I. SCHLUSS - Teil 2
34. Die Schlüsselgewalt liegt im Erkennen
Ich hoffe, im Wesentlichen alles aus mir herausgesetzt zu haben, was ich in mir trage. Wünschenswert wäre auch, ich hätte in meinem geistesgeschichtlich-biographischen Versuch, das zu reproduzieren, was mir – mutmaßlich - präexistent mitgeteilt wurde, bereits jenes Hinaufhören und In-Sein eingeübt oder praktiziert, wie es allen Geistwesen laut Bibelauskunft zu eigen ist bzw. sein sollte. Wünschenswert wäre außerdem, ich hätte in meiner Sichtung des Werks des Anthroposophen dem Anliegen der anthroposophischen Bewegung entsprochen und damit auch jenes Hand-in-Hand-Arbeiten zwischen Aristotelikern und Platonikern ein Stück weitergeführt, wie es laut höherer Auskunft durch den Anthroposophen unsere Geistesgeschichte bereits seit Jahrhunderten und Jahrtausenden durchzieht, wenn auch aus irdischer Sicht bisher unbewusst.
Und wenn ich dem Anthroposophen hierbei widerspreche, nämlich seiner m.E. voreiligen Identifizierung der irdischen Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft mit der himmlischen anthroposophischen Bewegung, so vor allem auch deshalb, weil ich ihn nicht als „Guru“ betrachte und ihn nicht für unfehlbar halte, wie er sich selbst übrigens auch nicht. In seinem Buch „Aus der Akasha-Chronik“ gibt es eine entsprechende Äußerung von ihm:
„Um einem möglichen Irrtum vorzubeugen, sei hier gleich gesagt, daß auch der geistigen Anschauung keine Unfehlbarkeit innewohnt. Auch diese Anschauung kann sich täuschen, kann ungenau, schief, verkehrt sehen. Von Irrtum frei ist auch auf diesem Felde kein Mensch; und stünde er noch so hoch.“
(Im Vorwort zu „Aus der Akasha-Chronik“, erstmals 1904, hier: GA 11, S. 23)
Diese Textwiedergabe
des Bandes GA 11 "Aus der Akasha-Chronik" der
Rudolf Steiner Gesamtausgabe (deren Herausgabe dem Rudolf
Steiner Verlag obliegt) basiert auf der Werkbearbeitung einer
älteren Ausgabe dieses Bandes GA 11 (externer Link: https://steiner.wiki/GA_11), durch die freie
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zu GA 11 verfügbar, dort unter dem Reiter "Versionsgeschichte".
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Anliegen" auf der SeinerWiki-Hauptseite, GA 11 abgerufen am
11.06.2024.
Er vereint nicht schon deshalb beides – den Aristoteliker und den Platoniker – in sich, weil er derjenige ist, der über beide zuerst spricht. Er ist kein Schiedsrichter unserer Geistesgeschichte, sowenig der Papst oder das Papsttum Schiedsrichter der Christenheit ist, dem ich die Unfehlbarkeit ebenso aberkenne, auch wenn er – und viele mit ihm – subjektiv an sie glauben mag. Und ich will auch nicht glauben, dass der …mitleiderregende römisch-katholische „Geistes-Wahrheits-Schatz“ ein Abbild des „Reichtums“ des Heiligen Geistes sei.
Zuletzt weiß ich auch nicht, ob es richtiger gewesen wäre, das eine oder andere unausgesprochen zu lassen, also zu verschweigen, beispielsweise die Benennung der Idee des Seins, oder wenigstens die "blasphemische" prinzipielle In-eins-Setzung des menschlichen und göttlichen Geistes und das „gottlose“ Hineingehen in sie - die Idee meiner selbst, ggf. auch Idee unserer selbst.
Denn man könnte sich auch auf den Standpunkt stellen, diese Idee bzw. dieses Hineingehen sei von jedem Individuum selbst zu finden, oder eben: nicht zu finden. Dem steht aber gegenüber die prinzipielle Frage, ob Erkenntnisse, die geistesgeschichtlich gefunden werden, von den Individuen nur stellvertretend für den allgemeinen Geistesfortschritt gefunden werden, soll heißen, ob sie nun Leistung des Individuums als solchen oder Leistung des Individuums als Stellvertretung des allgemeinen Geistes sind? Und je nach Beantwortung dieser Frage ist es entweder verantwortlich, die Idee des Seins mitzuteilen, oder aber, die Idee des Seins zu verschweigen.
Beim Anthroposophen habe ich auch gelesen, dass er hie und da (sinngemäß) sagt: Zu diesem Zeitpunkt konnte dieses oder jenes noch nicht mitgeteilt werden, weil die Zeit noch nicht reif war. Heute nun ist sie reif etc. Auf der anderen Seite stellt er sich auf den Standpunkt zu sagen, es sei richtig und zeitangemessen, dieses und jenes allgemein und öffentlich mitzuteilen, weshalb er entsprechende Bücher verfasste und veröffentlichte, und ich glaube, es gibt auch die These oder Vermutung, er sei vergiftet worden, und zwar deshalb, weil er Dinge mitteilte, über welche Andere der Auffassung waren, sie dürften entweder „überhaupt nicht“ oder „noch nicht“ mitgeteilt werden.
Ich selbst habe keinen solchen „sicheren Urteils-Maßstab“, und deshalb enthält diese Website das, was sie eben enthält, eher ein Zuviel als ein Zuwenig, um sicher alles offenzulegen, was ich meine, mitteilen zu können oder zu sollen. Ein Zuviel wird dann - hoffentlich - eher nur mir persönlich zum Schaden gereichen, ein Zuwenig hingegen der Allgemeinheit, und wenn ich den möglichen Gesamtschaden einer möglichen „Auftragsverfehlung“ möglichst geringhalten will, muss ich mich wohl für das mögliche Zuviel entscheiden.
Eine alternative Möglichkeit wäre gewesen, ich hätte meinen "Auftrag" zur Einbildung erklärt, hätte nicht und niemals darüber gesprochen oder geschrieben, wäre ins materialistische Leben unserer Zeit ein- und untergetaucht und hätte mich als schuldlos-naiven Materialisten unter schuldlos-naiven Materialisten ausgegeben. Allein: Sie ist mir nicht mehr mög-lich.
Hesse formuliert:
"Es wird dahin kommen, dass man auch auf dem Gebiet der Krankheiten und Gesundheiten die Relativität entdeckt und wahrnimmt, dass die Krankheiten von heute die Gesundheiten von morgen sein können, und dass nicht immer das Gesundbleiben das untrüglichste Symptom für Gesundheit ist."
(Lektüre für Minuten, Nr. 368, S. 142, hg. Volker Michels, suhrkamp taschenbuch 7, 16. Aufl., Frankfurt am Main 1971, entnommen aus: Schriften zur Literatur I, in: Die Welt der Bücher. Betrachtungen und Aufsätze zur Literatur, hg. Volker Michels)
In gewisser Weise folgt für mich daraus der Satz, dass ich mir um meine Gesundheit nicht die allergrößten Sorgen machen muss, weil ich sie als solche ja nicht einmal kenne. Also kann ich - mindestens ebenso gut - einmal das Gegenteil glauben (und zu denken versuchen): Ich bin aus dem Sumpf oder der Beklommenheit des Materialismus aufgetaucht und spirituell wach geworden, oder zumindest am Aufwachen...
***
Im Lukasevangelium findet sich ein merkwürdiges Jesuswort:
„Warum findet ihr nicht schon von selbst das rechte Urteil?“ (Lk. 12,57)
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2016 der Katholischen Bibelanstalt GmbH, und
Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016
Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart,
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abgerufen am 19.06.2024.
Jesus spricht hier über die „Zeichen der Zeit“ und verweist auf die „Zeichen des Raumes“, die die Menschen als „Wetter“ zu deuten verstehen, und er meint, wenn sie das eine können, müssten sie doch auch das andere können? Diese Argumentation kann man nicht so ohne weiteres nachvollziehen, weil es doch ein erheblicher Unterschied ist, die zyklische Großwetterlage zu erkennen, über die man Jahr für Jahr reichlich Erfahrung sammeln kann, und im Vergleich dazu die linear voranschreitenden Zeitverhältnisse, über die man keine engmaschig periodisch wiederkehrende Erfahrung sammeln kann, die also in einem ganz anderen Maße ein geschichtliches oder gar überzeitliches Hintergrundwissen voraussetzen - beurteilt aus dem eingeschränkten Wahrnehmungshorizont heraus, den wir derzeit noch haben.
Jesus macht hier aber trotzdem den Jüngern, stellvertretend für die Gesamtmenschheit, Vorhaltungen, weshalb er überhaupt kommen musste. Sinngemäß sagt er: „Aus höchsten Höhen bin ich heruntergekommen zu euch! Und warum dieser ganze Aufwand? Nur, um euch euch selbst mitzuteilen!? Das darf doch nicht wahr sein!? Warum stellt ihr euch hier unten so an? Warum findet ihr nicht schon von selbst das rechte Urteil? Warum lebt ihr nicht in eurer Idee bzw. in unser aller Idee des Seins? Warum könnt ihr nicht von allein „kosmisch rund“ laufen!? Alles, was ihr dazu braucht, liegt doch bereits in euch - der Geist!?“
Sein Satz ergibt eigentlich nur unter der Voraussetzung einer sündlos gebliebenen Geistigkeit Sinn, die von sich aus die Idee des Seins im Blick hat und – selbstverständlich resp. sich selbst verstehend – danach handelt. Nur ist dies nicht die faktische Situation der faktischen Menschheit. Jesus hat dies erkannt, dass sein Selbstverständnis als sündlos gebliebener Geist ein anderes ist als das Selbstverständnis der sündhaft gewordenen Menschen. Deshalb war es angemessen, dennoch zu kommen. Trotzdem möchte er die Sache nicht einfach übergehen, sondern reibt sie den Jüngern mit seinem Satz unter die Nase: „Ihr wisst schon, dass ihr gravierende Fehler gemacht habt. Diese Fehler habt ihr von Generation zu Generation weitergegeben, sie potenzierten sich, und jetzt seid ihr in einer Irrtums-Schluss-Kette wie festgezurrt, aus der ihr aus eigener Kraft nicht wieder herauskommt…“
Unter Voraussetzung dieses (merkwürdigen, eigentlich unverständlichen) Jesuswortes (Lk. 12,57) wäre es für mich geboten gewesen, die Idee des Seins gar nicht erst zu nennen, weil ja jedes Individuum prinzipiell selbst darauf kommen kann bzw. muss. Allein: Jesus ist ja trotzdem gekommen, nicht weil er musste, sondern weil er wollte, weil er also die Notwendigkeit dennoch einsah, gegen dieses sein eigenes (lukanisches) Prinzipien-Wort.
Nun kann ich nicht unterscheiden, welche Erkenntnisse ein Individuum aus sich selbst heraus zu finden imstande ist, und welche nicht. Nicht einmal bei mir selbst. Deshalb halte ich es für angemessen, alles mitzuteilen und nichts zurückzuhalten, in Anlehnung an ein anderes Jesuswort:
„Ich nenne euch hinfort nicht Knechte; denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Euch aber habe ich Freunde genannt; denn alles, was ich von meinem Vater gehört habe, habe ich euch kundgetan.“ (Joh. 15,15)
Lutherbibel,
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abgerufen am 10.04.2024.
Meine Anlehnung an dieses Wort besteht lediglich in Folgendem: Ich bin gewillt, alles mitzuteilen, was ich „gehört“ habe. Dabei weiß ich bis heute nicht, von welchem Geistwesen ich „gehört“ habe, und freilich kann man auch bezweifeln, ob es überhaupt ein „Hören“ gewesen ist, aus dem heraus mein Buch und Text entstanden sind.
***
Die rechte Unterscheidung zwischen „demjenigen, was mitzuteilen ist“, und „demjenigen, was zu verschweigen ist“, wird die wahre Menschengemeinschaft (Kirche Jesu Christi, großer Geschwisterbund, Gemeinde zu Philadelphia) erst noch in die Zukunft hinein zu finden haben. Mitgeteilt oder nicht mitgeteilt werden hierbei jeweils höhere Erkenntnisse, die durch den Beistands- oder Heiligen Geist gewährt werden.
In der Anfangszeit war es das Christus-Bekenntnis des Petrus, in welchem Jesus sichtbar macht, dass Petrus diese wahre Erkenntnis nicht irdisch, sondern himmlisch gewonnen haben muss, vom Vater im Himmel. Und weil in diesem Bekenntnis offenbar ist, dass Petrus am Höheren Geist Anteil gewonnen hat, vielleicht deutlicher und früher als die anderen Jünger, deshalb wird ihm die Schlüsselgewalt übertragen, d.h. genau genommen für die Zukunft zugesagt (Ich werde dir… - mein Griechisch reicht nicht aus…).
Und diese Schlüsselgewalt wird sogleich doppelt definiert als Binde- und Lösegewalt, analog zu der Situation, in der sich Jesus mit den Jüngern augenblicklich befindet: Petrus konnte die Jesusfrage positiv beantworten und Jesus als Christus identifizieren, denn sein Geist oder Erkenntnisvermögen war „gelöst“, die anderen Jünger konnten das nicht, denn ihr Geist war „gebunden“.
Noch deutlicher ausgesprochen wird dieser Kausalitäts-Zusammenhang zwischen Geistempfang und Ausübung der Schlüsselgewalt im Johannesevangelium:
„Da sprach Jesus abermals zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Und als er das gesagt hatte, blies er sie an und spricht zu ihnen: Nehmt hin den Heiligen Geist! Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.“ (Joh. 20,21ff)
Lutherbibel,
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abgerufen am 10.04.2024.
Zuerst muss der Geist kommen, und dieser Geist bringt dann „automatisch“ (= ganz von selbst) die Binde- und Lösegewalt mit sich, die bei Johannes auch in der eigentlich richtigen Reihenfolge genannt wird, denn die Kraft des Erkennens ist das Lösen (Lösung finden, Rätsel oder Problem lösen), sie ist das Erste und Eigentliche, und nur, wenn diese Kraft zwischenmenschlich nicht weitergegeben wird (als Mitteilen von Erkenntnis), wird sie zur Bindegewalt, im Vorenthalten oder Nichtmitteilen der Erkenntnis. Erst muss man lösen können, dann erst kann man auch binden, im Vorenthalten der Lösung.
Diese Macht oder Gewalt hat einen spezifischen Bezug, nämlich das Himmelreich oder Reich Gottes oder Reich des Geistes. Also sind in und mit ihr die Schlüssel zum Himmelreich gegeben, pluralisch genannt, weil mit ihnen sowohl aufgeschlossen als auch zugeschlossen werden kann. Und wenn diese Macht (oder dieses Machen-Können) auf die Sünde bezogen wird, so betrifft sie insbesondere die oberste oder Kapital-Kategorie der Sünde, nämlich die Sünde wider den Geist, in welcher derjenige, der sie begeht, sich selbst verurteilt (als Geistwesen), in einem falschen Selbst-Verständnis, und also bereits sich selbst ausgeschlossen hat vom Himmelreich, so dass er den Zugang nicht mehr finden kann.
***
Nun können wir auch nochmals einfach philosophisch fragen: Was ist das - ein Schlüssel? Ein Schlüssel ist zum Aufschließen und Zuschließen da. Und der Petrus-Schlüssel ist zum Auf- und Zuschließen des Himmelreichs oder Reichs des Geistes da. Und nun kann diese Schlüsselgewalt nicht abstrakt festgehalten werden als eine äußerliche Macht, Menschen innerhalb der Kirche zu behalten oder sie davon auszuschließen (Exkommunikation). In diesem äußerlichen Sinn wurde die Schlüsselgewalt aber verstanden und angewandt, als Machtspiel zwischen Papst und Kaiser, auch gesellschaftlich anerkannt, noch im Mittelalter während des Investiturstreits, so dass der Papst den Kaiser bannen (und gesellschaftlich verurteilen) konnte und dieser sich dann einfallen ließ, dem Bann durch sein Gesellschaftsschauspiel „Gang nach Canossa“ wieder zu entgehen.
