben nicht notwendig zu sein scheint. – Wir ersehen hieraus zugleich, dass das menschliche Erkenntnisstreben mehr aus Willkür (= freier Entscheidung) motiviert ist, während die Ameisensuche aus Lebensnotwendigkeit geschieht.
Denn unsere Wissenschaft ist ungeheuer erfolgreich und fruchtbar darin, an allen Ecken und Enden Erkenntnis zu finden, - dies ist ein echtes Können, das sie hat -, nur werden diese unzähligen Erkenntnisse dann nicht mehr zur Einheit eines Wissens und einer (gemeinsamen) Bildung im Sein zusammengeführt.
Jede Wissenschaft, jede Erkenntnisgewinnung bleibt für sich, und die einzelnen Wissenschafts-Ameisen betrachten sich selbst auch nicht als zuständig oder verantwortlich dafür, das von ihnen Gefundene mit dem Gefundenen der Anderen zu verbinden. Noch deutlicher: Die einzelne Wissenschaft oder Forschungsrichtung betrachtet es nicht als ihre Aufgabe, ihr Wissen, ihre Schatz-Findung mit dem Wissen und der Schatz-Findung der Anderen zu verbinden!?
…wobei im Geistigen ein zusätzliches Problem vorhanden zu sein scheint, nämlich dies, dass der Schatz nicht sofort und nicht mit einem Mal einholbar ist, sondern vielleicht erst in geistesgeschichtlichen Etappen, also nach und nach gefunden werden muss? So war ja beispielsweise die kopernikanische Entdeckung eine echte Schatzhebung, aber keine solche, die uns hätte veranlassen können zu sagen: Jetzt sind wir am Ziel und können unsere Erkenntnissuche einstellen…
Sieht man sich die arbeitsteilige Organisation unseres Strebens nach Erkenntnis nur einmal grundsätzlich an, so müsste man doch annehmen, dass diese „die Wissenschaft“ – betrieben immerhin von einem animal rationale – von vornherein organisatorisch Sorge dafür getragen hat, dass sich die Schätze der Einen mit den Schätzen der Anderen verbinden und zusammentun werden, um sich in sich potenzieren zu können?
So ist es aber nicht. Vielmehr erscheint unsere „die Wissenschaft“ durch ihre vielen Arbeitsteilbereiche und Unterabteilungen und Weiterverästelungen als eine gigantische und einzigartige Wissens-Erzeugungs-Maschinerie, an welcher Jeder und Jede fleißigst mitarbeitet, um noch mehr und noch mehr Erkenntnis-Beiträge zu produzieren, wir könnten auch sagen: um weitere Lichtblicke und zusätzliche Wahrheitsfünkchen für unsere (vielleicht unbewusst) anvisierte „Große Aufhellung und Aufklärung unserer Existenz, die in der hellstmöglichen Helle des Seins stehen soll“ herbeizuschaffen und zusammenzusammeln.
Und so entsteht vor uns, auch vor den Wissenschaftlern selbst, ein ständig weiterwachsender kolossaler Wissens-Turm…
…der an den alttestamentlichen Turmbau zu Babel erinnern könnte, mit welchem sich die Menschen ein Zeichen ihrer Größe setzen wollten, wobei „Gott“ dann diese verfrüht-unreife Menschheitsvereinigung durch Sprachverwirrung verhinderte (Gen. 11,1-9).
Lutherbibel,
revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft,
Stuttgart, und Einheitsübersetzung ©
2016 der Katholischen Bibelanstalt GmbH,
externer Link: https://www.bibleserver.com/LUT.EU/1.Mose11,
abgerufen am 31.03.2024.
Und diese von uns zusammengetragenen „Wissensschätze unglaublichen Ausmaßes“ sind längst derart riesenhaft und mächtig geworden, dass man selbst als versierter Professor sagen mag, man könne die Ergebnisse auch nur innerhalb der eigenen Forschungsrichtung nicht mehr angemessen zur Kenntnis nehmen (wie einer meiner damaligen Theologie-Professoren in Heidelberg einmal äußerte, vor inzwischen 30 Jahren).
