Enthalten die biblischen Worte eine literarische
Differenzierungs-Schärfe?
Die Frage Jesu hätte Petrus also zu denken geben sollen. Er
hätte sich fragen sollen: „Warum stellt mir Jesus eine solche
Frage? Kann es sein, dass mit mir selbst irgendetwas nicht
stimmt? Dass ich in und an mir selbst irgendetwas Gravierendes
übersehe? Dass ich womöglich nicht das rechte, angemessene
Selbstverhältnis resp. nicht die richtige Selbsterkenntnis oder
Selbstsicht habe?“
Die Fragesituation bleibt in der Perikope unaufgelöst,
und damit ist ein gewisser Störfaktor sichtbar
gemacht. Stör- oder Missverstehens-Fälle, kleine
Nebenbei-Erlebnisse, erfährt man im Leben öfters, und man neigt
dazu, sie zu übergehen, also als „nicht so wichtig“ und
letztlich als „irrelevant“ einzuschätzen. Genau das kann einem
auch in dieser Perikope passieren, dass wir einfach über die
Fragerei hinweglesen, als wäre nichts (Wichtiges) gesagt worden
und nichts passiert. Aber in einem Evangelium, zumal
in einem Johannesevangelium, in welchem es vornehmlich
um Geistverhältnisse geht, ist ein solches Darüber-Hinweggehen
nicht am Platz. Wir behalten also den „Störfaktor“ lieber
einmal im Hinterkopf, sozusagen als literarisch beabsichtigte
Vorabinformation für das Weitere.
***
Und genau deshalb wollen wir,
sicherheitshalber, nochmals in die Perikope zurückblicken,
näher hineinsehen, bevor wir weiterlesen. Und dann wird
literarisch auffällig, dass auch Jesus nicht dreimal
ein und denselben Antwort-Satz wiederholt, denn beim ersten Mal
antwortet er „Weide meine Lämmer“, die anderen beiden Male
antwortet er „Weide meine Schafe“. Na und? Wo liegt der
Unterschied? Der Unterschied liegt in der Zeit, die es
braucht, damit aus Lämmern Schafe werden können. Rein
literarisch ist somit indiziert, dass ein gewisser Zeitraum
in Betracht kommen soll. Und dann dürfen wir die drei
Fragen nicht als direkt hintereinander erfolgend betrachten,
nicht als ausschließlich gerichtet an Petrus selbst, sondern
vielleicht verteilt auf die Zeit, in der es die Gemeinde der
Christenheit „zu weiden“ gilt, also kirchengeschichtlich, somit
auch gerichtet an die
Petrus-Nachfolger.
Und dann steht auch die
weitergehende Frage im Raum, dass es womöglich nicht genügen
wird, wenn die späteren Hirten schlicht dasselbe tun werden,
was der anfängliche Hirte (Petrus) getan hat, um die Schafe
angemessen zu weiden. Wir kennen dies heute in jedem
Beruf, dass es erforderlich ist, sich fortzubilden, dass also
die „alten Anforderungen“ irgendwann – und in heutiger Zeit:
sehr bald - nicht mehr genügen, weil die Zeit ein
Realitätsfaktor ist, den man nicht einfach außen vor
lassen kann.
Und so gilt vielleicht auch für
die Christenheit, dass sie nicht sub specie aeternitatis
betrachtet und behandelt werden darf, sondern
unterschiedlich, je nach den ggf. neuen Anforderungen der neuen
Zeitverhältnisse, so, wie auch ein moderner
Vertriebsgrundsatz lautet: „Es ist falsch, alle Kunden
gleich zu behandeln, und es ist richtig,
jeden Kunden individuell zu behandeln“,
soll heißen, es gibt nicht
ein probates Weide-Mittel für alle Zeiten,
sondern auf die Menschen jeder Zeit muss so zugegangen
werden, wie sie es in ihrer geschichtlichen resp.
heilsgeschichtlichen Geistentwicklung jeweils
erfordern.
***
Nun könnte der Eindruck entstanden sein, hier würden Dinge
an den Haaren herbeigezogen. Aber: Der
"Fadenscheinigkeit" dieser Bibelauslegung steht die
"Fadenscheinigkeit" der schlussfolgernden Herleitung der
päpstlichen Machtbefugnis gegenüber… Behalten wir auch dies im
Hinterkopf, zusätzlich zum „Störfaktor“, und sehen wir uns nun
die nachfolgende Perikope an. Sie ist die letzte des
Johannesevangeliums, abgesehen von den zwei Abschlussversen des
zweiten Schlusses (Joh. 21,24f, vgl. Joh. 20,30f).
entnommen: 3. ABC-Versuch
einer neuen Wahrnehmung des alten Seins, aus der angenommenen
Misere-Situation unserer Gegenwart der Moderne heraus, dort
unter I 35.
I. SCHLUSS - Teil
1
27. Im Ende
liegt der Anfang
28. Das Rufen des
Geistes - hindurch durch seinen
Verruf
29. Verschlingung des Anfangs
ins Ende – Bogen-Technik und Lagen-Wechsel der
Bibel
30. Die Musik ertönt, indem
das Instrument „verschwindet“
31.
Das Soziale muss zum Chorgesang
werden
32. Warum ich mein Buch nicht
mehr „ordnungsgemäß“ zu Ende schreiben
kann
33. Das letzte Buch unseres
Buches enthält unseren Geschichtsweg
I. SCHLUSS - Teil 2
34. Die Schlüsselgewalt liegt im
Erkennen
35. Warum verweigert Jesus seinem „Felsen
Petrus“ die Kommunikation?
36. Wird die Petrus-Tradition von den Pforten der Unterwelt
überwältigt werden?