Heute sind wir aber in unserer Geistentwicklung weiter, und das heißt: Wer die Schlüsselgewalt innehat, der muss uns das Himmelreich aufschließen können, und zwar konkret-geschichtlich. Das heißt: Er muss Aufschluss geben können über das Wort Gottes in der Zeit, muss also plausibel machen können, dass das Wort Gottes in unserer eigenen Zeit und Wirklichkeit enthalten ist und muss folglich auch das biblische Wort Gottes entsprechend konkret auslegen können, nicht lediglich abstrakt-dogmatisch und damit - angeblich – überzeitlich gültig. Er muss Bibel und Wirklichkeit zusammenhalten und zusammensehen können und uns zeigen, wie unsere Wirklichkeit in der Bibel enthalten ist und wie umgekehrt die biblischen Aussagen in unserer Wirklichkeit greifen. Es ist im Grunde das Reißverschlussverfahren der (dialektischen) Philosophie, das in Bezug auf Alles und Jeden anwendbar sein muss, auch auf Gott und die Bibel und unsere Welt, wie auch immer sie geworden ist und geworden sein wird.
Wie kann der Schlüsselgewalt-Träger das? Durch die Erkenntniskraft des Geistes. Die Schlüsselgewalt ist eine Macht des Geistes, prinzipiell eine Erkenntnismacht (keine juridische Macht), die zuerst Verhältnisse in ihrer Wahrheit sehen kann und dann zum Machen-Können wird, indem sie weiß, wie und wo in der Wirklichkeit „an-gegriffen“ werden kann und soll.
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Und dass diese Macht nicht allein dem Petrus zuerkannt ist, finden wir auch schon im Matthäusevangelium ausgesprochen, zwei Kapitel nach Mt. 16,18f., in Mt. 18,18, und im unmittelbaren Kontext wird auch zu verstehen gegeben, dass Petrus hiergegen keinerlei Einwände erhebt, wenn die Jünger dieselbe Macht erhalten wie er, denn mit seiner anschließenden Frage wechselt er das Thema, oder zumindest den Schwerpunkt der Fragestellung (Mt. 18,21):
"Ich aber sage dir: Du bist Petrus und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen und die Pforten der Unterwelt werden sie nicht überwältigen. Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreichs geben; was du auf Erden binden wirst, das wird im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, das wird im Himmel gelöst sein." (Mt. 16,18f)
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2016 der Katholischen Bibelanstalt GmbH und
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abgerufen am 04.07.2024.
„Wahrlich, ich sage euch: Alles, was ihr auf Erden binden werdet, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was ihr auf Erden lösen werdet, soll auch im Himmel gelöst sein. … Da trat Petrus hinzu und sprach zu ihm: Herr, wie oft muss ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben?“ (Mt. 18,18.21)
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abgerufen am 10.04.2024.
Auffällig für mich ist, dass Petrus hier vom „Bruder“ spricht und von dessen Versündigung gegen ihn, gegen Petrus, nicht von dessen (und aller Menschen) Versündigung überhaupt. Und im nachfolgenden Himmelreichs-Gleichnis stellt Jesus genau dies richtig. Die Menschen stehen nicht nur in einer Versündigung zueinander, sondern jeder Mensch steht noch mehr in einer Versündigung zum Himmel, zum himmlischen Vater. Und wenn ihm diese größere Schuld vergeben wird, so ist der Mensch auch dauerhaft den geringeren Schulderlass gegenüber seinen Brüdern bzw. Geschwistern schuldig.
Petrus‘ Nachfrage zeigt also eine gewisse Egozentrik (abgesehen davon, dass er gegen eine plurale Binde- und Lösegewalt keinerlei Einwände hat). Und mit dieser petrinischen Persönlichkeits- oder Subjektbetonung, sichtbar auch im etwas ungestümen Engagement des Petrus, zeigt uns die Bibel womöglich einen prinzipiellen Problempunkt des „Felsen“, der sich dann auch in seinen Nachfolgern erhält und sich kirchengeschichtlich – und damit auch geistes- und heilsgeschichtlich - auswirkt.
35. Warum verweigert Jesus seinem „Felsen Petrus“ die Kommunikation?
Wir wollen uns diese Petrus-Gestalt deshalb noch etwas näher ansehen und stellen ihr zugleich die Johannes-Gestalt gegenüber, um zu prüfen, ob der jetzt am Rande wahrgenommene Aspekt tatsächlich von weitergehender Bedeutung sein könnte, so dass er ein festes Merkmal des Petrus-Charakters zu nennen wäre?
Im letzten Kapitel des Johannesevangeliums wird uns eine sehr seltsame Begebenheit beschrieben – Joh. 21, 20-23. Dargestellt ist eine Dreierkonstellation – Jesus mit zwei seiner engsten Jünger, Petrus und Johannes -, wobei uns nur ein Zwiegespräch zwischen Petrus und Jesus offeriert wird, während Johannes, als der Dritte, zwar in Sichtweite ist, aber unbeteiligt bleibt und nur irgendwie im Hintergrund eine Rolle zu spielen scheint.
Zunächst, wenn wir dem Text folgen, ist im vorab ein unterschiedliches Verhalten oder sagen wir besser: eine unterschiedliche Einschätzung Jesu gegenüber dem einen und dem andern Jünger akzentuiert. Johannes wird genannt „der Jünger, den Jesus liebte“. Berücksichtigen wir die vorhergehende Perikope (Joh. 21,15-19), so kann demgegenüber Petrus genannt werden „der Jünger, den Jesus fragte, ob er ihn liebe“. Die Jünger sind also – biblisch-literarisch – unterschiedlich eingeführt. Johannes ist – aus Jesu Sicht - gleichsam über jeden Zweifel erhaben, Petrus nicht, im Gegenteil, und Jesus äußert seinen Zweifel gleich dreimal, als hätte er auch noch den weitergehenden Zweifel an der Richtigkeit der Petrusantwort, die sofort und selbstverständlich diesen Zweifel an seiner Liebe zu Jesus zurückweist, gleichsam ohne weiteres oder tieferes Nachdenken über die Frage als solche.
Erst beim dritten Mal reagiert Petrus anders:
„Spricht er zum dritten Mal zu ihm: Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieb? Petrus wurde traurig, weil er zum dritten Mal zu ihm sagte: Hast du mich lieb?, und sprach zu ihm: Herr, du weißt alle Dinge, du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Schafe!“ (Joh. 21,17)
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abgerufen am 10.04.2024.
Petrus gibt nun also eine Doppel-Antwort:
a) Herr, du weißt alle Dinge
b) Du weißt, dass ich dich lieb habe
Jesus zeigt nun, in seiner anschließenden Antwort, kein „Taktgefühl“, ansonsten hätte er die Aussage(n) des Petrus bestätigen oder wenigstens kommentieren müssen. Stattdessen gibt er auch beim dritten Mal dieselbe Antwort wie beim ersten und zweiten Mal, als habe sich durch die andersartige Reaktion und Antwort des Petrus beim dritten Mal nichts geändert. Wenn Jesus aber dreimal fragt und wiederholt mit der Antwort des Petrus unzufrieden ist, dann wäre es doch – so möchte man zwischenmenschlich meinen – richtig gewesen, Petrus irgendeinen Hinweis zu geben, was es denn sei, das Jesus missfalle oder misstrauisch mache? Jesus lässt aber die Doppel-Antwort des Petrus trotzdem einfach unkommentiert stehen, und diese ist ja eigentlich ein Schlussverfahren: „Weil du alles weißt, weißt du auch, dass ich dich liebe“ (Mt. 24,36 widerspricht dem Schluss-Vorderglied der Petrusaussage, wir wollen sie hier aber außen vor lassen).
Allein: Wenn diese Petrusantwort richtig wäre, so wäre ja die ganze Jesusfragerei grundlos erfolgt und unberechtigt gewesen. So ist es uns ja in Bezug auf Johannes sichtbar gemacht: Er gilt als „der Jünger, den Jesus lieb hatte“, und weil dies ein Faktum ist (so wird es hingestellt), deshalb gibt es daran nichts zu rütteln und nichts zu hinterfragen.
Wir werden also annehmen müssen, die Petrusantwort sei falsch gewesen, „falsch“ nicht im Sinne von „bösartig“ oder „etwas im Schilde führend“, sondern im Sinne von „unrichtig“ oder „nicht den wahren Verhältnissen entsprechend“. Und dann können wir weiterfragen: Um welche wahren Verhältnisse geht es denn hier? Und nun müssen wir ins Auge fassen, dass Jesus über einen „menschlichen Tiefblick“ verfügt, der sein Gegenüber besser erkennen kann, als dieses sich selbst. So ist es uns ja im Johannesevangelium zu Beginn kundgetan, mit der rätselhaften Formel „das, was im Menschen ist“:
„Aber Jesus vertraute sich ihnen nicht an; denn er kannte sie alle und bedurfte nicht, dass jemand Zeugnis gäbe vom Menschen; denn er wusste, was im Menschen war.“ (Joh. 2,24f)
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abgerufen am 10.04.2024.
Und wir wissen heute, dass zu „dem, was im Menschen ist“ ganz wesentlich auch das Unbewusste gehört, das Implizite oder nicht in die Reflexion oder ins Bewusstsein Explizierte, zu dem wiederum wesentlich ein Handeln und Wollen des Menschen gehört, das dieser sich selbst nicht richtig eingestehen will und sich daher „rational verbirgt“, woraus wir uns wieder eine Definition des Menschen ableiten könnten: „Der Mensch ist ein Wesen, das sich durch seine eigene Ratio selbst belügen und betrügen kann.“
Damit können wir sagen, dass sich die Jesusfrage gar nicht primär auf das Sozialverhältnis des Petrus zu Jesus bezieht, sondern auf das Verhältnis des Petrus zu sich selbst. Und deshalb stellt er seine Frage wiederholt, weil er sieht, dass Petrus durch die Frage nicht ins Nachdenken über sich selbst kommt, und deshalb wird sie auch wiederholt von Petrus missverstanden. Und deshalb auch lässt Jesus die Frage letztlich unaufgeklärt, weil er Petrus nicht eine Frage beantworten will, die dieser sich selbst stellen und beantworten muss. Denn die Selbsterkenntnis ist alleinige Aufgabe des einzelnen Menschen selbst, und sie kann ihm nicht von außen angetragen und nicht für ihn gelöst werden; hier gibt es dann auch kein christliches Pronobis.
Die Frage Jesu hätte Petrus also zu denken geben sollen. Er hätte sich fragen sollen: „Warum stellt mir Jesus eine solche Frage? Kann es sein, dass mit mir selbst irgendetwas nicht stimmt? Dass ich in und an mir selbst irgendetwas Gravierendes übersehe? Dass ich womöglich nicht das rechte, angemessene Selbstverhältnis resp. nicht die richtige Selbsterkenntnis oder Selbstsicht habe?“
Die Fragesituation bleibt in der Perikope unaufgelöst, und damit ist ein gewisser Störfaktor sichtbar gemacht. Stör- oder Missverstehens-Fälle, kleine Nebenbei-Erlebnisse, erfährt man im Leben öfters, und man neigt dazu, sie zu übergehen, also als „nicht so wichtig“ und letztlich als „irrelevant“ einzuschätzen. Genau das kann einem auch in dieser Perikope passieren, dass wir einfach über die Fragerei hinweglesen, als wäre nichts (Wichtiges) gesagt worden und nichts passiert. Aber in einem Evangelium, zumal in einem Johannesevangelium, in welchem es vornehmlich um Geistverhältnisse geht, ist ein solches Darüber-Hinweggehen nicht am Platz. Wir behalten also den „Störfaktor“ lieber einmal im Hinterkopf, sozusagen als literarisch beabsichtigte Vorabinformation für das Weitere.
***
Und genau deshalb wollen wir, sicherheitshalber, nochmals in die Perikope zurückblicken, näher hineinsehen, bevor wir weiterlesen. Und dann wird literarisch auffällig, dass auch Jesus nicht dreimal ein und denselben Antwort-Satz wiederholt, denn beim ersten Mal antwortet er „Weide meine Lämmer“, die anderen beiden Male antwortet er „Weide meine Schafe“. Na und? Wo liegt der Unterschied? Der Unterschied liegt in der Zeit, die es braucht, damit aus Lämmern Schafe werden können. Rein literarisch ist somit indiziert, dass ein gewisser Zeitraum in Betracht kommen soll. Und dann dürfen wir die drei Fragen nicht als direkt hintereinander erfolgend betrachten, nicht als ausschließlich gerichtet an Petrus selbst, sondern vielleicht verteilt auf die Zeit, in der es die Gemeinde der Christenheit „zu weiden“ gilt, also kirchengeschichtlich, somit auch gerichtet an die Petrus-Nachfolger.
Und dann steht auch die weitergehende Frage im Raum, dass es womöglich nicht genügen wird, wenn die späteren Hirten schlicht dasselbe tun werden, was der anfängliche Hirte (Petrus) getan hat, um die Schafe angemessen zu weiden. Wir kennen dies heute in jedem Beruf, dass es erforderlich ist, sich fortzubilden, dass also die „alten Anforderungen“ irgendwann – und in heutiger Zeit: sehr bald - nicht mehr genügen, weil die Zeit ein Realitätsfaktor ist, den man nicht einfach außen vor lassen kann.
Und so gilt vielleicht auch für die Christenheit, dass sie nicht sub specie aeternitatis betrachtet und behandelt werden darf, sondern unterschiedlich, je nach den ggf. neuen Anforderungen der neuen Zeitverhältnisse, so, wie auch ein moderner Vertriebsgrundsatz lautet: „Es ist falsch, alle Kunden gleich zu behandeln, und es ist richtig, jeden Kunden individuell zu behandeln“, soll heißen, es gibt nicht ein probates Weide-Mittel für alle Zeiten, sondern auf die Menschen jeder Zeit muss so zugegangen werden, wie sie es in ihrer geschichtlichen resp. heilsgeschichtlichen Geistentwicklung jeweils erfordern.
***
Nun könnte der Eindruck entstanden sein, hier würden Dinge an den Haaren herbeigezogen. Aber: Der "Fadenscheinigkeit" dieser Bibelauslegung steht die "Fadenscheinigkeit" der schlussfolgernden Herleitung der päpstlichen Machtbefugnis gegenüber… Behalten wir auch dies im Hinterkopf, zusätzlich zum „Störfaktor“, und sehen wir uns nun die nachfolgende Perikope an. Sie ist die letzte des Johannesevangeliums, abgesehen von den zwei Abschlussversen des zweiten Schlusses (Joh. 21,24f, vgl. Joh. 20,30f).
Auch hier wiederum greife ich auf einen Abschnitt meines Buches zurück, diesmal aus dem Sechsten Satz, und er trägt dort die Überschrift: „Petrus der Fels – in der Brandung des Geistes?“ Dieser Titel ist mir aber zu allgemein, weshalb ich, bezogen auf Joh. 21, 20-23, die jetzige Überschrift bevorzuge: „Warum verweigert Jesus seinem „Felsen Petrus“ die Kommunikation?“
Und am Ende des Johannesevangeliums ist uns da eine sehr merkwürdige Episode mitgeteilt:
„Petrus aber wandte sich um und sah den Jünger folgen, den Jesus lieb hatte, der auch beim Abendessen an seiner Brust gelegen und gesagt hatte: Herr, wer ist’s, der dich verrät? Als Petrus diesen sah, spricht er zu Jesus: Herr, was wird aber mit diesem? Jesus spricht zu ihm: Wenn ich will, dass er bleibt, bis ich komme, was geht es dich an? Folge du mir nach! Da kam unter den Brüdern die Rede auf: Dieser Jünger stirbt nicht. Aber Jesus hatte nicht zu ihm gesagt: Er stirbt nicht, sondern: Wenn ich will, dass er bleibt, bis ich komme, was geht es dich an?“ (Joh. 21,20-23)
Lutherbibel,
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abgerufen am 10.04.2024.