Und als angehendem und hoffnungsvoll aufstrebendem Studenten mag einem angst und bange werden, indem man sich von Anfang an vor einer unlösbar gewordenen Sisyphus-Aufgabe stehen sieht: Wie sollen denn diese Erkenntnis-Flutmassen, diese pure Wissens-Überschwemmung jemals positiv durchdrungen und intellektuell aufgearbeitet werden können!?
Dies war ein konkreter
Gedanke, der mich bereits in meiner Studienanfangszeit plagte,
im Lesesaal sitzend, ein einzelnes Buch vor mir, von dem ich
dann aufblickte in den Wald an Regalreihen voller Bücher um
mich herum, niedergedrückt, seelisch am Boden liegend, am Sinn
und an der Möglichkeit des Studiums als solchen
zweifelnd...
Ist nicht unsere Wissenschaftsliteratur so zahlreich geworden wie der Sand am Meer, den niemand mehr auflesen, nur noch beiseite schaufeln kann, zugunsten einiger weniger erlesener, dann aber unvermeidlich eklektischer Sandkörner?
***
Sehen wir nun einmal testweise in eine solche „Einzelforschung“ hinein, und ich wähle ein Beispiel meiner eigenen Studienzeit, hier der Literaturwissenschaft: Der Aufklärer Christoph Martin Wieland lässt in seiner offenkundigen Schildbürger-Schrift (und "versteckten" Aufklärungs-Schrift) „Geschichte der Abderiten“ eine seiner Hauptfiguren, den Oberpriester Stilbon, eine regelrechte „scholastische Quaestio“ ausarbeiten (inhaltlich nur angedeutet, nicht in allen Einzelheiten vorgetragen), nicht die ins Allgemeinbewusstsein eingegangene Frage, wie viele Engel auf einer Nadelspitze Platz haben, aber eine andere Unsinns-Fragestellung, denn „Abdera“ war von einer Frosch-Plage befallen, weil der Frosch der Bevölkerung als „heilige Kuh“ galt.
Eine scholastische Quaestio (untergliedert in mehrere articuli) besteht unter anderem aus den Bestandteilen: Videtur, quod non = Es scheint, dass nicht… – Sed contra = Dagegen steht aber… - Respondeo (Responsio dicendum) = Ich antworte, es sei zu sagen… Letzteres ist die conclusio, der Kerngehalt, der corpus articuli, die Meinung des Autors – und abschließend wird auf das vorgetragene Pro und Contra, nun neu differenzierend, nochmals eingegangen.
Dieser Text basiert auf den Artikeln "Quaestio (Literaturgattung)" (externer Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Quaestio_(Literaturgattung) und "Scholastik" (externer Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Scholastik) aus der freien Enzyklopädie "Wikipedia" (externer Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Hauptseite) und steht unter der Lizenz "Creative Commons CC-BY-SA 4.0" (externer Link: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/legalcode.de). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren der Artikel "Quaestio (Literaturgattung)" und "Scholastik" verfügbar, dort unter dem Reiter "Versionsgeschichte". Abrufdatum der Artikel: 26.07.2024.
Mir selbst waren bei der Lektüre diese Einzelelemente als solche sofort aufgefallen, sogar in ihrer nur angedeuteten Form, weil ich nicht nur Germanistik studierte, sondern auch Philosophie, auch mittelalterliche, scholastische Philosophie, und so konnte ich in einer kleinen Seminararbeit…
Die Gestaltung der Figur des Oberpriesters Stilbon…, Uni Regensburg, Philosophische Fakultät IV – Literaturwissenschaften, Institut für Germanistik (NdL), Proseminar II: Christoph Martin Wieland – Geschichte der Abderiten, WS 95/96
…unter Verweis auf das einschlägige Grundlagenwerk von Martin Grabmann, „Geschichte der scholastischen Methode“, die Stilbon-Frage als scholastische Quaestio identifizieren.
„Aber, ob die Frösche, die sich zu unsern heutigen Zeiten in dem geheiligten Teiche befinden, eben diejenigen seien, die von Latonen, oder (was auf Eines hinaus läuft) von Jupitern auf Latonens Bitte, in Frösche verwandelt worden: darüber sind bisher verschiedene Meinungen gewesen. … und hier ist mein Beweis!“ (Herv. v. Verf.)
