Leseprobe 11

                                                 Enthalten die biblischen Worte eine literarische Differenzierungs-Schärfe?

Die Frage Jesu hätte Petrus also zu denken geben sollen. Er hätte sich fragen sollen: „Warum stellt mir Jesus eine solche Frage? Kann es sein, dass mit mir selbst irgendetwas nicht stimmt? Dass ich in und an mir selbst irgendetwas Gravierendes übersehe? Dass ich womöglich nicht das rechte, angemessene Selbstverhältnis resp. nicht die richtige Selbsterkenntnis oder Selbstsicht habe?“

Die Fragesituation bleibt in der Perikope unaufgelöst, und damit ist ein gewisser Störfaktor sichtbar gemacht. Stör- oder Missverstehens-Fälle, kleine Nebenbei-Erlebnisse, erfährt man im Leben öfters, und man neigt dazu, sie zu übergehen, also als „nicht so wichtig“ und letztlich als „irrelevant“ einzuschätzen. Genau das kann einem auch in dieser Perikope passieren, dass wir einfach über die Fragerei hinweglesen, als wäre nichts (Wichtiges) gesagt worden und nichts passiert. Aber in einem Evangelium, zumal in einem Johannesevangelium, in welchem es vornehmlich um Geistverhältnisse geht, ist ein solches Darüber-Hinweggehen nicht am Platz. Wir behalten also den „Störfaktor“ lieber einmal im Hinterkopf, sozusagen als literarisch beabsichtigte Vorabinformation für das Weitere.

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Und genau deshalb wollen wir, sicherheitshalber, nochmals in die Perikope zurückblicken, näher hineinsehen, bevor wir weiterlesen. Und dann wird literarisch auffällig, dass auch Jesus nicht dreimal ein und denselben Antwort-Satz wiederholt, denn beim ersten Mal antwortet er „Weide meine Lämmer“, die anderen beiden Male antwortet er „Weide meine Schafe“. Na und? Wo liegt der Unterschied? Der Unterschied liegt in der Zeit, die es braucht, damit aus Lämmern Schafe werden können. Rein literarisch ist somit indiziert, dass ein gewisser Zeitraum in Betracht kommen soll. Und dann dürfen wir die drei Fragen nicht als direkt hintereinander erfolgend betrachten, nicht als ausschließlich gerichtet an Petrus selbst, sondern vielleicht verteilt auf die Zeit, in der es die Gemeinde der Christenheit „zu weiden“ gilt, also kirchengeschichtlich, somit auch gerichtet an die Petrus-Nachfolger.

Und dann steht auch die weitergehende Frage im Raum, dass es womöglich nicht genügen wird, wenn die späteren Hirten schlicht dasselbe tun werden, was der anfängliche Hirte (Petrus) getan hat, um die Schafe angemessen zu weiden. Wir kennen dies heute in jedem Beruf, dass es erforderlich ist, sich fortzubilden, dass also die „alten Anforderungen“ irgendwann – und in heutiger Zeit: sehr bald - nicht mehr genügen, weil die Zeit ein Realitätsfaktor ist, den man nicht einfach außen vor lassen kann.

Und so gilt vielleicht auch für die Christenheit, dass sie nicht sub specie aeternitatis betrachtet und behandelt werden darf, sondern unterschiedlich, je nach den ggf. neuen Anforderungen der neuen Zeitverhältnisse, so, wie auch ein moderner Vertriebsgrundsatz lautet: „Es ist falsch, alle Kunden gleich zu behandeln, und es ist richtig, jeden Kunden individuell zu behandeln“, soll heißen, es gibt nicht ein probates Weide-Mittel für alle Zeiten, sondern auf die Menschen jeder Zeit muss so zugegangen werden, wie sie es in ihrer geschichtlichen resp. heilsgeschichtlichen Geistentwicklung jeweils erfordern.

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Nun könnte der Eindruck entstanden sein, hier würden Dinge an den Haaren herbeigezogen. Aber: Der "Fadenscheinigkeit" dieser Bibelauslegung steht die "Fadenscheinigkeit" der schlussfolgernden Herleitung der päpstlichen Machtbefugnis gegenüber… Behalten wir auch dies im Hinterkopf, zusätzlich zum „Störfaktor“, und sehen wir uns nun die nachfolgende Perikope an. Sie ist die letzte des Johannesevangeliums, abgesehen von den zwei Abschlussversen des zweiten Schlusses (Joh. 21,24f, vgl. Joh. 20,30f).

entnommen: 3. ABC-Versuch einer neuen Wahrnehmung des alten Seins, aus der angenommenen Misere-Situation unserer Gegenwart der Moderne heraus, dort unter I 35.

I. SCHLUSS - Teil 1

   27. Im Ende liegt der Anfang
   28. Das Rufen des Geistes - hindurch durch seinen Verruf
   29. Verschlingung des Anfangs ins Ende – Bogen-Technik und Lagen-Wechsel der Bibel
   30. Die Musik ertönt, indem das Instrument „verschwindet“
   31. Das Soziale muss zum Chorgesang werden
   32. Warum ich mein Buch nicht mehr „ordnungsgemäß“ zu Ende schreiben kann
   33. Das letzte Buch unseres Buches enthält unseren Geschichtsweg

I. SCHLUSS - Teil 2

   34. Die Schlüsselgewalt liegt im Erkennen
   35. Warum verweigert Jesus seinem „Felsen Petrus“ die Kommunikation?
   36. Wird die Petrus-Tradition von den Pforten der Unterwelt überwältigt werden?