Das Papsttum sieht sich in der Nachfolge Petri, und wir wollen sie ihm - diesem Text gemäß - auch belassen. Wenn aber „Petrus“ für eine ganze Tradition stehen soll, so könnte dies prinzipiell ebenso auch auf „Johannes“ (bzw. den Jünger, den Jesus lieb hatte) zutreffen. Ergibt diese Vermutung einen Sinn? Wir sehen zwar diese Petrus-Tradition, aber wir sehen keine Johannes-Tradition…
In dem Bibeltext zeigt sich
ein merkwürdiges Kommunikationskonstrukt. Zwischen Jesus und
dem anderen Jünger scheint stilles Einvernehmen, eine klare
Absprache zu bestehen, und deshalb möchte der von Jesus
biblisch-ausdrücklich beauftragte Petrus wissen: „Was hat es
damit auf sich? Warum weiß ich nichts darüber?“ Er stellt diese
Frage völlig zu Recht, weil sich hier ein gewisser
Kommunikations- und Führungs-Zwiespalt auftut, als gäbe es eine
ihm vorenthaltene Doppelabsprache Jesu? Petrus erhält aber
keine richtige Antwort, sondern wird zurückgewiesen; Jesus übt
hier sogar eine schroffe Kommunikationsverweigerung. Über den
anderen Jünger erfährt Petrus, dieser werde bis zur Wiederkunft
Christi bleiben, das müsste dann also – „übertragen“ - heißen:
Dieser werde eine durchgängige Tradition begründen,
die dort einmünden wird, wo sie soll – bei
oder in der Ankunft des Herrn. Petrus selbst aber wird
lediglich wiederholt zur Nachfolge aufgerufen, und in diesem
„kommunikationsverschleierten“ Kontext möchte man meinen, Jesus
wolle in seiner Antwort an ihn den Satz vermeiden: „Petrus, du
wirst es nicht schaffen!“ Dies entspricht dem Zweifel-Kontext,
in welchen Petrus insgesamt gestellt ist, denn Petrus tut auch
zuerst schon das Falsche, das Jesus ihm prophezeit hatte: Er
verleugnet ihn dreimal, obwohl Petrus zuerst anders und viel
besser von sich selbst gedacht hatte.
Weitere Feinheiten in der Darstellung des Johannes und des Petrus unterstreichen den Unterschied in den beiden angenommenen Traditionssträngen: Bei Johannes fällt eine stille Unscheinbarkeit und zugleich eine Zielsicherheit seines Verhaltens auf, bei Petrus seine euphorische, persönlichkeitsbetonte Überschwänglichkeit und sein menschliches Verhalten, aber eben auch Fehlverhalten. So ist es Johannes, der den (ätherisch erscheinenden?) Auferstandenen als Jesus identifizieren kann, und erst danach wird er auch von den Anderen und von Petrus erkannt. Oder als sie zum leeren Grab eilen, ist Johannes zuerst vor Ort, geht aber noch nicht hinein. Petrus geht dann zuerst hinein, und das von ihm sinnlich Wahrgenommene – die Tücher – wird dann ausführlich beschrieben, aber über eine Reaktion des Petrus erfahren wir nichts. Dann geht auch Johannes hinein, und über ihn wird - im Gegenzug – nur kurz und knapp gesagt: Er "sah und glaubte“, wobei der erklärende Anschlusssatz allgemein formuliert wird, aber auf Johannes nun gar nicht mehr passt: „Denn sie verstanden die Schrift noch nicht, dass er von den Toten auferstehen müsste“ (vgl. Joh. 20, 1-10, zitiert gem. Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart). Somit ist zum Ausdruck gebracht, dass Johannes bzw. die Johannes-Tradition gegenüber Petrus bzw. der Petrus-Tradition einfach schneller im Verstehen, sprich: geistig voraus ist. Dies wird auch deutlich im Gespräch zwischen Jesus und Petrus. Jesus ruft Petrus zu jenem Handeln auf, das Johannes bereits (richtig) ausführt, sogar im Entfernt stehen vom irdisch sichtbaren Jesus.
So entsteht hier der Eindruck, als sei das Christentum zweisträngig gegründet worden, wobei beide Stränge sich von Anfang an nicht gleichwertig gegenüberstehen, weil der johanneische Strang offensichtlich eine innigere Verbindung mit Jesus und mehr Wissen mitgeteilt bekommen hat als der petrinische. Dies geht auch hervor aus der Zurückweisung der Brüder-Individualdeutung des Wortes über das Johannesschicksal, die der Evangelist nachreicht, wobei seine anschließende bloße nochmalige Wiederholung des Jesuswortes zeigt, dass der Evangelist sich nun sozusagen an der Kommunikationsverweigerung Jesu (gegenüber Petrus) sogar noch beteiligt (gegenüber der gläubigen Leserschaft). Die enorm wichtige kommunikative Abstimmung der Petrus- und Johannes-Aufgabe, die doch die Lenkung der einen Kirche Jesu Christi betrifft, nimmt Jesus nicht vor, jedenfalls nicht für beide, nicht kollegial und wechselseitig, nicht erkennbar für Petrus. Wir erhalten hier – biblisch - nur die Petrus-Perspektive klar und ausdrücklich genannt, während die Johannes-Aufgabe für Petrus (und die gläubige Leserschaft) ungeklärt gelassen bleibt, wie ein Geheimnis – in einem „Evangelium“, das „die Wahrheit den Menschen kundtun will“!?
Von dieser ausdrücklichen Ablehnung einer Individualdeutung der Aussage über das Johannesschicksal aus können wir nochmals einen Blick zurückwerfen auf die Aussage über das Petrusschicksal, die unmittelbar vorhergeht (Joh. 21,18f). Denn hier gibt der Evangelist ausdrücklich eine Individualdeutung zu verstehen, obwohl auch hier – prinzipiell - eine Deutung auf die petrinische Tradition möglich wäre, allerdings erst in kirchengeschichtlicher Entfernung, d.h. von der Gegenwart des Evangelisten aus gesehen erst in der ferneren Zukunft: Ist die petrinische Tradition erst einmal weit genug fortgeschritten, so wird sie hingeführt werden, wohin sie gar nicht will, und zwar durch einen anonym gelassenen „Anderen“, der deshalb eine „Prinzipien-Leerstelle“ bezeichnet, weil der Geist sich selbst die Option offen lässt, wie und wann er diese Stelle mit wem heilsgeschichtlich konkret besetzen und ausfüllen wird.
Was soll das nun für eine angebliche Zweigleisigkeit der Kirchengeschichte sein, und worin liegt ihr Sinn? Plausibel wird der Textzusammenhang, wenn wir „den Geist“ zum Gegenstand unserer Fragestellung machen. Es ist bekannt, dass das Johannes-Evangelium besonders geistbetont ist, und Johannes wird in der Episode doppelt charakterisiert, einmal als der „Jünger, den Jesus lieb hatte“ und einmal als derjenige, der Jesus nach dem Verrat fragt. Letztere Charakterisierung betrifft zwar persönlich den Judas, sie erfolgt aber hier, im Kontext dieser (die differierenden Traditionsstränge andeutenden) Petrus-Johannes-Episode, so dass sich dem Leser eine doppelte Assoziation nahelegt: „Liebe Jesu → Johannes-Tradition“ und „Petrus-Tradition → Verrat Jesu“.
Von der Johannes-Tradition wird auch ausdrücklich gesagt, Jesus wolle, dass sie in die Wiederkunft Christi einmünde. Freilich will er dasselbe prinzipiell von der Petrus-Tradition auch, nur scheint er schon im vorab zu wissen, dass nur die eine von beiden Traditionen dem Geist gerecht werden wird. Johannes wird deshalb so besonders von Jesus geliebt, weil er offensichtlich das Geistprinzip des Evangeliums (schon) verstanden hat, Petrus – und vielleicht auch alle anderen Jünger - (noch) nicht: Die Petrus-Tradition wird kirchengeschichtlich den Geist nicht zeitigen, die Johannes-Tradition schon. Deshalb muss Jesus die Kirche sozusagen zweigleisig gründen, obwohl er das besser nicht ausdrücklich kundtut, um „seine Glaubensgemeinschaft“ nicht von vornherein zu verunsichern; sondern ihr faktisches, kirchengeschichtliches, selbstverantwortliches Handeln ist besser erst einmal abzuwarten, damit „die (individualisierten) Christen“ irgendwann selbst beobachten und beurteilen können, wie sie sich in der Frage des Geistes verhalten wollen. Deshalb auch muss Jesus seine Auftragserteilung an Johannes mit der Auftragserteilung an Petrus nicht irdisch abstimmen, weil sich diese „Abstimmung“ (und ggf. Einmündung) höherwertig - heilsgeschichtlich und himmlisch über den Beistandsgeist - ergeben wird, der all diejenigen Menschen, die zum Geist finden, zur Geistigkeit ihrer selbst führen, in sich aufnehmen und integrieren wird.
Welcher „Geist“ soll sich denn nun als Frucht der Nachfolge zeitigen? Was ist dieses „Geistprinzip“? Es ist auf jeden Fall nicht dies: Dass nur ein „Stellvertreter Christi“ Tuchfühlung mit dem Heiligen Geist hat und einer ihm nachfolgenden Glaubensschar diesen Geist dann weitervermittelt und kundtut. Dies ist aber genau die Geistes-Situation, die im Infallibilitätsdogma festgeschrieben wurde. Und danach würde man ein guter Christ sein, wenn man sich danach richtet, was der Papst sagt und verkündet. Und dann würde gleichsam für eine rechte christliche Existenz gelten: „Es genügt, wenn der Papst den Geist hat, und wenn ich dann tue, was der Papst will, dann werde doch wohl auch ich am Geist teilhaben!?“ – Dies ist ein äußerliches Geistverständnis, und ihm entspricht die äußerliche Herleitung der päpstlichen Machtbefugnis von der Individualität des Petrus her. Sollte nun aber der Geist etwas sein, was der individuelle Mensch fundamental selbst braucht für seine gelingende Existenz als Mensch (allein schon aus seiner Schöpfungskonstitution heraus): Geist -, dann geht dieses äußerliche Geistverständnis der petrinischen Tradition nicht mehr auf…
Konstitutiv für den Beistands-Geist ist seine Handlungsfreiheit. Er ist frei in der Gewährung von Erkenntnis und Wahrheit, sowohl zeitlich als auch räumlich, d.h. er bestimmt, wann neue, weitergehende Wahrheit in die Menschheit eintritt, und er bestimmt, wo diese Wahrheit eintritt. Und vor allem an diesem Wo entzündet sich der Zweifel am Infallibilitätsdogma, weil durch das Dogma dieses Wo nicht nur innerchristlich eingeschränkt, sondern geradezu festgelegt wurde. Diese Festlegung steht aber in klarem Widerspruch zu einer Aussage über die Wirksamkeit des Geistes im Johannesevangelium:
„Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht geboren wird aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was aus dem Geist geboren ist, das ist Geist. Wundere dich nicht, dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von Neuem geboren werden. Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist ein jeder, der aus dem Geist geboren ist.“ (Joh. 3,5-8)
Lutherbibel,
revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft,
Stuttgart, und Einheitsübersetzung ©
2016 der Katholischen Bibelanstalt GmbH,
externer Link: https://www.bibleserver.com/LUT.EU/Johannes3,
abgerufen am 10.04.2024.
In diesem Bibeltext ist die Kenntnismöglichkeit des Wo ausdrücklich negiert! Der Heilige Geist „bläst, wo er will“, und Menschen wissen grundsätzlich nicht, „woher er kommt und wohin er fährt“, haben sein Wirken also insofern schlicht faktisch abzuwarten und hinzunehmen, insbesondere auch die „aus dem Geist Geborenen“ selbst, die von ihm dann ihrer bzw. seiner Wege geführt werden. Man kann den Heiligen Geist nicht institutionell binden, er lässt sich nicht gängeln. Und eigentlich kann man ein solches Bindebedürfnis als Christ nicht einmal haben, wenn man die Souveränität und Wirkkräftigkeit des Beistands-Geistes verstanden hat und anerkennt, oder kurz: wenn man an ihn als solchen glaubt. Er kommt auf einzelne Menschen zu, zum guten, heilsgeschichtlichen Zweck der Allgemeinheit, aber dieses Zukommen ist nicht berechenbar. Dieses unberechenbare Individual-Wirkungsprinzip des Geistes ist hier im Johannesevangelium ausgesprochen.
Entsprechend sagt Jesus:
„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer jemanden aufnimmt, den ich senden werde, der nimmt mich auf; wer aber mich aufnimmt, der nimmt den auf, der mich gesandt hat.“ (Joh. 13,20)
Lutherbibel,
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externer Link: https://www.bibleserver.com/LUT.EU/Johannes13,
abgerufen am 10.04.2024.
Auch hier ist die Anonymität betont („jemanden“), weil es ums Prinzip (des Geistes) geht, nicht um irgendwelche bestimmten Personen oder Institutionen, und wenn einer „aufgenommen“ werden soll, ist geradezu damit zu rechnen, dass er nicht „aus den eigenen Reihen“ stammt, sondern von „irgendwo“ her kommen wird… (Diese Aussage wird dann im Kontext nicht weiter problematisiert, obwohl sie für uns sehr problembehaftet ist: Woran erkennt man denn das Gesandt sein?)
Mit diesem Individual-Wirkungsprinzip scheint die (vermutete) Johannes-Tradition wesentlich verbunden zu sein. Und deshalb können wir sie eigentlich noch gar nicht „Tradition“ nennen, weil sie von unserer irdischen Seite aus betrachtet als geschichtlich-gesellschaftliche Kontinuität noch gar nicht vorhanden ist (wie die Petrus-Tradition). Wir wissen zunächst einmal nur von der Petrus-Tradition, die äußerlich-irdisch sichtbar ist. Die Johannes-Tradition ist noch unsichtbar, wenngleich im Verhalten des „Jüngers, den Jesus liebte“ zumindest andeutungsweise sichtbar gemacht. Die „Kontinuität“ besteht also zuerst einmal nur dort, wo sich der Heilige Geist selbst befindet, im Überirdischen, von woher er auf Menschen zukommt, um über sie der Christenheit und Menschheit Erkenntnis und Wahrheit zu gewähren. Und wer zu dieser Tradition Zugang gefunden hat (wie der „Jünger, den Jesus liebte“, der ja ebenfalls durch diese Anonymisierungs-Formel für eine – auch kirchengeschichtlich-multiple - „Prinzipien-Leerstelle“ steht), handelt auch aus diesem Überirdischen heraus, mit welchem er in irgendeiner substanziellen Verbindung stehen muss, die irdisch gesehen verblüfft, weil sie aus irdischer Perspektive eben gerade nicht sichtbar ist:
„Und ich will den Vater bitten und er wird euch einen andern Tröster [1 = Fürsprecher, Beistand] geben, dass er bei euch sei in Ewigkeit: den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, denn sie sieht ihn nicht und kennt ihn nicht. Ihr kennt ihn, denn er bleibt bei euch und wird in euch sein.“ (Joh. 14,16f)
Lutherbibel,
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Warum also verweigert Jesus Petrus die Kommunikation? Warum übt er gerade ihm gegenüber, dem er die Schlüsselgewalt überträgt resp. übertragen will, die Bindegewalt aus? Diese Frage muss uns zu denken geben.