Externer Link zum Text: Christoph Martin Wieland, Geschichte der Abderiten, Fünftes Buch, 6. Kapitel, (8. und 11. Absatz), Projekt Gutenberg-DE - https://www.projekt-gutenberg.org/wieland/abdera/abder506.html, abgerufen am 11.02.2024
Meine Dozentin war wohl überrascht, und sie fragte mich, ob sie eine Kopie meiner Arbeit behalten dürfe. Ich räumte es ihr ein und fügte hinzu, sie könne mit „meiner Erkenntnis“ völlig frei verfahren, auch ohne Bezugnahme auf mich. - Ich habe es nicht weiterverfolgt.
Ich will zu dieser „Einzelforschung“ einen Neben- und einen Hauptpunkt anführen.
Der Neben-Punkt ist: Wenn die Literaturwissenschaft keinen Seitenblick zur Philosophie (mehr) tut, dann erkennt sie nicht Vernetzungen, die tatsächlich bestehen.
Und es ist damit zu rechnen, dass solche „Vernetzungen“ nicht nur im menschlichen Denken geknüpft werden (z.B. beim Aufklärer Wieland zur Scholastik zurück), sondern dass sie auch ursprünglich und authentisch in Sein und Geschichte bestehen, also verborgen vorhanden sind.
So liegt etwa ein Bezug nahe zwischen dem (äußerlichen) Kolonisierungs- und Herrschaftsauftrag Gottes an den Menschen (Gen. 1,28) und der europäisch initiierten Kolonisation über die Erde, welche zur Globalisierung führte.
Oder das Delphische „Gnothi seauton“, das am relativen Beginn unserer europäischen Geistesgeschichte steht, könnte die entscheidende (innerliche) Handlungsaufgabe an den Europäer, auch noch in die Zukunft hinein, formulieren.
Beide „Aufforderungen“ stehen sich gegenüber wie äußerliches Herrschaft-Finden und innerliches Herrschaft-Finden.
Allerdings zeigt der moderne Europäer in der Zurückdrängung philosophischen Denkens auf ein Neben- oder Abstellgleis seines Forschens eine schwindende Weisheits-Affinität, an welche er jedoch über dem „Aufstieg seines Wissens“ keinen Gedanken mehr verschwendet, indem er meint, nicht nur einen gleichwertigen Ersatz, sondern sogar eine Überlegenheit gefunden zu haben.
Der Haupt-Punkt aber ist die unser eigenes Forschen reflektierende Frage: Was hilft uns denn diese Einzelerkenntnis weiter – im Großen und Ganzen unserer Existenz?
Und mir scheint, wir tragen gleichsam ein unbewusstes Schlussverfahren in uns: Eine kleine Erkenntnis hilft uns ein klein wenig weiter, und wenn wir nun tausende und abertausende „kleiner Erkenntnisse“ (unseres riesigen Apparates mit einer insgesamt gigantischen Forschungs-Kraft) zusammenaddieren, müssten wir dann nicht – rein rechnerisch – einen immensen Schritt vorwärts tun können?
Oder machen wir hier einen Denk- und Rechenfehler, indem uns kleine Erkenntnisse - tatsächlich - überhaupt nicht weiterbringen - im Großen und Ganzen? Nichts passiert in und mit unserem Wissen, mit unserem Stehen im Sein, wenn jemand erkennt, dass in Wielands „Abderiten“ eine scholastische Quaestio enthalten ist, selbst dann nicht, wenn es allen mitgeteilt würde, also: Nichts passiert – trotz der in der Wissenschaft produzierten Scharen und Heerscharen von Erkenntnis-Momenten, trotz der geballten Kräfte unserer Schrittchen- und Schrittelchen-Wissenschaft?