Vielleicht, weil der christliche Auftrag gar kein solcher ist, der von Anfang an klipp und klar erteilt werden und dann durch die Kirchen- und Geistesgeschichte hindurch in unveränderter Form beibehalten werden könnte, um in die Zukunft der Wiederkunft Christi hinein überliefert zu werden, analog zum Gottesnamen, der auch nicht ein für alle Mal mitgeteilt und dann dauerhaft irdisch beibehalten werden kann, weshalb er schon alttestamentlich „zukunftsdefiniert“ ist (Ich werde sein, der ich sein werde)?
Auch sie müssen – heraklitisch gesprochen – im Fluss sein: der Auftrag der Christen und ihre Namen. Nur dass es mit diesem „Fluss“ etwas ganz Besonderes auf sich hat, denn es ist der kirchen-, geistes- und heilsgeschichtliche Fluss des Geistes selbst, der nicht nur das Denken ergreift, sondern sich erneuernd und umgestaltend bis in die Leiblichkeit des Menschen hineinerstrecken wird (biblisch angedeutet im Pfingsterlebnis), in dessen Hüllen dann „Ströme lebendigen Wassers fließen“ werden (Joh. 7,38), die von dem "Strom lebendigen Wassers“ kommen, der vom „Thron Gottes und des Lammes“ ausgeht (Offb. 22,1).
Die Kommunikation, die Jesus verweigert, soll Petrus sich über den Geist holen, kirchen-, heils- und geistesgeschichtlich, denn im Wirken des Geistes wird Jesu Wort und Auftrag ja enthalten sein, denn er ist es, der den Geist sendet.
Dazu muss Petrus aber die Geistproblematik erst einmal als solche erkennen, um sich im eigenen Geiste empfänglich für den Geist zu machen, in Fortführung seines anfänglichen Geistesblitzes, der ihn hat erkennen lassen, dass Jesus der Christus ist; wobei Jesus ausdrücklich auf die Erkenntnisrichtung aufmerksam macht, auf die es ankommen wird:
„Selig bist du, Simon, Jonas Sohn; denn Fleisch und Blut haben dir das nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel.“ (Mt. 16,17)
Lutherbibel,
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externer Link: https://www.bibleserver.com/LUT.EU/Matth%C3%A4us16,
abgerufen am 11.04.2024.
Petrus wird von Jesus seliggesprochen, weil er die Wahrheitserkenntnis aus „seinem Geist“ heraus gewonnen hat, nicht aus dem Irdischen, nicht aus dem Tradierten. Jesus legt hierbei das Gewicht auf den „Geist“, und deshalb erhält Petrus auch die Schlüsselzusage: Er hat Geisterkenntnis gezeigt, also Geisterkenntnis erfahren, und zwar im Gegensatz zu den anderen anwesenden Jüngern, also sollte er das Individual-Prinzip der Geisterkenntnis auch verstanden haben, so dass er damit umgehen können wird. - Die Petrus-Tradition hingegen legt nachmalig das Aussagegewicht auf das „seinem“, blickt somit am Geistprinzip vorbei, achtet nicht auf das in Petrus wirksame allgemeine Geistprinzip, sondern auf die Wirkung in der Person des Petrus.
Und damit ist die Petrus-Tradition, die dann zur römisch-katholischen Kirche unter „Petrusführung“ wird, von Anfang an auf ihr Kernproblem hingestoßen: den Geist und sein Verständnis, und damit auf die Frage: Wie muss man sich verhalten, wenn man sich geistkonform verhalten will, und wie muss man führen, wenn man dem Geist, gerade auch im Individuum, weil er geistunmittelbar wirkt (wie – beispielsweise – hier in Petrus), im Raum der Kirchengemeinde angemessenen Platz für Wachstum und Selbstentwicklung lassen will?
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Und es scheint mir eine Ausflucht bzgl. der Geistproblematik zu sein, wenn kirchen- und theologiegeschichtlich eine Unterscheidung zwischen „geistig“ und „geistlich“ eingeführt wurde, als gäbe es zweierlei Geist im Sein, einen „bloß“ weltlichen (Sachlichkeit) und einen religiös-geistlichen (Frömmigkeit). Das ist m.E. Unsinn, eine Pseudo-Unterscheidung, die entnominalisiert gehört; aber vielleicht ein Unsinn mit Methode? Denn auf dieser Unterscheidungsgrundlage kann nun eine „eigenständige Geistlichkeit“ behauptet werden, die sozusagen ihre „eigene Reinheitssphäre“ bewahrt, indem sie sich von dem sich in der Welt entwickelnden Geist des Menschen fernhält und kaum oder unzureichend von ihm Kenntnis nimmt. So ist – über den Pseudo-Terminus „geistlich“ - eine lebensfremde, abstrakte und damit in sich unangreifbare „Fadenscheinigkeit des Geistes“ auf den Weg gebracht, die ganz bewusst kein fundamentum in der weltgeschichtlichen res mehr hat und die hier und heute, im Papsttum der Moderne, Gestalt angenommen hat.
Denn: Wie tritt der Papst heute vor den Menschen auf? Mit der Geste ausgestreckter Arme, in „göttlicher Einfältigkeit“, was besagen soll „Kommet her zu mir, alle – zu mir in meiner Reinigkeit und Harmlosigkeit, in meiner Heiligkeit und Heilsgeschichtlichkeit, in meiner puren Gottesgefolgschaft“ usw. Wir sehen heute in der römisch-katholischen Kirche unter ihrer Papstführung ein „Welttheater scheinbarer Christlichkeit“ aufgeführt. Warum scheinbar? Weil der Papst sich als Repräsentant der Christlichkeit (und Stellvertreter Christi) in der Welt gibt. Er führt sein Amt aus als Repräsentation des Christlichen in der Welt: „Seht her – so muss man als Christ sein.“
Die Christlichkeit als solche ist hierbei als „gesichert“ schon vorausgesetzt, gesichert über eine 2000-jährige Tradition, die als der konkrete Wesenskern der weltgeschichtlichen res gesehen wird. Alles andere ist (und muss sein) abstrakter, unwesentlicher Geschichts-Tand. Und deshalb ist es indiskutabel geworden, diese Tradition und Christlichkeit anzuzweifeln, ein In-Frage-Stellen verbittet sich, kommt nicht mehr in Frage. – Dies sei hier „festgestellt“, vor dem Hintergrund des philosophischen Ausgangspunktes dieses Gedankenganges in der „Fragwürdigkeit“.
Entsprechend gilt das Augenmerk der (römisch-katholischen) Christenheit, wenn ein neuer Papst gewählt ist, der Frage, was denn nun diesen neuen Papst, der ab jetzt die Christenheit und Christus repräsentieren soll, individuell auszeichne, z.B. das Reisen (Johannes Paul II. resp. Karol Wojtyla). Analog wird auch bei der Wahl eines neuen Bundespräsidenten gefragt, was denn diesen besonders auszeichne, z.B. das Wandern (Karl Carstens). Nur: Beim Bundespräsidenten ist die Frage richtig und am Platz, denn er hat tatsächlich eine ausdrückliche Repräsentativfunktion. Er repräsentiert den Staat, die Nation. Genau dafür ist er da, wobei er, aufgrund dieser hoheitlichen Gesellschaftsstellung, dann auch als Zensor und Sittenwächter auftreten kann (und soll). Letzteres macht der Papst auch, indem er hie und da, gerne bei offiziellen Anlässen innerhalb des Kirchenjahres, verlauten lässt: „Seht her, dieses und jenes in der Welt ist nicht in Ordnung. Das muss anders werden. Es ist (noch) nicht christlich.“ Der Papst lenkt die Aufmerksamkeit auf Dinge, die in der Welt nicht in Ordnung sind, Dinge anderswo, denn: Bei sich selbst ist ja alles bestens in der Ordnung, so scheint es. Welche Art von Ordnung ist das? Eine Verwaltung. Die (römisch-katholische) Christenheit wird heute päpstlich-kurial verwaltet.
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Und man kann den Jesus-Auftrag an Petrus gewiss auch so verstehen: Schafe weiden = Christen verwalten. „Petrus“ soll die Christenheit zusammenhalten, nach Möglichkeit noch erweitern – und damit hat sich seine Aufgabe auch schon, die er nun durchzuhalten gewillt ist, bis zur Wiederkunft Christi, damit er dann irgendwann wird sagen können: „Siehe, Herr, hier sind wir nun alle. Ich habe deinen Auftrag getreulich ausgeführt.“
Allein, es fragt sich, ob der Jesus-Auftrag so äußerlich gemeint ist?
Zunächst einmal scheint es ja, als könne „Schafe weiden“ keine so arg anspruchsvolle Aufgabe sein. Jeder Schäfer kann das, man braucht dazu keine besondere Begabung oder Ausbildung, keine hochbezahlten Fachleute oder Experten, keine Differenzierungskünstler, nur ein bisschen Schaf-Grundkenntnis. Jeder Cowboy muss mehr können als ein Schäfer, nämlich zusätzlich mit Pferd und Lasso umgehen. Denn ein widerspenstiges Rind kann eine ganz andere Kraft entwickeln als so ein Schaf, wenn es nicht gerade Martin Luther heißt.
War Martin Luther ein widerspenstiges Schaf? Hat Luther das römisch-katholische Schafe weiden gestört? Ja, das hat er wohl. Die Frage ist ja nur: Hat er es zu Unrecht getan oder zu Recht? Und wenn wir von der Reformation zur Gegenreformation weitergehen, dann wird man sagen können, die Luther-Störung sei unberechtigt gewesen, jedenfalls wird es römisch-katholischerseits so gesehen: Die Reformation war eigentlich überflüssig, und deshalb musste eine Gegenreformation eingeleitet werden, um das Alte und Gute und Richtige wiederherzustellen. Mit der Reformation ist – streng katholisch genommen – ein Teil der Christenheit aus der Heilsgeschichte ausgeschert, indem einer, ein Anonymus und Irgendwer, die Frechheit besaß, eine „eigene Geistigkeit“ zu behaupten. „Wenn das Jeder täte, wo kämen wir denn da hin!?“ – Ja, wo kämen wir hin? Womöglich… zum Geist?
Die evangelische Sicht ist: Luther hat hierbei keine physische Kraft entwickelt (wie ein Rind), sondern eine geistige Kraft (wie ein echter Christ). So sehen es jedenfalls die Protestanten, die heute wie gleichberechtigt als Evangelische neben den Römisch-Katholischen stehen, so dass heute der römische Katholizismus als eine unter vielen Konfessionen erscheint, eine Teil-Kirche unter Teil-Kirchen.
Jetzt müssen wir fragen: War in Luther die „Kraft des Geistes“ wirksam? Hm… sollen wir jetzt – als Christen - antworten: „Die einen Christen sagen so, die andern Christen so“? - Jetzt müssen wir hellhörig werden und mit unserem Differenzieren und Argumentieren aufpassen, denn im Christentum spielt ja der Geist irgendeine gewichtige Rolle. Und wenn die Christen sich uneins sind, in welchen Menschen die Kraft des Geistes wirksam ist (so dass sie gesellschaftlich auffällig und folgenreich hervorzutreten vermag), so scheint die Frage des Geistes noch nicht hinreichend geklärt zu sein – innerhalb der Christenheit, die u.a. an einen dritten Glaubensartikel glaubt?
Welcher Geist spielt diese gewichtige Rolle im Christentum? Und wessen Geist spielt sie?
Die Frage der „Kraft des Geistes“ scheint sich nun auf die Frage zuzuspitzen, ob das „Individuum“, das einzelne Schaf, einen „eigenen Geist“ haben kann, darf, soll oder nicht? Alternativ müsste der Geist als ein bloß allgemeiner verstanden werden, der sich dem Individuum entzieht und über es erhaben ist, so dass ein Einzelner dem Allgemeinen nichts anhaben kann und darf: „Das Allgemeine ist vor dem Zugriff von Individuen zu schützen!“, könnte daher die Devise der Kirche in ihrer Geschichte lauten.
Aber dieses „Einen-eigenen-Geist-Haben“ muss dann, wenn es nicht nur „erlaubt“, sondern sogar „richtig“ und „richtig christlich“ sein sollte, konsequenterweise auch positiv gesichtet werden: Im „eigenen“ Geist des Individuums kommt der von Jesus zugesagte Beistands-Geist zum Tragen, das heißt: Über die Individuen kommt der allgemeine Geist der Christlichkeit überhaupt erst geistes- und heilsgeschichtlich zum Vorschein. Dann käme eine gegenteilige Devise heraus: „Das Allgemeine muss für Einflussnahmen durch die Individuen offen sein, denn diese Einflussnahmen helfen der Allgemeinheit, dem allgemeinen Geist in sich selbst weiter!“
Sie helfen dem allgemeinen Geist der Christlichkeit weiter, denn er ist ja noch nicht „da“! Er muss ja erst „werden“, wie uns heute daran handgreiflich geworden ist, dass wir – die Menschheit – noch gar kein richtiges Wir geworden sind, das an einem Strang zöge und eines Willens sei. Und so, wie dieses noch nicht vorhandene Wir keine Staaten und keine Weltorganisationen hervorbringen und sichern können, kann es auch kein Papst tun für die Einzelnen, für uns alle, pro nobis. Er kann das nicht, aber Christus kann das rechte Wir-Verständnis wirken, wenn die Einzelnen dies in ihrem individuellen Geist zulassen.
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Die Frage des „Geistes und seiner Kraft“ spitzt sich weiter zu. - Ach, der christliche Geist ist nicht als „gegeben“ vorauszusetzen…?
Wenn der „christliche Geist“ ein Gegebenes und Vorauszusetzendes ist, dann kann und muss es Schäfer- oder Hirtenaufgabe sein, dieses bereits Vorhandene zu schützen, zu bewahren, zu sichern. Und dies scheint wohl das römisch-katholische Geistverständnis zu sein.
Wenn der „christliche Geist“ aber kein Gegebenes und kein Vorauszusetzendes ist, sondern ein erst Werdendes, ein erst Hervorzubringendes, ein zukünftiges Ergebnis der Heilsgeschichte, muss dann nicht die Schäfer- und Hirtenaufgabe eine ganz andere sein – nicht eine bewahrende, bloß konservative, sondern eine hervorbringende und progressive? Sollte ein christlicher Schäfer mit christlichen Schafen irgendetwas tun sollen, anstatt sie nur zu beaufsichtigen, zusammenzuhalten und das Christentum äußerlich zu zelebrieren und fortzuführen, um dereinst sagen zu können: „Siehe, Herr, hier sind wir nun alle“?
Hm, wie ist das denn jetzt: Ist der christliche Geist nun als gegeben vorauszusetzen, oder ist er als nicht gegeben vorauszusetzen? Die Beantwortung dieser Frage sollte im Glaubensrahmen eigentlich ganz leicht sein: Der Mensch kommt, indem er ins Leben tritt, zunächst einmal in zweierlei Wirs hinein, in das „große Wir“ der eigenen Nation und in das „kleine Wir“ der eigenen Familie. Es gibt aber ein Wir, in das er durch die Geburt nicht eintreten kann, nämlich das christlich-menschheitliche Wir, welches wir – aus dem Glauben heraus – als das „wahre Wir“ betrachten können und müssen.
Und wie kann der Mensch in dieses wahre Wir hineinkommen? Einzig dadurch, dass er sich selbst als dieses Wir selbst setzt. Und wie erfolgt diese Selbstsetzung? Sie erfolgt aus dem eigenen, individuellen Geist heraus. Jeder Mensch, der diese Selbstsetzung in seinem Geiste unterlässt, ist nicht im christlich-menschheitlichen Wir drinnen, selbst dann nicht, wenn er römisch-katholisch sein sollte. Er muss sie in seinem eigenen Geiste vornehmen – dann und nur dann ist dieses Wir gegeben (und zwar über all diejenigen und bei all denjenigen, die es in sich setzen) und so erst wird es zum Realfaktor im menschlichen Leben, mit menschheitlicher Handlungs- und Wirkungsrelevanz. Das römisch-katholische Wir hat keine solche Relevanz, keinen besonderen „Zug zum Handeln“, eher im Gegenteil: Das gute römisch-katholische Schaf bewahrt Ruhe und verhält sich still und überlässt das Aktivsein dem Papst, das Winken und Armeausstrecken, das Mahnen und Vorbildsein: „Seht mich an! Dann wisst ihr, was Christsein ist und sein soll“…
Wir können daher sagen: Der Mensch gerät durch die Geburt sozusagen in eine „Falle seiner selbst“ hinein, in ein falsches, unangemessenes Wir, denn das wahre Wir ist das christlich-menschheitliche. In der Sprache des Glaubens formuliert: Der Mensch verstrickt sich aufgrund seiner Herkunft in die Sünde eines falschen Selbstverständnisses. Und dieses Falsche und das Richtige wird biblisch polarisiert als der Gegensatz von „Fleisch“ und „Geist“, den wir oben im Matthäusevangelium von Jesus gegenüber Petrus ausgesprochen finden, deutlich auch im Johannesevangelium und schärfstens auch bei Paulus. Erst durch den Geist kann und soll und muss das Richtige als solches hervortreten, wobei dieser zwei Seiten hat, die beide Relevanz haben: der Geist als allgemeiner, gesellschaftlicher, und der Geist als individueller, als wirkende Kraft auch im Individuum.
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Welches ist dann aber das rechte Schafe-Weide-Verständnis, wenn der christliche Geist nicht schon da ist, sondern erst geschichtlich resultieren soll? Wie müssen christliche Schafe geweidet werden, damit sie die Frucht des christlich-menschheitlichen Geistes zeitigen? Welche „Methodik“ hat Petrus anzuwenden, damit er seinem Schäfersein nachkommt?
Wir wollen jetzt noch einmal genauer nachfragen: Was ist üblicherweise unter „Schafe weiden“ zu verstehen? Schafe brauchen eine Weidefläche, um dort Nahrung aufzunehmen. Diese Fläche muss auch groß genug sein, damit die Schafe Auslauf haben und gesund bleiben. Die Weidefläche muss auch geschützt sein, damit die Schafe keinen Feinden ausgeliefert sind, sondern sicher weiden können. Je nach Witterung brauchen sie auch einen Unterstand oder einen Stall. Und wenn die Weidefläche abgegrast ist und keine andere Weidefläche zugänglich ist, so muss Heu oder anderes Futter bereitgestellt werden. Natürlich kommt noch hinzu, dass ein Zweck damit verfolgt wird, Schafe zu halten, z.B. um Schafsmilch, Schafskäse, Schafswolle zu gewinnen, und, na ja, freilich auch Lammfleisch...!?
Und jetzt zeigt sich ein gewisses Dilemma: Wie weit reicht denn das christliche Bild? Doch wohl nicht bis zum Lammfleisch!? Obwohl es freilich auch die christliche Rede vom Opferlamm gibt, welches jedoch Christus selbst ist… Wie weit also ist das Bild von Jesus gemeint? Wir wissen es nicht. Hm, wie kommen wir nun weiter? Wie sollen wir weiterfragen?
Halten wir zunächst einmal fest, was wir in diesem Mensch-Schaf-Vergleich aufseiten des Menschen haben: Der Mensch kommt (seit unbekannt langer Zeit) in einem falschen Selbstverständnis zu sich selbst, und er soll zu seinem wahren Selbstverständnis kommen, das wir umschreiben können als den „Geist der Menschlichkeit und Menschheitlichkeit“, für welchen urbildlich Christus selbst steht. Dies ist die Botschaft des Evangeliums und der Inhalt der Heilsgeschichte. Und diese menschliche Existenzsituation in ihrem falschen Ursprung und richtigen Ziel wird nun von Jesus in das Bild des „Schafe Weidens“ gegossen, also: Durch sein Schafe weiden soll Petrus gewährleisten, dass die sündhafte Existenzsituation in die sündlose Existenzsituation überführt werden könne – das ist nun schon etwas mehr als nur passiv verwalten, eine Aktiv-Aufgabe.
Nun zur Seite des Schafes: Für normale Schafe trifft eine solche Existenzsituation nicht zu. Sie sind nicht sündhaft und müssen nicht von der Sünde befreit werden. Sie sollen Nahrung aufnehmen und gesund bleiben, damit sie dem Menschen für seine Zwecke zur Verfügung stehen.
Worauf also hebt Jesus in dem Schaf-Vergleich des Menschen ab?
***
Ein Sinn ergibt sich dann und dadurch, wenn wir den Schwerpunkt auf das Weiden legen. Dies ist die Tätigkeit, die Petrus mit den Schafen tun soll, nicht „beaufsichtigen“, nicht „verwalten“, nicht "reglementieren", sondern „weiden“. Dies heißt dann: Den Schafen resp. Menschen soll die rechte, angemessene Nahrungsaufnahme ermöglicht werden (in Klammern: und zwar durch Petrus und sein kompetentes, verständiges, umsichtiges, dem Heiligen Geist gemäßes Handeln):
Weiden = Nahrungsaufnahme ermöglichen.
Und um welche Nahrung geht es? Um eine solche, die vom falschen Selbstverständnis zum wahren Selbstverständnis führt. Und wir können folgende Bibelstelle assoziieren:
„Er [Jesus] aber antwortete und sprach: Es steht geschrieben: »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht.« (Mt. 4,4)
Lutherbibel,
revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft,
Stuttgart, und Einheitsübersetzung ©
2016 der Katholischen Bibelanstalt GmbH,
externer Link: https://www.bibleserver.com/LUT.EU/Matth%C3%A4us4,
abgerufen am 11.04.2024.
Es geht also um die Aufnahme des „Wortes Gottes“, das wiederum eine Umschreibung für die Bibel selbst ist, die als Mittelpunkt und Kern das Evangelium enthält, das Evangelium vom Kommen des Reiches und Kommen des Geistes, was sich wiederum, näher betrachtet, so verhält: Erst kommt der Geist, und über ihn dann das Reich, in welches der christlich werdende Geist mehr und mehr hineingezogen werden wird, so dass beide irgendwann beginnen, sich gegenseitig anzuziehen: sich verchristlichender Geist des Menschen und Reich Gottes, in welches Christus zwischenzeitlich zurückgekehrt ist, aber, um zum rechten Zeitpunkt, zur Reifezeit, mit dem Reich zurückzukehren, zu den „Christen“ gewordenen oder mehr und mehr werdenden Menschen.
Genährt werden soll nicht primär der Leib, auch nicht primär die Seele, sondern der Geist des Menschen, der als ein falscher vorliegt und ein richtiger werden soll. Und Petrus soll jene geistige Nahrungsaufnahme ermöglichen, die im einzelnen Schaf den christlichen Geist zeitigt…
Hm, schön und gut. Mir scheint aber, irgendwie müssen wir in das Bild noch tiefer hineingehen, um es richtig und vollständig verstehen zu können, oder wir könnten auch sagen: um den im Bild aufbewahrten Erkenntnis-Schatz zu heben.
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Es gehört ja schließlich nicht nur das "Schaf sein" zum Bild, sondern auch das „Hirte sein“. Muss also nicht ein gutes christliches Schaf auch das „guter Hirte sein“ verstehen können? - Doch hoppla, wird das Ganze nun nicht aufrührerisch, umstürzlerisch, gerät außer Kontrolle? Der römisch-katholische Hirte könnte sich nun veranlasst sehen zu sagen: „Stopp, Schaf. Jetzt überschreitest du deine Kompetenzen! Hör zu: Du bist Schaf, der Hirte bin ich. Also schuldest du mir Gehorsam. Du musst auf mich hören!“ „Ja, gewiss, lieber Hirte“, so könnte das christliche Schaf (lutherischer Provenienz) nun antworten, „ich habe aber den Eindruck, dass du deinem „Hirte sein“ nicht gerecht wirst, so dass ich durch deine Weide-Tätigkeit gar nicht die Nahrung erhalte, die ich bekommen soll und auf welche ich durch Christus ein Anrecht habe. Du gibst mir abgeschmackte, alte, sündhafte Nahrung, ich will aber frische, neue, sündfreie Nahrung“…?
Und wenn wir nun den Raum der Kirche als die Weidefläche der Schafe betrachten, so scheint kirchen- und reformationsgeschichtlich folgendes passiert zu sein: Die evangelischen Schafe waren und sind der Meinung, die katholische Weidefläche sei abgegrast und biete keine weitere Nahrung, und zugleich wird eine weitergehende Nahrungsaufnahme vom katholischen Hirten untersagt und verweigert. Also haben sie von sich aus entschieden, die Weidefläche zu wechseln und einen neuen, zeitangemesseneren Raum der Kirche aufzutun.
Wir haben – hier und heute – innerhalb der Christenheit folgende Situation vorliegen: Schafe und Hirte sind unterschiedlicher Auffassung darüber, was Schafsein und Hirte sein bedeutet, und damit sind sie auch unterschiedlicher Auffassung darüber, wie der petrinische Schafe-Weide-Auftrag zu verstehen sei. Dies gilt freilich nur für einen Teil der Schafe, den evangelischen Teil, denn der katholische Teil ist nach wie vor davon überzeugt, Schafsein und Hirte sein werde von „Petrus“ richtig erkannt und angemessen erfüllt (Es sei denn, dieser katholische Teil läuft mit "der Tradition" einfach nur mit und macht sich im Grunde überhaupt keine "eigenen Gedanken", sondern vertraut blindlings auf die Richtigkeit des "Laufs der Dinge", in welchem er nun einmal - fleischlich - zu stehen kam). Zusätzlich gilt: Die katholischen Schafe bleiben jetzt – nachreformatorisch – freiwillig bei „Petrus“, während sie vielleicht vorreformatorisch gesellschaftlich gezwungen waren und keine Alternative da war. Mit der Reformation hat sich also auch die Situation der katholischen Schafe verändert: Sie haben jetzt eine Entscheidungsfreiheit, gegen welche „Petrus“ nicht angehen kann, die er hinnehmen und tolerieren muss. Denn wenn nun ein Schaf sich falsch behandelt fühlt, so kann es von sich aus hergehen und die Weidefläche resp. Nahrungsaufnahme wechseln.
***
Als Besonderheit in diesem (durchaus nicht einfachen, sondern eher hochkomplexen) Bild kommt noch hinzu, dass es ein Schaf ist, das zum Hirten bestimmt wurde. Und so ist nun die Frage: Ist das Schaf durch sein Hirtenamt seines Schafseins enthoben worden? Formulieren wir es anders, um deutlicher sehen zu können. Hat Jesus gesagt oder gemeint: „Petrus, ab jetzt bist du kein Schaf mehr unter Schafen, kein Jünger mehr unter Jüngern, kein Schüler mehr unter Schülern. Ich nehme dich heraus aus der Not der Menschen. Ab jetzt unterliegst du selbst nicht mehr der Erbsünde. Ab jetzt hast du einen gereinigten Geist. Ab jetzt sollst du mich selbst vertreten, mich vertreten in meinem Lehrersein und Lehren können. Das Schülersein brauchst du ab jetzt nicht mehr“?
Man kann Aufgabe und Amt des Petrus tatsächlich so verstehen, dass Petrus herausgenommen worden ist, und es scheint ja auch das römisch-katholische Verständnis zu sein - wenngleich wir im Matthäusevangelium lesen können:
„Aber ihr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn einer ist euer Meister; ihr aber seid alle Brüder. Und ihr sollt niemand euren Vater nennen auf Erden; denn einer ist euer Vater: der im Himmel. Und ihr sollt euch nicht Lehrer nennen lassen; denn einer ist euer Lehrer: Christus. Der Größte unter euch soll euer Diener sein. Wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden. Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr das Himmelreich zuschließt vor den Menschen! Ihr geht nicht hinein und die hineinwollen, lasst ihr nicht hineingehen.“ (Mt. 23, 8-14)
Lutherbibel,
revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft,
Stuttgart, und Einheitsübersetzung ©
2016 der Katholischen Bibelanstalt GmbH,
externer Link: https://www.bibleserver.com/LUT.EU/Matth%C3%A4us23,
abgerufen am 11.04.2024. - Anmerkung: Diese wichtigen Sätze,
die ja auch das Papst-Amt als Vater-Amt betreffen, sind in der
Einheitsübersetzung im Prinzip gleichlautend, so dass man sagen
kann: Am Wortlaut, an der Übersetzung gibt es hier nichts zu
kriteln und zu rütteln: Es kommt auf die Auslegung an,
was aber interessenterweise ebendieserText selbst
schon im Wehe-Wort über die Schriftgelehrten und Pharisäer
enthält, als schwante schon irgendeine diesbezügliche Gefahr
der Wortverdrehung und Textentstellung...
Jesus spricht diese Worte zum Volk und zu seinen Jüngern, im Gegensatz zu den „Schriftgelehrten und Pharisäern“; wobei es allerdings nicht prinzipiell anstößig sein kann, „schriftgelehrt“ zu sein, denn das Evangelium ist gegeben und als Bibel schriftlich überliefert worden, um verstanden zu werden. Jesus verurteilt aber ein einseitiges Schriftverständnis, das sein Augenmerk gerade nicht auf das Wesentliche legt, obwohl es vorgibt, dies zu tun und wohl auch selbst glaubt.
Nach den obigen Worten scheint Petrus also seines Jünger seins nicht enthoben zu sein. Er gilt als Bruder unter Brüdern, nicht als Vater, und auch nicht als Heiliger Vater. Und ein oberstes Lehramt kann er danach auch nicht haben.
Aber anderseits hat Petrus von Jesus ja einen Auftrag erhalten, und dieser Auftrag heißt nicht: „Petrus, ab jetzt bist du Bruder unter Brüdern“…? Nein, er ist unter den Brüdern von Jesus sehr wohl herausgehoben worden und hat den Sonderauftrag des Schafe Weidens erhalten. Aber wie sollte ein Schaf seinesgleichen weiden können? Die Antwort darauf hatten wir oben schon berührt. Jesus spricht Petrus selig, weil er sieht, dass Petrus Geisterkenntnis erlangt hat. Und diese Geisterkenntnis, die Petrus den anderen Jüngern voraushat (jedenfalls in der obigen Situation), ermöglicht ihm die Sonderaufgabe des Weidens, des Nahrung-Gebens, indem er selbst die Erfahrung der Nahrungs- oder Erkenntnis-Aufnahme gemacht hat, den Anderen voraus. Petrus kann also dann und dadurch christlicher Schäfer sein, dass er das „christliche Schaf sein“ vorbildlich praktiziert, rechtmäßig die Nahrung des Geistes in sich aufnimmt und dadurch den Geschwister-Schafen geistig voraus ist und ihnen diejenige Nahrung geben bzw. weitergeben kann, die er selbst schon vor ihnen in sich aufgenommen hat. – Dieser geistige Vorsprung des Petrus, dieser sein individueller Vorsprung ermöglicht ihm den gesellschaftlichen oder gemeindebezogenen Weide-Auftrag.
***
Freilich hat er daneben auch noch den Auftrag der Nachfolge erhalten, den wir den Jünger-Regelauftrag nennen können:
Petrus hat also zwei Aufträge erhalten, und – wir schauen jetzt ganz genau hin - er erhält sie nicht gleichzeitig, sondern nacheinander, den Sonderauftrag zuerst. Und jetzt könnten wir – kirchen- und reformationsgeschichtlich kritisch oder auch argwöhnisch geworden – die Frage aufwerfen, ob Petrus vielleicht in den (später gegebenen) Regelauftrag zurückgesetzt wird, weil Jesus sieht, dass er den Sonderauftrag doch nicht leisten kann, weil er ihn ja nicht einmal versteht?