Deutlicher wird dieser Haupt-Punkt, wenn wir den Sinnzusammenhang „Erkenntnissuche – Erkenntnisgewinn“ durch den anderen ersetzen: „Frage – Antwort“. Wenn nämlich im Forschen kleine Antworten resultieren, so werden sie wohl auch aus kleinen Fragen herkommen (wie in meiner Proseminararbeit). Und jetzt wird auch klar, warum es sein kann, dass eine geballte Forscher-Kraft wirkungslos bleibt: Wie sollten nämlich kleine Fragen, auch wenn sie sehr viele oder unzählige sind, zu großen Antworten führen können? Wenn wir hier auf die Mathematik, konkret: die Addition bauen (Viele 1 zusammen ergeben eine sehr große Zahl!), so werden wir in der Forschung Schiffbruch erleiden. Folglich: Große Erkenntnisse werden also auch nur aus großen Fragestellungen zu erwarten sein.
Nur ergibt sich nun auf Menschenebene ein übergroßes Ameisen-Problem: Die einzelne Wissenschafts-Ameise traut sich nicht mehr, das von ihr Gefundene der Wissenschafts-Gesellschaft als einen Schatz zu offerieren, der für die Gesamtheit von Bedeutung sei, und sie schätzt wohl ihre kleine Schatz-Findung hierbei auch durchaus realistisch ein, denn es wäre unangebracht, vermessen, wenn sich hier der eine vor dem andern hervortun wollte („Schaut meine Erkenntnisse an, sie sind viel wichtiger als seine oder ihre!“).
Nun genauer betrachtet: Das Große traut sich keiner mehr in der Wissenschaft, denn da ist dieser ständig weiterwachsende Wissensturmbau, den niemand mehr zu durchdringen resp. zu bezwingen wagt, und wenn man ins Große gehen wollte, würde man zwangsläufig vieles Einzelne zusammensehen und mitverarbeiten müssen, wodurch ein „Risiko eigener Unwissenschaftlichkeit“ entstünde, was von der Existenz der einzelnen Wissenschafts-Ameise aus gesehen (die ja vermutlich oder zumeist sich selbst am nächsten steht), als unnötig und überflüssig eingestuft werden wird, so dass sie in ihrem Forschen vom Gesamtanliegen lieber einmal abstrahiert (aus gewissen intellektuellen Überlebensgründen, über die wir nicht unbedingt sprechen müssen...).
Keiner ist gewillt, seine Wissenschafts-Existenz aufs Spiel zu setzen. – Also begnügt man sich mit kleineren Fragestellungen (die wissenschaftlich auch besser zu überblicken, zu handhaben, zu vertreten, zu verteidigen, zu behaupten sind), selbst dann, wenn diese „Kleinkram-Fragen“ im Grunde niemand braucht und kaum jemand haben will, weshalb sie unsere Bibliotheken zwar „bereichern“, nicht unbedingt gratis, dafür aber vielleicht frustra - aufs Große und Ganze gesehen?
Möglicherweise wäre unserer Menschheit mehr geholfen mit einem einzigen „Irrsinnigen“, der zumindest einmal wieder den Versuch macht, ins Große und Ganze zu blicken, selbst wenn er nicht recht weiß, wovon er spricht, als mit 100 000 Einzelwissenschaftlern, die ganz genau wissen, wovon sie reden (können) und die daher keine Angst haben müssen, das Wort zu ergreifen, weil sie ihr kleines Blickfeld beherrschen und kontrollieren können, so dass ihnen hier – in ihrem Minimal-Expertentum oder auch Mini-Königreich - niemand etwas kann?
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Und damit werden wir aus unserem hochkomplex gewordenen Wissenschaftsgeflecht, das uns ernsthaft zum Wissensdickicht geworden ist, zurückverwiesen auf die ursprüngliche Seite unseres Erkenntnisstrebens, auf die Philosophie, die durch ihre große Fragestellung resp. ihre Fragestellung ins Große und Ganze ursprünglich auch konstituiert war.
Und zur Philosophie gehört dies, Einzelerkenntnisse zu einer Ganzheit zu runden, wie es etwa noch ein Hegel in seiner „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“ getan hat. Danach aber scheint diese Verfahrensweise nicht mehr praktiziert worden zu sein, weil es vielleicht auch nicht mehr möglich war, die (mehr und mehr auseinanderdriftenden) Einzelerkenntnisse in eine ganzheitliche Weltanschauung (eines Einheits-Gesichtspunktes) zusammenzusehen?