Man sieht auch in dieser Petrus-Perikope (Joh. 21,15-19), dass der Sonderauftrag irgendwie untergeht und gar nicht richtig explizit ins Bewusstsein des Lesers und Hörers herausgesetzt wird. Er ist vom Nachfolge-Auftrag umrahmt und gleichsam überlagert, eingeleitet mit der Frage: „Liebst du mich mehr als mich diese lieb haben?“ - Warum will Jesus das wissen? Und warum soll Petrus ein Mehr können, ein Mehr-als-die-Anderen? Und Petrus geht – wir schauen immer noch ganz genau hin - in seiner Antwort auf dieses „mehr als diese“ überhaupt nicht ein: „Liebst du mich mehr? – Ja, du weißt, dass ich dich lieb habe.“ Petrus ist von Jesus angesprochen als Aspirant für einen Sonderauftrag, der ihn aus allen anderen Jüngern herausheben soll, aber er bemerkt es nicht, geht nicht angemessen darauf ein.
Verwirrend ist der Text dadurch, dass sich in der „Liebesfrage“ beide Aufträge überlappen. Der naheliegende Sinn des Textes ist zunächst das Lebens- oder Todesschicksal des Petrus: Liebst du mich mehr? Wirst du Überdurchschnittliches leisten können? Wirst du für mich in den Tod gehen können? - Daher die Umrahmung: „Liebst du mich mehr? (V. 15) – Folge mir nach! (V. 19)“ Dies ist der vordergründige oder äußerliche Sinn der Liebesfrage, wobei die „Nachfolge“ hier sozusagen „reduziert“ verstanden ist als „Nachfolge in den Tod“, bezogen auf das Faktum, dass Jesus selbst in den Tod ging – und Petrus später dann (vermutlich) auch.
***
Die „Nachfolge“ hat aber noch eine andere Bedeutung, und wir sind in der Betrachtung der Dreier-Konstellation zwischen Jesus, Petrus und Johannes bereits ansatzweise darauf aufmerksam geworden.
Und jetzt können wir vom Individualschicksal des Petrus wieder auf die andere Ebene des Allgemeinschicksals der Petrus-Tradition wechseln. Dann sehen wir, dass Jesu Zeit-Unterscheidung „Lämmer – Schafe“ sich im „Petrus-Schicksals-Satz“ fortsetzt: „Als du jünger warst – wenn du alt geworden bist.“ Was passiert mit „Petrus“ im „Alter“? Er streckt seine Arme aus. Dies ist ja die Geste des heutigen Papsttums: „Kommet her zu mir – alle!“ In dieser Geste ist nicht Christus der Mittelpunkt, sondern der Papst, der glaubt, eine innige Beziehung zu Christus zu haben und der sich als Hirten-Mittler und Seelenheils-Verwalter zwischen Christus und den christlichen Schafen fühlt.
Und was passiert nun – biblisch-literarisch - weiter? Ein anonymer Anderer kommt her und macht das mit Petrus, was dieser „früher“, also in der Anfangszeit der Kirchengeschichte, selbst getan hat und auch tun konnte. Und was ist das? Der Text spricht von der Tätigkeit des Sich-Gürtens. Was macht man, wenn man sich gürtet? Man bringt seine Kleidung so in Ordnung, dass sie passt. Man passt sich sein Gewand an. In der Anfangszeit konnte und machte die (römisch-katholische) Kirche das ganz von selbst, und wir müssen hierbei an die Umsetzung des Weide-Auftrages denken, den Christen also die Nahrung zu geben, die sie brauchen. Das Schulwesen (und vielleicht sogar das Universitätswesen – ich bin hier nicht firm) hat sich aus den Klosterschulen heraus entwickelt, also aus dem Raum der Kirche. Sie hat Lesen und Schreiben gefördert und also Bibel und Evangelium unmittelbar zugänglich gemacht. Das war eine echte Realisierung des Weide-Auftrages. Und wenn Luther später die lateinische Bibel ins Deutsche übersetzt, so hat er hierbei auch Anteil am Weide-Auftrag im eigentlichen Sinn genommen.
In der Spätzeit, deren Zeitpunkt oder Zeitraum wir offen lassen können, - die Reformation wird jedenfalls en passant zu einem Realitätsfaktor der Kirche Jesu Christi - ; in der Spätzeit übernimmt das Gürten der Petrus-Tradition ein Anderer, der uns als solcher gar nicht näher interessieren muss, weil er eine Prinzipien-Leerstelle der Wirksamkeit des Geistes ist, so dass es sich auch nicht einmal um eine Einzelperson handeln muss, weil dieses Wirken peu a peu in der „Zeit des Geistes“ oder „Zeit der christlichen Geistwerdung“ erfolgt. Was wird durch dieses kirchengeschichtliche Gürten bzw. Gegürtet werden konkret passieren? Na ja, man muss es wohl so formulieren: Die Petrus-Tradition wird auf jene Geistesgröße „reduziert“, die sie faktisch geistig hat - und plötzlich ist es nichts mehr mit dem „glanzvollen Repräsentieren Christi in der Welt“: Die „Aufpluderung“ ihres „Gewandes“ ist verschwunden, der Gürtel (der eigenen Geistigkeit) nun deutlich enger geschnallt.
***
Und jetzt müssen wir uns erinnern, dass Petrus ja gar nicht der einzige Jünger ist, der von Jesus einen Sonderauftrag erhält (resp. erhalten soll resp. erhalten hat), sondern da ist auch noch der unscheinbare Johannes, der biblisch so „flüchtig“ gezeichnet ist, dass er einem beim Lesen der Bibel gleichsam beständig durch die Finger rinnt, beim Versuch, ihn zu greifen, immer auf dem Sprung, sich dem Leser zu entziehen oder besser gleich die ganze Welt zu verlassen, so dass man ihm in die biblischen Texte hinein schon ganz genau nachspüren muss, nicht nur mit Lupe, sondern mit Zeitlupe, soll heißen: mit höchstmöglicher Geisteskonzentration, wenn man ihm folgen will.
Und tatsächlich dringt man dann – durch die nötige Konzentration - in den Sinn dieser johanneisch-biblischen Texte ein…, und am Ende ergibt sich aber etwas Anderes, denn man stellt fest: Man ist in Wahrheit gar nicht Johannes gefolgt, in sein Evangelium hinein, sondern dem Geist selbst, um den es in seinem Evangelium wesenhaft geht und der in die Johannes-Texte gleichsam hineingegossen ist. Weil aber der Geist wiederum von Christus gesandt ist, ist man faktisch – nur vermittelt über Johannes - Christus gefolgt, der nach wie vor der einzige und authentische Lehrer der Christenheit ist, lediglich, bis zur Wiederkehr, in der Erkenntnisvermittlung über den Heiligen Geist.
Wenn wir versuchen, Johannes in der Bibel zu fassen, so ist er uns gezeichnet in der Wegbewegung, die wir aber richtig erkennen müssen, nicht als Weltflucht, sondern als den Weg der Nachfolge, der Nachfolge in die Geistigkeit oder Geistwelt hinein. Dies ist der tiefere und eigentliche Sinn der Nachfolge, nicht der Tod, sondern das, was danach kommt, das Leben (in der Geistigkeit des Daseins). Drei Stellen zur Thematik:
"Wer sein Leben lieb hat, der verliert es; und wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird’s bewahren zum ewigen Leben. Wer mir dienen will, der folge mir nach; und wo ich bin, da soll mein Diener auch sein." (Joh. 12,25f, Herv. v. Verf.)
Lutherbibel,
revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft,
Stuttgart, und Einheitsübersetzung ©
2016 der Katholischen Bibelanstalt GmbH,
externer Link: https://www.bibleserver.com/LUT.EU/Johannes12,
abgerufen am 11.04.2024.
"Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben." (Joh. 11,25f, Herv. v. Verf.)
Lutherbibel,
revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft,
Stuttgart, und Einheitsübersetzung ©
2016 der Katholischen Bibelanstalt GmbH,
externer Link: https://www.bibleserver.com/LUT.EU/Johannes11,
abgerufen am 11.04.2024.
"Jesus antwortete ihm: Wenn ich will, dass er bis zu meinem Kommen bleibt, was geht das dich an? Du aber folge mir nach! Da verbreitete sich unter den Brüdern die Meinung: Jener Jünger stirbt nicht. Doch Jesus hatte zu Petrus nicht gesagt: Er stirbt nicht, sondern: Wenn ich will, dass er bis zu meinem Kommen bleibt, was geht das dich an?" (Joh. 21,22f, Herv. v. Verf.)
Einheitsübersetzung von
1980, online zugänglich über die Universität
Innsbruck, externer Link: https://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/bibel/joh21.html,
abgerufen am 04.07.2024. Ich zitiere die Einheitsübersetzung
von 1980 online mit freundlicher Genehmigung der
Katholischen Bibelanstalt GmbH. - Anmerkung:
Die Begründung für meine Bevorzugung der Einheitsübersetzung
von 1980 findet sich unter 2.10 in dem eingerahmten Einschub
"Ich und die Einheitsübersetzung - Anmerkungen zum
Übersetzungsvergleich".
Johannes ist den Weg der Nachfolge in den Geist oder ins Leben prototypisch gegangen. Dies ist sein Sonderauftrag gewesen, den er auch tatsächlich ausgeführt hat.
Und somit stellt sich geistes- und heilsgeschichtlich heraus, dass Jesu Auftrag an Johannes doch kein Geheimnis bleibt, sondern – zu gegebener Zeit – als Nachfolgeweg in den Geist hinein erkennbar wird, den uns dieser Musterschüler Jesu zuerst vorausgegangen ist und den er uns dann biblisch-schriftlich erhalten und nachgezeichnet hat, vermutlich sowohl im Johannesevangelium als auch in der Offenbarung des Johannes. Und aus diesem Grund wohl hat er die Ehren-Prädikation „der Jünger, den Jesus liebte“, und wir können uns diese Formel ergänzen: Johannes ist der Jünger, den Jesus liebt, weil er den Nachfolge-Auftrag wesenhaft verstanden hat und tut.
Dieser Regelauftrag der Nachfolge kann also unterschiedlich aufgefasst werden. Einmal im Sinne eines Martyriums, dann lautet er „Folge mir in den Tod.“ Er besagt dann, dass das Christentum nur durch irdische Widerstände hindurch erfolgreich sein und durchgesetzt werden kann, weil sich ihm die bestehenden Selbstverständnisse (und Gesellschaftsverhältnisse) noch widersetzen, noch zu weit entfernt von ihm stehen. Man muss daher das richtige Selbstverständnis vorleben und entschlossen entgegensetzen, auch auf die Gefahr hin, dabei das Leben lassen zu müssen. Dies ist, scheint mir, das übliche Verständnis der „Nachfolge“.
Man kann den Regelauftrag aber auch noch gewaltfrei verstehen, und dann bekommt er ein anderes Aussehen und einen anderen Inhalt: „Folge mir ins Leben.“ Er besagt dann: „Folge mir in den Geist, in die Geistigkeit und Geistwelt hinein, denn erst der Geist ist das Leben selbst.“ Dieser Sinn ist im Johannesevangelium auch beschrieben, wenn Jesus sagt, er müsse fortgehen, um den Geist zu senden und über den Geist die Christenheit zu sich zu holen, in die Geistwelt oder das Reich Gottes hinein.
***
Beide „Nachfolge“-Arten sind richtig. Aber vielleicht können wir sie näher verorten resp. zeitlich einordnen? Solange das Christentum ein „Fremdkörper“ in der Welt ist, steht die „Nachfolge in den Tod“ im Vordergrund. Und wir können hier die anfängliche Katakomben-Situation des Christentums assoziieren und ihr entspricht auch, wie Christen in der römischen Arena zu Tode kamen. Wenn aber das Christentum kein Fremdkörper mehr in der Welt ist, weil es gesellschaftlich und kulturell adaptiert ist, dann ist die Zeit der „Nachfolge ins Leben“ gekommen, weil nun andere Lebensprioritäten und Aufmerksamkeiten in Betracht kommen bzw. möglich geworden sind.
Und nun fällt wiederum Licht auf den Weide-Auftrag, den wir inhaltlich bestimmt haben als Sicherung der Nahrungsaufnahme, wobei die aufzunehmende Nahrung der christliche Geist ist. Wird der christliche Geist irgendwann voll und ganz aufgenommen sein, d.h. zum eigenen Selbstverständnis, ja, zum Selbst des Menschen geworden, so ist der „Christ“ quasi „fertig“, und seine Existenz ist gekennzeichnet durch die (johanneischen) Kategorien und Kriterien des „Hinaufhörens“ und „In-Seins“, denn der Geist ist und bleibt von nun an im Christen im Fluss. Dann erst ist das Ziel der Heilsgeschichte erreicht, und der Mensch hat wieder ein intaktes, sein schöpfungskonstitutives „Stehen im Sein“ zurückerlangt, wie es auch die himmlischen Heerscharen haben.
Die Sicherung der Nahrungsaufnahme zeigt sich jetzt also auch als eine zweifache, nämlich eine äußere und eine innere Sicherung. Die äußere Sicherung soll den Schafen ein sicheres Weiden können ermöglichen, und diese Aufgabe ist primär eine politisch-staatliche, fällt in die Zuständigkeit weltlicher Macht, ist die Oberhoheit des kaiserlichen Imperiums, wenn wir geschichtlich zurückblicken. Die christlichen Reiche oder Staaten wurden in sich gefestigt, zugleich an den Grenzen verteidigt, es etablierte sich ein „Heiliges Römisches Reich“, und beispielsweise der sarazenisch-muslimische Klammergriff um das Mittelmeer herum, zugleich von Ost und West, konnte erfolgreich abgewehrt werden. So ist etwa Karl Martell mit den Schlachten bei Tours und Poitiers (im 8. Jahrhundert) ins Volksbewusstsein eingegangen (zwischenzeitlich wohl wieder verloren), anderseits standen die Osmanen noch im 16. und 17. Jahrhundert „vor den Toren Wiens“. Dies ist die erste oder äußerliche Sicherung, die zuletzt auch die erste Nachfolge-Art hinfällig werden lässt, denn grundsätzlich gilt: Christen müssen unter Christen keinen Märtyrertod mehr erleiden, obwohl wir dann auch noch den „Kampf zwischen Wissenschaft und Kirche“ als ein Spezifikum verorten müssen, als eine verborgene und nicht so leicht nachvollziehbare Fortsetzung sowohl des Weide-Auftrages (Erkenntnis-Nahrung geben, wenngleich von „weltlicher“ Seite), als auch des Nachfolgeauftrages, der Nachfolge in den Geist und in die Geistigkeit hinein (auch „die Welt“ enthält „Geistigkeit“, spezifisch in der Suche der Wissenschaft nach Erkenntnis), der auch wiederum seine Märtyreropfer forderte, beispielsweise Giordano Bruno.
Die Nahrungsaufnahme muss auch innerlich gesichert werden, nicht nur äußerlich-politisch, und wir haben diese Sicherung schon berührt: Gründung von Klosterschulen zum Erlernen von Lesen und Schreiben, Zugänglichmachen der Bibel, auch im Wortlaut der Volkssprache, wobei hier eine Grenzziehung zwischen „katholisch“ und „evangelisch“ zunächst noch unerheblich ist, solange es um ein rein äußerliches Zugänglichmachen geht. Aber die innerliche Nahrungsaufnahme teilt sich nochmals in zweierlei: äußerliches Zugänglichmachen des Evangeliums und des Bibel-Textes und innerliches Zugänglichmachen, nämlich im Aufschließen des Wortes, in der Vermittlung oder Mitteilung seines geistigen Sinngehalts.
Wir haben damit folgende Ausdifferenzierungen beider Aufträge vorgenommen oder gefunden:
Weide-Auftrag = Ermöglichung geistiger Nahrungsaufnahme:
Nachfolge-Auftrag = Weg in den Geist oder in die Verchristlichung oder Menschwerdung hinein:
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Wir können den Nachfolge-Auftrag auch nennen ein fortlaufendes Auffinden von Geist-Erkenntnis. Hierbei kann und soll und wird das Individuum eine eigene Verbindung in die Geistwelt hinein aufbauen, allerdings nicht von gestern auf heute, und auch nicht von heute auf morgen, sondern über einen längeren Zeitraum, der von den Voraussetzungen des Individuums abhängt. Und philosophisch hatten wir ihn beschrieben als Gehen-lernen-im-Geiste, als die Entfaltung eines Lebens im Geiste, das den Menschen nach und nach ins „Geistesleben“ hineinführen wird.
Und für den Menschen als zugleich individuelles und allgemeines Wesen ziemt es sich, die individuell gefundenen Erkenntnisse allgemein mitzuteilen, also an die allgemeine Menschheit weiterzugeben, zumal die Stellen, an welchen sich ein Individuum befindet, ursächlich für die dort gefundenen Erkenntnisse sind. Diese Stellen, an welchen ein Individuum geschichtlich zu stehen kommt, sind als Geschenke oder Zu-fälle (alternativ: Gnade) zu sehen, aus denen sich die individuellen Aufgaben, die Pflichten und Schuldigkeiten des Individuums ergeben. Aus christlicher Sicht liegen diese für die Erkenntnisaufnahme günstigen Raum-Zeit-Stellen der Menschheitsgeschichte vor dem Beistands-Geist offen, und so kann er auf die dort befindlichen Individuen zugreifen zum Zwecke der Beförderung des allgemein christlichen Geistes und der Heilsgeschichte. Die (zwischenmenschliche) Erkenntnis-Mitteilung ist insofern auch ein „Schulden begleichen“, denn die Stellen sind durch die Menschheit in ihrer Geschichte entstanden, und alles, was dort an Erkenntnis erworben werden kann, ist somit Allgemein-Eigentum, das durch die Allgemeinheit ermöglicht ist und das an sie deshalb auch zurückzugeben ist.
Und damit stehen beide Jesus-Aufträge, der Regel- und der Sonderauftrag, in einem inneren Zusammenhang:
Nachfolge-Auftrag = Aufnahme der Nahrung = Auffinden der Geist-Erkenntnis
Weide-Auftrag = Bereitstellen der Nahrung = Weitergeben und Vermittlung der Geist-Erkenntnis
Und nun sehen wir, wie beide Aufträge als die zwei Seiten des menschlichen Erkennens zusammengehören, einmal das Finden von Erkenntnis, und einmal das Mitteilen von Erkenntnis. Und damit haben wir den inneren, wesenhaften Sinn des Jünger- oder Schülerseins gefunden, und es zeigt sich auch, wie mit dem Schülersein das Lehrersein verknüpft ist. Wenn der Schüler bestimmte Erkenntnisse erworben und in sich aufgenommen hat, dann kann er diese auch wiederum als Lehrer vermitteln. Dennoch bleibt er Schüler, weil noch höhere Erkenntnisstufen möglich sind und noch vor ihm liegen, soll heißen: Der Jünger oder Schüler muss wissen oder ein Bewusstsein davon haben, dass er noch nicht am Ende, noch nicht „fertig“ ist.
Nachfolge-Auftrag = Finden von Erkenntnis = Forschung = Jünger- oder Schülersein im Geiste
Weide-Auftrag = Mitteilen von Erkenntnis = Lehre = Lehrersein im Geiste
Damit wird auch erkennbar, weshalb die „Nachfolge“ die notwendige Grundlage eines möglichen „Schafe Weidens“ ist. Man muss zuerst selbst Geist-Erkenntnis finden, also ein gutes Stück in den Geist hineingehen, dann erst kann man das Gefundene weitervermitteln. Ein Weiden ist nicht möglich ohne ein Nachfolgen, ein Lehrer sein nicht möglich ohne ein Schüler sein.
Das angemessene Vorbild für einen jeden Christen ist der Heilige Geist selbst, über den biblisch ausgesagt ist, dass er „sagt, was er hört“. Der Heilige Geist ist also zwar Lehrer der Christen, er ist aber zugleich auch Schüler und daher nur bedingt Lehrer, nämlich Lehrer in Christo, von dem er empfängt. Das Schülersein-im-Geiste pflegt er im „Hinaufhören“, das Lehrersein-im-Geiste vermag er aufgrund seines „In-Seins“ oder In-Christus-Seins. Der Christ erwirbt sich durch sein Hinaufhören das In-Sein als Erkenntnis-Resultat und Existenz-Habitus.
Nachfolge-Auftrag = Schülersein im Geiste = Hinaufhören
Weide-Auftrag = Lehrersein im Geiste = In-Sein
Folglich wird unter den Christen oder Jüngern oder Schülern im Geiste derjenige die höchste Lehrkompetenz besitzen, der in seinem Schülersein-im-Geiste schon am weitesten fortgeschritten ist.
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Und wenn nun „Petrus“ sein Schülersein kirchengeschichtlich vernachlässigt haben sollte, dann muss sich die Christenheit nicht wundern, wenn irgendwann irgendein anderer Jünger auftritt (und im Auftreten eine Zeit-Leerstelle des Geistes ausfüllt oder zum Leben erweckt) und besser und angemessener über den christlichen Geist und die Dinge des Christentums sprechen und lehren kann als „Petrus“, der sich selbst in seiner – unverstandenen - Weide-Auftrags-Rolle weidet, zugleich immer weniger Inhalt und Nahrung des Geistes geben kann, weil er sich selbst ja nichts erwirbt, und dadurch streng und sachlich genommen seine Weide-Kompetenz und Lehr-Berechtigung durch die Vernachlässigung seines Nachfolge- und Jünger-Auftrages verwirkt, zumindest vor dem „die Sache mit dem Geist“ verstehenden Teil der Christenheit.
Und da wir nun einmal erkannt haben, dass das Wort der Bibel als Wort der Wirklichkeit auch ein Wort der Zukunft ist, und da man dem römischen Katholizismus zugestehen muss, dass ein Parallelen-Ziehen zwischen Petrus und der Petrus-Tradition Sinn macht, können wir in Bezug auf die johanneische Petrus-Perikope fragen, ob nicht mit Petrus auch die Petrus-Tradition vom Weide-Auftrag in den Nachfolge-Auftrag zurückgesetzt wurde, weil man, bevor man ans Lehren von Geist-Erkenntnis gehen kann, zuerst einmal selbst Geist-Erkenntnis gefunden und erlernt haben muss. Und wir sehen im Papsttum ein „oberstes Lehramt der Christenheit“, und wir können uns fragen: Wann und wie nimmt sich „Petrus“ denn eigentlich Zeit für sein Schüler- und Jünger sein? Ein inbrünstiges „Beten in der Seele und im Selbstbetrug“ ist dafür doch zu wenig. Es bedarf dafür schon eines aufrichtigen „Betens im Geist und in der Wahrheit“. Und wenn wir auf dieses „oberste Lehramt der Christenheit“ sehen, so finden wir als aktuellste Lehr-Verkündigung ex cathedra, die den Charakter einer Lehr-Entscheidung hat, die leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel von 1950. Also gewiss keine neue und neuartige Erkenntnis, sondern lediglich die Festschreibung einer alten, langbewährten Glaubensüberzeugung.
Und so muss die Schafherde den Eindruck gewinnen, „Petrus“ sei neuzeitlich-modern in die Verlegenheitssituation gekommen, nur ja keine Fehler machen zu wollen und bloß nichts Falsches zu sagen und zu lehren, nichts, was die Schafherde in Aufruhr versetzen könnte, keine „neumodische“ Geist-Speise mehr zu verabreichen, zu welcher die Schafherde sagen könnte: „Das kennen wir nicht! Das wollen wir nicht!“ Allein: Wenn der Geist in der Schafherde noch gar nicht richtig drinnen sein sollte, weil er ja erst Resultat der Heilsgeschichte ist und sein wird, dann müsste „Petrus“ einen solchen unpopulären Schritt tun. Denn sein Auftrag lautet ja „Gib den Schafen die Nahrung, die sie brauchen“ und nicht etwa „Gib den Schafen die Nahrung, die sie wollen“.
Aber vielleicht ist der Papst ja auch in eine Doppel-Verlegenheit gekommen? Das Eine ist: sich den Geist nicht sagen zu trauen, also zu verleugnen (wie bekanntermaßen Petrus selbst tat), ein Anderes aber ist: gar nichts Neues zu haben, das über und im Geiste ausgesagt werden könnte. Dann wäre es eine Frage der Offenheit, Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Seriosität des Petrus-Nachfolgers, der römisch-katholischen Schafherde zu sagen: „Ich habe nichts, das ich euch geben könnte. Denn ich habe ja selbst nichts.“ – Das kann er freilich nicht, weil sich dadurch das päpstlich angeführte römisch-katholische Denksystem selbst ad absurdum führte. Wir wollen dies als innerkatholisches Dilemma oder innerkatholische Aporie bestehen lassen (in Klammern: und festhalten), denn sie ist eine interne Angelegenheit des römischen Katholizismus, und in einen Selbsterkenntnis-Prozess kann bzw. soll man nicht von außen eingreifen.
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Wir (Außenstehende) wollen uns nun fragen: Ist die Geist-Erkenntnis-Quelle des Papsttums versiegt? Und es schließt sich die weitergehende Frage an: Hat die Geist-Erkenntnis-Quelle des Papsttums überhaupt jemals bestanden? Und nun kann sich unser reformatorisch gewachsenes „Misstrauen“ in die Führungs- und Weide-Kompetenz des römisch-katholischen Papsttums weiter vertiefen, sich zu einem „Verdacht“ in Bezug auf seine angebliche „Geistlichkeit“ erhärten, indem wir nun versuchen, die Etappen des Weide- und des Nachfolge-Auftrages konkret kirchengeschichtlich zu verifizieren, gemäß der biblisch-evangelischen Wort-Wirklichkeits-Methodik, die ja wohl „greifen“ muss - so ist ja - und muss auch sein - der christliche, also unser Glaube.
Ganz grob gesehen ist die äußerliche Sicherung des Weide-Auftrages mit dem Beginn der Neuzeit abgeschlossen: Nationalstaaten bilden sich heraus, und ein „Völkerrecht“ kommt in Sicht, das ihre Souveränität verbürgt. Die äußere innerliche Sicherung als Zugänglichmachen des Wortes ist heute zumindest sehr weit fortgeschritten, mit Bibelübersetzungen in alle oder viele Sprachen, aber auch mit weltweiter Missionierungstätigkeit (die keine geistige Imperialisierung mehr sein will). Nur die innere innerliche Sicherung als Geist-Vermittlung steht noch in Frage. Sie ist aber gerade das Wesentliche. Hier erst kommt der Weide-Auftrag ins Eingemachte, und es wird nun offen sichtlich, wo innerhalb der Christenheit noch Öl (Brennstoff des Geistes) für die Lampen (der Vernunft) vorhanden ist und wo nicht.
Analog der Nachfolge-Auftrag. Die „Nachfolge in den Tod“ in fremdartiger Umgebung ist gesellschaftlich abgeschlossen. Die „Nachfolge ins Leben und in den Tod“ im Eigenen ist weitgehend abgeschlossen, wobei wir hier noch als einen „Ausläufer“ den Entzug der Lehrbefugnis (Missio canonica) nennen können, weil dadurch eine „katholische Existenz“ ruiniert werden kann. Und wenn wir nun die dritte Etappe des Nachfolge-Auftrages zu identifizieren versuchen, mit welchem auch wiederum erst in medias res der Geist-Erkenntnis gekommen werden kann, so finden wir im römisch-katholischen Kirchenraum in der Moderne eine „Nachfolge ins Leben“, die mit dem „Geist der Welt“ kaum mehr zu tun hat und die sich geheimnisvoll in eine (als höherwertig ausgegebene) „Geistlichkeit“ hineinbegeben hat, in der sie sich sicher glaubt. Anders formuliert: Da ist kein Geist mehr, kein Verstehen mehr, nur noch Fadenscheinigkeit des Geistes oder Besserwisserei, ein formelhaftes Dauerwiederholen alt eingeübter Begrifflichkeit inmitten einer unverstehbar gewordenen Welt: "Sicut erat in principio et nunc et semper"...
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Und so scheint es, als seien beide Aufträge kirchen- und geistesgeschichtlich ins Stocken geraten oder hätten sich sogar ganz verloren? Deshalb müssen wir nun unser geistesgeschichtliches Augenmerk auf die Übergangsstellen legen, dorthin richten, wo eventuelle Weggabelungen erkennbar werden, vom Noch-erfüllt-werden-Können der Aufträge zu ihrem Nicht-mehr-erfüllt-werden-Können. Und als markante Stellen will ich zwei Dinge ins Auge fassen:
Die Reformation war kirchengeschichtlich ein großer Einschnitt, denn es ist etwas passiert, was die Christenheit selbst überraschte: Die Bibel kann unterschiedlich verstanden werden, und diese Unterschiede sind so gravierend geworden, dass aus einer Kirche mehrere oder viele Teilkirchen entstanden sind (einmal abgesehen vom Morgenländischen Schisma usw.). Diese veränderte Situation unseres Christseins und Geistseins ist uns zwischenzeitlich seit 500 Jahren faktisch gegeben, und wir haben immer noch seelisch und geistig daran zu knabbern, sofern wir diese Uneinigkeit im Geiste als ein christliches Skandalon betrachten wollen (m.E. sogar müssen) und nicht einfach faktisch hinnehmen können, gleichsam als Abwürgen unseres Wahrheitsstrebens im (konfessionellen) Meinen.
***
Ich will einmal versuchen, diese Unterschiede in einem allgemeinen Prinzip zu erfassen.
Zunächst die katholische Sicht:
Die Wirklichkeit des (christlichen) Geistes ist mit der christlichen Traditionsbildung, die ein historisches Faktum ist, ins Dasein getreten. Die Kirche Jesu Christi stand schon in Genese, dann erst ist auch die (neutestamentliche) Bibel entstanden. Diese Wirklichkeit des Geistes ist die römisch-katholische Kirche, sie hat als Kirche Jesu Christi Realität erhalten – daran ist auch reformatorisch nicht zu rütteln. Zuerst also ist diese Realität da, dann erst ist die Bibel gekommen, und nun muss selbstverständlich gesehen werden, wie die Bibel mit dieser Realität zusammenpasst. Prinzipiell ist beides relevant, die Wirklichkeit und das Wort. Weil aber die Kirche nun einmal zuerst ins Dasein getreten ist, gilt:
Wirklichkeit des Geistes -> Wort der Bibel
Man muss also zusehen, dass das Wort (der Bibel) zur Wirklichkeit (der Kirche) passt. Die Kirche als gesellschaftliche Realisierung des Geistes Christi war zuerst da, und so muss sie das Grundlegende sein. Die Bibel ist nachgeordnet, und sie muss von dem „Wirklichkeit gewordenen Grundlegenden“ her gesichtet und gedeutet werden.