Und so können wir fragen: War in früheren Zeiten der heute fehlende zweite Schritt einer konzertierten Aktion des (das Einzelne zusammensehenden, philosophischen) Schatz-Hebens noch möglich? Hegel scheint hier ein Ende zu markieren, indem im 19. Jahrhundert ein weltanschaulicher Umbruch stattfand, von einer bis dahin möglich gewesenen „Philosophie des Geistes“ hin zu einer „Wissenschaft der Materie“, und sinnbildlich behauptete der Hegel-„Schüler“ Karl Marx, die Hegelsche Philosophie vom Kopf auf die Füße stellen zu wollen oder auch gestellt zu haben, was man aus Hegelscher oder „Lehrer“-Sicht wohl eher ein Geköpft werden des menschlichen Geistes nennen müsste (aber Hegel war bereits tot und konnte sich nicht mehr zu seinem "Schüler" äußern), so dass sich für den Verlauf der geistesgeschichtlichen Entwicklung des 19. Jahrhunderts ergibt: In der sog. klassischen Zeit der Literatur (Weimarer Klassik) erreichte auch die Philosophie im Deutschen Idealismus ihre klassische Höhe, erhob sich zu höchster Gedankenhöhe, stürzte dann aber im Nachgang ab in ein materialistisch-atheistisches Denken, und seither liegt das menschliche Weltanschauen am Boden (der Materie)...
Kants erkenntnistheoretisches "Ergebnis" wies schon vorher in dieselbe Richtung: Es muss die Spekulation in der Philosophie aufgebeben werden, weil sie sich im Bodenlosen und damit im Unüberprüfbaren bewege, wo Jeder Alles als wahr behaupten könne. So gesehen war sein Ergebnis: Die Philosophie kann das nicht, was sie will, erkennend ins Große und Ganze zu gehen. Der Deutsche Idealismus bestritt dies zunächst noch. Und dann wurde marxistisch-materialistisch „nachgesteuert“ oder auch „aufgeräumt“ - und der geistig-spekulativen, groß ins Ideale ausgreifenden Sichtung der Dinge ein Ende gesetzt.
Das Arbeitsteilungs-Prinzip unserer Wissenschaft zeigt aber noch einen anderen Schwachpunkt, nicht nur den, dass über der überdimensioniert gewordenen Wissensmenge, die die Einzelwissenschaften anhäufen, ansammeln und ansammeln und weiter ansammeln, sich keiner mehr findet, der den – inzwischen - irrwitzigen Versuch wagen und unternehmen würde, dieses Erkenntnis-Monstrum zu bändigen resp. in sich zu durchdringen und zu einer Wissens-Rundung zusammenzuführen.
Dieser andere Schwachpunkt liegt benachbart dem bereits oben genannten, dass die Einzelwissenschaften sich nicht miteinander verbinden.
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Denken wir uns - anschaulich vereinfacht - „die Wissenschaft“ als bestehend aus 100 Forschern resp. Forschungsrichtungen. Dann gibt es auch klare Erkenntnis-Zuordnungen, wir könnten auch sagen: Zuständigkeits-Abgrenzungen innerhalb dieser 100 Wissenschaftszweige.
Nun ist es wissenschaftsgeschichtlich passiert, dass ein Sigmund Freud „das Unbewusste“ entdeckt hat, und weil dieses ..."Unbewusste" offensichtlich zum seelischen Bereich des Menschen gehört, also zur Psychologie, ist es also nun am Psychologen, dieses näher zu erforschen, und so kommt die Tiefenpsychologie als neue Untersparte zur Psychologie dazu. Also handelt unsere Wissenschaft hier nach der Maxime: „Du, Tiefenpsychologe, untersuchst stellvertretend für uns alle das Unbewusste, und…“ - jetzt kommt die Crux des Arbeitsteilungsprinzips – „…wir anderen 99 machen einfach so weiter wie bisher, so nämlich, als gäbe es kein Unbewusstes als blinden Fleck unserer selbst und wir alle hätten eine souveräne, herrschaftliche Ratio.“ Die „Erkenntnis des Unbewussten“ wirkt somit - wissenschaftsorganisatorisch - nur innerhalb der Psychologie weiter, alle anderen Wissenschaften bleiben hiervon unberührt und in sich unverändert.
Dies ist unsere moderne Wissenschaftspraxis? Wenn ein Wissenschaftszweig einen gravierenden Fortschritt tut, so greifen die anderen Wissenschaftszweige ihn nicht auf, um ihn in sich zu integrieren und auf dieser neu gewonnenen, verbesserten gemeinsamen Wissensgrundlage dann neu weiterzumachen. Jeder bleibt bei seiner Forschung und Fragestellung, und sie wird durch die gefundenen Antworten der anderen nicht tangiert und nicht verändert. Also haben wir streng genommen nicht eine Wissenschaft, sondern viele Wissenschaften, die mit den andern nichts zu tun haben und auf ihrem eigenen Teile-Blick beharren.
Drehen wir das Rad der Wissenschaftsgeschichte ein paar Jahrhunderte zurück. So ist es wissenschaftsgeschichtlich auch passiert, dass ein Nikolaus Kopernikus konstatierte, dass sich die Erde um die Sonne drehe, nicht umgekehrt. Und wenn wir nun unser gegenwärtiges, arbeitsteiliges Wissenschaftshandeln damals schon praktiziert hätten (indem die Gelehrten damals schon keinen allgemeineren, fachübergreifenden Bildungshorizont mehr gesucht hätten), so wäre folgender Handlungsgrundsatz herausgekommen: „Du, Astronom, erforscht uns die Heliozentrik weiter, und wir anderen 99 bleiben zwischenzeitlich bei der Geozentrik als dem Wahren“…?
Wir sehen daran, dass das Delegations- oder Arbeitsteilungs-Prinzip in der Wissenschaft eigentlich gar nicht funktionieren kann: Eine Erkenntnis hier hat Auswirkungen auf das Erkennen dort, und so muss sie von allen Einzelwissenschaften rezipiert und ins eigene fachspezifische Erkenntnisstreben mit hereingenommen werden. Keine Einzelwissenschaft kann sagen, die Erkenntnisse der anderen interessierten sie nicht, berührten sie nicht, gingen sie nichts an.
Und so können wir als einen weiteren, wichtigen Punkt in unserer Sichtung des Erkenntnisstrebens selbst festhalten: Dieses Erkenntnisstreben bleibt nicht sich selbst gleich, sondern entwickelt sich in sich selbst weiter (sollte es jedenfalls), und zwar durch sein eigenes Tun, durch sein Auffinden von Erkenntnissen.
Und vermutlich sagen dies unsere Forscher und Wissenschaftler auch nicht einmal, dass sie die Forschung der Anderen nichts anginge, aber sie stehen trotzdem auf dem Standpunkt: „Meine Sache ist mein Einzelgegenstand. Die Wissens-Zusammenführung ist meine Sache nicht. Das sollen Andere tun. Ich habe dafür keine Zeit oder will mir dafür keine Zeit nehmen, denn mein (hochinteressanter) Gegenstand absorbiert schon meine Erkenntniskräfte ganz und gar.“
In unserem Ameisen-Vergleich würde dies bedeuten, dass die einzelne Ameise sagt: Meine Suche für uns alle absorbiert so sehr meine Kräfte, dass niemand von mir verlangen kann, dass ich irgendwann zu den Anderen zurückgehe, um sie über meine Schätze zu informieren, denn ich könnte dadurch wertvolle Zeit für meine eigene Forschung und Schatz-Sichtung verlieren. Daher sollen Andere diese Rückinformation geben, irgendwann später, ich jedenfalls nicht - womit dann das Suchen als solches tatsächlich ad absurdum geführt ist, indem das gemeinsame Erkenntnis-Ziel aus dem Auge verloren wäre.
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Und wenn wir nun bedenken, dass ausgerechnet diejenige „Forschungsrichtung“, die das Große und Ganze definitiv und konstitutiv im Auge behalten will, die Philosophie, aus dem Erkenntnis- oder Wissenschaftsverband mehr oder weniger herausgefallen ist, so können wir fragen, ob nicht auf diese Weise sozusagen das existenzielle Forscher-Selbst aus unserer Wissenschaft eliminiert wurde, so dass die Menschheit heute eine Unmenge an Erkenntnissen aufstaut, die niemand mehr organisch-lebendig in die Existenz des Menschen hinein- und zu einer Bildung im Sein zusammenführt?
Das Forscherdasein hat sich irgendwie herausgemogelt aus der menschlichen Existenz, in eine fiktive, künstliche, klinisch-experimentelle „vita theoretica“ hinein, und der nach Erkenntnis strebende Mensch verliert die Einheitlichkeit seiner Existenz, die er als (alter) Philosoph noch gehabt hat, und beginnt streng genommen ein schizophrenes Leben: der Forscher als Forscher und der Forscher als Mensch. So koppelt sich das "Wissen" vom Selbst und "Leben des Menschen" ab und wird zu einem virtuellen „Eigenleben“ (besser: Pseudoleben): Erkenntnisse häufen und häufen sich an, weiter und weiter. Aus jeder Forschungsrichtung wird eine Unmenge an Material herbeigeschafft, aber: für später, für niemals, für niemanden, für die Katz…
Diese künstliche Spaltung der einen und einzigen menschlichen Existenz zeichnet sich schon bei Thales ab, über den berichtet wird, er habe sinnierend in den Himmel geblickt und sei hierbei in eine Grube gestürzt. Und eine thrakische Magd habe dies beobachtet und sei – völlig zu Recht – lauthals in Lachen ausgebrochen.
Dieser Text basiert auf dem Artikel "Thales" (externer Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Thales) aus der freien Enzyklopädie "Wikipedia" (externer Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Hauptseite) und steht unter der Lizenz "Creative Commons CC-BY-SA 4.0" (externer Link: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/legalcode.de). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren des Artikels "Thales" verfügbar, dort unter dem Reiter "Versionsgeschichte". Abrufdatum des Artikels: 11.02.2024.
Wie Thales nicht darauf achtete [vita theoretica], wo er hinging [vita activa], so, fürchte ich, wissen auch wir heute nicht mehr, wo wir kulturell-gesellschaftlich hingehen, vor lauter Forschen und Suchen und Sammeln und Weitersammeln… Wollte ich mich mit der thrakischen Magd vergleichen - weil auch ich versuche, unsere Wissenschaft von außen zu sehen -, so müsste ich heute sagen: Das Lachen ist mir vergangen.
***
Und wenn wir nun einmal versuchsweise unsere Aufmerksamkeit verlagern, wir könnten auch sagen: unsere Tiefenschärfe in der Betrachtung ändern, weg vom Bewusstsein unserer Wissenschaft hinein in ihr Unbewusstes, von welchem sie ja annimmt und voraussetzt, sie habe gar kein solches, ich könnte auch sagen: von dem sie einfach nicht spricht...
weil sie ja reine Ratio sei, klarstes Wachbewusstsein, sich befindend in der puren Helligkeit eigenen Aufgeklärt seins und des erkenntnismäßigen Herr seins über sich selbst...
- was zeigt sich uns dann?
Dann sehen wir „die Wissenschaft“ als eine menschheitliche, zeitenübergreifende Großunternehmung, die von sich selbst glaubt, an der Spitze der Zeit und Gegenwart zu stehen und der souveräne, herrschaftliche Macher und Motor unseres Wissens – und somit wenigstens auch prinzipiell - unserer Welt und Wirklichkeit zu sein, sozusagen der Inbegriff des Progressiven und Innovativen, der vielleicht nur deshalb nicht (in der Welt) voll zum Zuge kommen kann, weil er faktisch politische Mächte und Kräfte und Lobbys gegen sich hat, die seinem Fach-Rat nur eklektisch folgen und seine fundiert-prophetischen Warnungen in den Wind schlagen.
Zugleich können wir aber auch das sehen, was „die Wissenschaft“ selbst nicht sieht und vielleicht sogar für gänzlich ausgeschlossen und unmöglich hält: Eine erzkonservative Institution, die an einer althergekommenen Definition des Menschen – „animal rationale“ – ungebrochen festhält; eine Institution, in der sich die Nachfolgenden sagen: „Ich mache das nach, was mir meine Vorgänger vorgemacht haben: Das ist doch nicht schlecht?“; eine Institution, die nicht bemerkt oder realisiert, dass jene Definition, auf welche sie sich selbst einstmals gründete, durch sie selbst längst überholt und gleichsam annulliert wurde…
Und was folgt aus solchem gewohnheitsmäßig eingeübten, motorisch-mechanischen, un-vernünftigen Wissenschaftsverhalten? Was folgt aus einer solchen falschen Selbstsicht eigener Progressivität (bei Erzkonservativität)? Es folgt daraus, dass „die Wissenschaft“ ihre eigenen Erkenntnisse nicht mitmacht!
„Die Wissenschaft“ hat geistesgeschichtlich durch und seit Freud ihr eigenes Fundament untergraben und hält es trotzdem als vermeintlich tragfähig weiterhin fest, scheint insofern nicht bereit, ihre eigenen Erkenntnisse in sich aufzunehmen, auf sich selbst anzuwenden und so die Notwendigkeit einer Selbstveränderung, einer Wandlung, einer möglichen Wert- und Wirkungs-Steigerung ihrer in sich selbst zu erkennen?
Sie erkennt nicht, dass sich nicht nur in ihr etwas tut, sondern dass hierbei auch etwas mit ihr geschieht (denn ihr existenzielles Selbst hat sie ja preisgegeben, gleichsam annulliert). Sie hat vergessen, dass das Erkenntnisstreben eine ursprünglich existenzielle Angelegenheit des Menschen gewesen ist (und auch bleiben muss) und dass folglich Erkenntnis immer auch Selbsterkenntnis ist und sein muss. Und wenn sich nun im Erkennen etwas tut, so muss sich also auch mit dem Menschen, der dieses Erkennen betreibt, etwas tun, mit seinem Selbst, mit seinem Ich-Sein inmitten einer Welt des Anderen und Fremden um ihn herum…
…wobei beachtet werden
sollte, dass dieses Anders- und Fremdsein selbst
inzwischen ein Anderes geworden ist, deutlich weniger
„fremdartig“ und „geheimnisvoll“ als in früheren Zeiten, so
dass ein innerer Zusammenhang zwischen Selbstsein und
Fremdsein, zwischen „Uns und dem/den Anderen“, vermutet werden
kann. Und in dem Maße, als sich Selbst- und Wir-Sein verändert,
verändert sich auch das Fremde- und Andere-Sein, so dass
"Fremde" und "Andere" Termini sein könnten, die prinzipiell -
soll heißen: im Prinzip des Seins - zum Verschwinden gebracht
werden könnten...
…und man könnte nun spekulativ die Frage aufwerfen, was mit uns selbst passieren würde, wenn es jemals gelänge, das Fremde und Andere komplett zu durchdringen und also in "seinem" Fremd- und Anders-Sein aufzuheben? Müssten sich dann nicht alle „Ich-selbste“ mit dem Ganzen des Seins identifizieren? Was aber würde dann aus dem „Glauben an Gott“ und was würde mit dem „Gott selbst“ werden? Oder ist die moderne Frage nach Gott zuletzt nur ein Interims-Tiefen(un)schärfeproblem unseres eigenen Geistes?
Näher besehen müssten wir also – falls unsere Wissenschaft bleibt, wie sie ist - heute die altaristotelische Definition des Menschen als eines rationalen, also „erkenntnisgewinnenden Wesens“ umändern, sagen wir: berichtigen: „Der Mensch ist ein Wesen, das Erkenntnisse sinnlos sammeln kann, weil es selbst durchaus nicht gewillt ist, sie verändernd (und fruchtbringend) auf sich selbst zur Anwendung zu bringen.“
Damit hätten wir dann zugleich eine zutreffende Definition unserer heutigen, peripher gewordenen, existenzverwaisten „die Wissenschaft“, die als solche überhaupt keine Existenz hat, denn sie ist keine „Person“, ist ein „Abstraktum“, "in sich“ leblos, ein virtuelles Etwas, ein hypostasierter Götze, von welchem sich Menschen aber nach wie vor viel versprechen, in eine ewige - um nicht zu sagen: zunehmend irreal werdende - Zukunft hinein.