Nun die evangelische Sicht:
Die Wirklichkeit der Menschen, auf welche das Evangelium zugekommen ist, ist zunächst einmal ein Sündenbehaftetes. Nun ist das Evangelium gekommen (primär durch Jesus, sekundär durch die Bibel), welches auch nach und nach die menschliche Wirklichkeit durchwirkt resp. ins Christliche hinein verändert. Solange aber die Menschen noch in der Sünde stehen, die erst in dem (langwierigen) Prozess heilsgeschichtlicher Bereinigung aus der Wirklichkeit der Menschen verschwinden wird, solange können wir diese heilsgeschichtlich bereinigte Wirklichkeit nicht klar und deutlich sehen, also auch nicht als „christlich“ identifizieren. Das heißt: Für einen unbekannt langen Zeitraum gilt, dass wir „unsere Tradition“ als solche nicht entscheiden können, also nicht entscheiden können, welche Traditionsstränge, die wir faktisch haben, schon der Heilsgeschichte zuzurechnen sind, und welche noch der Sündengeschichte zuzurechnen sind. Deshalb muss vom Wort der Bibel her das Licht auf diese Wirklichkeit des Geistes fallen, weil diese sich ja erst in Genese befindet und nicht schon als ein Fertiges vorliegt. Daher gilt:
Wort der Bibel -> Wirklichkeit des Geistes
Nicht unsere derzeitige Wirklichkeit ist die Konstante und der Gradmesser der Bibel, sondern umgekehrt. Weil wir erst im Prozess heilsgeschichtlicher Wirklichkeitswerdung stehen, muss die Bibel als das Wort Gottes die Konstante sein, und wir müssen unsere Wirklichkeit am Wort der Bibel messen, immer wieder, denn die Wirklichkeit des Geistes und der Heilsgeschichte schreitet ja voran. Und dieses Voranschreiten selbst muss in der Bibel schon andeutungsweise enthalten sein, und so sollte es immer besser gelingen, zum einen das Wort an sich der Bibel immer genauer zu erfassen und über das Wort die Wirklichkeit des Geistes konkreter und konkreter zu erkennen oder auch erst zu formieren, also selbst hervorzubringen, wobei dieses „Selbst“, wenn es heilsgeschichtlich richtig läuft, mehr und mehr den Heiligen Geist in sich enthalten wird.
Auf diese Weise stehen sich katholisches und evangelisches Christentum so gegenüber, dass im Katholizismus die anfängliche Christenheits-Frucht betont ist, die direkt im Anschluss an Christi Erdenwirksamkeit sogleich da und sozusagen von Anfang an bekannt ist, während im Protestantismus der Schwerpunkt auf der letztendlichen heilsgeschichtlichen Frucht liegt, die noch nicht da ist und die wir streng genommen auch noch kein Bekanntes nennen können.
Deshalb führt der katholische Erkenntnisweg von der in die Erscheinung getretenen Heils-Wirklichkeit zum Wort, während der evangelische Erkenntnisweg umgekehrt vom Wort zur erst noch in die Erscheinung treten werdenden Heils-Wirklichkeit führt. Die einen messen die Bibel an der Wirklichkeit, die andern messen die Wirklichkeit an der Bibel. Die „Gegenwart gewordene“ Wirklichkeit des Geistes ist die katholische Konstante, die Bibel als das Wort des Geistes ist die evangelische Konstante, die diese „Gegenwart“ erst für die Zukunft erwartet.
Im Katholizismus spielt die Tradition (Wirklichkeit) eine wichtige Rolle neben der Bibel, aber sie stehen nicht gleichgewichtig nebeneinander, sondern in Unterordnung. Das Grundlegende ist die Wirklichkeit, die schon da ist, und von ihr her muss sich das rechte Bibelverständnis ergeben.
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Als Fallbeispiel sehen wir auf das Vaterverbot nach Mt. 23,9:
„Und ihr sollt niemand euren Vater nennen auf Erden; denn einer ist euer Vater: der im Himmel.“
Lutherbibel,
revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft,
Stuttgart, und Einheitsübersetzung ©
2016 der Katholischen Bibelanstalt GmbH,
externer Link: https://www.bibleserver.com/LUT.EU/Matth%C3%A4us23,
abgerufen am 11.04.2024.
Katholische Bibelsichtung:
Da die von Christus her ins Dasein getretene christliche Glaubensgemeinschaft bald schon einen römischen Bischof als Petrusnachfolger und Leiter der Gemeinde oder Gemeinschaft der Christen hatte und kannte, und weil diese Strukturen seit mittlerweile 2000 Jahren bestehen und sich also geschichtlich bewährt haben, gehört der Papst als Leiter der Christenheit zur Heilstradition, und ebenso gehört nun einmal faktisch zu dieser Tradition, dass er „Heiliger Vater“ genannt wird. Also müssen diese Charakteristika ihre heilsgeschichtliche Richtigkeit haben, und folglich muss eine solche Wortauslegung für den obigen Satz der Bibel gefunden werden, bei welcher die genannten Charakteristika bestehen bleiben können.
Evangelische Bibelsichtung:
Im Protestantismus gilt das Sola-Scriptura-Prinzip, das von Luther aufgestellt wurde, weil sich eine gravierende Differenz zeigte zwischen der historisch gewordenen „Wirklichkeit des Geistes“ einerseits, und demjenigen anderseits, was man rein aus der Bibel heraus als „Christlichkeit des Geistes“ erkennen kann resp. als wahr konstatieren und ansetzen muss. Die Wirklichkeit (Tradition) wurde deshalb als objektives Beurteilungskriterium fallengelassen.
Diese Deutung hat auch etwas für sich, nämlich, dass der Bibelsinn nicht relativiert werden darf nach irgendwelchen „gegenwärtigen Wirklichkeitsverhältnissen“. Wir wissen ja, dass sich die (gesellschaftlichen) Wirklichkeitsverhältnisse im Laufe der Zeit erheblich verändern. Und nimmt man die Wirklichkeitsverhältnisse zu irgendeiner Zeit oder einem Zeitraum als den Maßstab, so ist doch mehr als fraglich, ob hierbei eine objektive Erkenntnis herauskommen kann; zugleich ist es Willkür, welches geschichtliche Entwicklungsmoment denn als diese „Objektivität“ ins Auge gefasst werden könne, solle, müsse.
Entsprechend ist dann evangelisch gesehen mehr als fragwürdig, das biblisch-matthäische Vaterverbot solange zu drehen und zu wenden, bis endlich eine „Deutung“ gefunden ist, die es nun erlaubt, dass der Papst als „Heiliger Vater“ angesprochen werden kann. Der Bibelsinn wird auf diese Weise „gedehnt“ resp. verfälscht, wie denn manchmal von Institutionen oder Unternehmen Gesetzes-Paragraphen strapaziert und überdehnt werden, um ein Handeln zu erreichen, welches der Gesetzgeber einerseits nicht haben wollte, anderseits aber nicht so explizit ausformulierte, dass seine Formulierung nicht „missverstanden“ resp. alternativ ausgelegt werden könnte, zum Wohl und Nutzen des Unternehmens und zum Schaden des Gemeinwesens (sog. Gesetzeslücken). Analog darf das von Jesus gegebene irdische Vaterverbot nicht solange „gedehnt“ werden, bis es zu irgendeiner vorliegenden Wirklichkeit passt.
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Überhaupt muss der Christ über das bloße Halten von Geboten und Verboten hinauskommen. Wir sehen dies im Matthäusevangelium, wenn gesagt ist, das Hören der Botschaft reiche nicht aus, sie müsse auch verstanden werden. Analog muss alles Gebotene (Gebote und Verbote) verstanden werden. Und wenn wir jetzt auf das Vaterverbot hinblicken, dann muss zum „Halten des Gebotenen“ auch die (nach Erkenntnis strebende) Frage hinzukommen: Warum denn sollen wir im Irdischen niemanden „Vater“ nennen?
Und die Lösung haben wir im Gedankenverlauf dieses Gesamttextes bereits berührt: Mit dem „irdischen Vater“ ist eine Zwischeninstanz gesetzt zwischen individuellem Geist und Christus bzw. himmlischem Vater, so dass durch ihn die Geistunmittelbarkeit des Individuums gehemmt, verhindert, unmöglich gemacht wird. Und auf den römischen Katholizismus bezogen haben wir auch schon die (Negativ-)Schlussfolgerung gezogen, dass für den guten Katholiken gilt: Es genügt, wenn der Papst den Geist hat, und wenn ich dann tue, was er will, dann werde wohl auch ich den Geist haben: Der (katholische) Christ gibt damit seine Souveränität als eigenständiges, geistunmittelbares Geistwesen preis.
Ich komme zum Punkt: Das Sola-Scriptura-Prinzip macht es erforderlich, in den Sinn der Worte einzudringen. Im Katholizismus genügt offenbar der „Nachweis“, dass das biblische Vaterverbot soweit relativiert werden kann, dass die Habemus-Papam-Kirche in ihrem Bestand gesichert bleibt. Ist diese Sicherung erreicht, muss in das Bibelwort selbst nicht mehr weiter hineingegangen werden. Und folglich scheint im römischen Katholizismus hier eine „Gedankenaussparung“ oder „Erkenntnis-Leerstelle“ möglich zu sein, ein Verzicht auf die Verstehens-Frage, also auf das Hineingehen in den eigentlichen Sinn dieses Verbotes: „Warum denn sollen wir im Irdischen niemanden „Vater“ nennen?“
Arbeitshypothetisch können wir daher als theologisches Prinzip ansetzen: Das katholische Bibelverständnis blickt halb auf die Bibel und halb auf die historisch gewachsene römisch-katholische Geist-Wirklichkeit, weil sie beides für relevant hält. Das evangelische Bibelverständnis hat den Blick auf die historisch gewachsene Wirklichkeit eliminiert, als unobjektiv, und hat dadurch nun Platz für einen „ganzen“ Blick auf die Bibel.
Der evangelische oder ganze Blick auf die Bibel, der in ihren Sinn- und Geistgehalt voll und ganz eindringen will, kann dann weitergehen und versuchen, in das Vaterverbot noch tiefer einzudringen und hierbei z.B. die Frage aufzuwerfen, ob dieses Vaterverbot auch etwas zu tun haben kann mit der faktischen Über-Ich-Lebenssituation des Menschen. So ist in diesem meinem Text angedeutet, es könne vielleicht notwendig sein, dass der Mensch sein Über-Ich als solches sich deutlich zu Bewusstsein bringe, und vielleicht sei es auch möglich oder notwendig, das (starre) Über-Ich in ein (flüssiges, in sich bewegliches) Über-Bewusstsein überzuführen. In der evangelischen Kirche ist kein Platz gelassen, damit ein Papst - sei es freiwillig oder auch unfreiwillig - als Über-Ich für die Schafe (in ihrer Existenznot) fungiere und walte.
Eine solche Bibelsichtung fasst dasjenige, was unsere Wissenschaft in ihrem geistesgeschichtlichen Lauf an Erkenntnis findet, positiv ins Auge, als Erkenntnis-Öl für die Lampen der menschlichen (auch der christlichen) Vernunft, weil diese „weltliche“ Erkenntnis, sofern sie Wahres erkennt, ebenso vom Beistands- oder Heiligen Geist stammen muss, wie alle andere Erkenntnis auch. Wir können ja schlecht sagen, die religiöse Erkenntnis komme vom Beistands-Geist, die sonstige oder Welterkenntnis komme… sonstwo her; schon deshalb nicht, weil die Religionskritik ja auch eine religiöse Erkenntnis ist, und wenn sie zugelassen wird, dann ist der Übergang zur Welterkenntnis fließend.
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Und damit kommen wir zur zweiten markanten Stelle, an welcher ich eine Störung oder ein Gestört sein des Weide- und Nachfolge-Auftrages sehe, nämlich den Rückzug dieses historisch gewachsenen, römisch-katholischen Geistes-Habitus‘ selbst von der (weltlichen) Wissenschaft oder dem Geist der Welt.
Verstehbar wird dieser römisch-katholische Rückzug einmal aus der geistesgeschichtlich gewordenen Unterscheidung zwischen „geistig“ und „geistlich“, zum andern offenbar sogar aus dem „Welt-Begriff“, wie er gerade im Johannesevangelium formuliert zu sein scheint:
"Und ich will den Vater bitten und er wird euch einen andern Tröster [1 = Fürsprecher, Beistand] geben, dass er bei euch sei in Ewigkeit: den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, denn sie sieht ihn nicht und kennt ihn nicht. Ihr kennt ihn, denn er bleibt bei euch und wird in euch sein. Ich will euch nicht als Waisen zurücklassen; ich komme zu euch. Es ist noch eine kleine Zeit, dann sieht die Welt mich nicht mehr. Ihr aber seht mich, denn ich lebe, und ihr sollt auch leben. An jenem Tage werdet ihr erkennen, dass ich in meinem Vater bin und ihr in mir und ich in euch." (Joh. 14,16-20, Herv. v. Verf.)
Lutherbibel,
revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft,
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2016 der Katholischen Bibelanstalt GmbH,
externer Link: https://www.bibleserver.com/LUT.EU/Johannes14,
abgerufen am 11.04.2024.
Hier wird von „der Welt“ gesagt, sie könne den Beistands-Geist nicht empfangen, indem sie ihn weder sehe noch kenne. Dann wird der Welt-Begriff weitergehend erläutert, indem die Welt den fleischgewordenen Christus, der in den Tod gehen wird, nicht mehr sehen werde, während die Jünger und Christen ihn weiterhin sehen werden können, nämlich als geistige Realität oder Realwesen der Geistwelt. Dieses zweite „Sehen“ kann aber zunächst nicht als Geistanschauung verstanden werden, eher als ein „Wissen im Glauben“, dass Christus in der Geistwelt ist und von dorther herunter auf die Erde wirkt. Das „Sehen“ meint also zunächst nur „als Realfaktor für die Wirklichkeitssichtung berücksichtigen“. Die glaubenslos, atheistisch, materialistisch gewordene „Welt“ hat diesen Realfaktor und also dieses „Sehen“ nicht.
Wenn also die Bibel selbst sagt, sogar das Johannesevangelium, dass „die Welt“ das Wesentliche nicht empfange, nicht sehe und nicht kenne, dann kann es doch – so wird wohl römisch-katholisch geschlussfolgert - keine vornehmliche Christenaufgabe sein, in den Geist dieser Welt tiefer einzudringen oder wesenhaft von ihm Kenntnis zu nehmen, denn das eigentlich Geistige, das „Geistliche“, spielt sich ja ganz woanders ab!?
Und damit scheint es berechtigt und gerechtfertigt, die Wege des Geistes in der Welt nur peripher zur Kenntnis zu nehmen oder stiefmütterlich zu behandeln und sich auf den Weg einer „Geistlichkeit“ zu verlegen und zu begeben, der somit - gleichsam bibelfundiert - das Selbstverständnis der Welt sich selbst überlässt und demgegenüber seinem eigenen Glaubens-Selbstverständnis – als dem Wesenhaften - nachgeht.
Das römisch-katholische Wirklichkeitsverständnis führt so aus unserer Gegenwart heraus und in eine „geistliche Gegenwart“ hinein, die mit unserer Welt nicht mehr wesenhaft zu tun hat (und zu tun haben will) und die deshalb hier und heute irgendwie in der Luft hängt…
Demgegenüber habe ich in diesem Gesamttext hier zu zeigen versucht, dass es nicht nur nicht falsch, sondern richtig und sogar notwendig ist, in diesen „Geist der Welt“ voll und ganz hineinzugehen, weil uns gerade erst dieser „weltliche Geist“ die Bibel in ihrem Inneren aufschließen kann. Ich nenne drei Beispiele:
a) Die Bibel formuliert, die Liebe zur Wahrheit werde den Menschen retten (2 Thess. 2,10). Der Terminus „Liebe zur Wahrheit“ ist eine Umschreibung für Philosophie und Wissenschaft, also für das kompromisslose Wahrheitsstreben des Menschen, das diesem „Geist der Welt“ angehört und eine wesentliche Komponente in ihm ist. Gerade diese vom „Geist der Welt“ entfaltete Liebe zur Wahrheit soll und wird den Menschen retten.
b) Die Bibel spricht von „wahren Anbetern“, die Gott anbeten werden „im Geist und in der Wahrheit“ (Joh. 4,23). Diese Stelle wird erst sinnvoll und plausibel, wenn wir die Religionskritik und die Psychoanalyse berücksichtigen, die auch wiederum dem „Geist der Welt“ angehören. Berücksichtigen wir sie nicht, so können wir diese Bibelstelle nicht adäquat verstehen, nicht verifizieren und Glauben und Religiosität des Menschen nicht nach Tiefe und Untiefe ausloten. Und dann resultiert eine römisch-katholisch-päpstliche - oder eben "geistliche" - "Zuzwick-Inbrunst", die womöglich von sich selbst glaubt, „reine Seele und reiner Geist“ zu sein, die aber das biblisch angekündigte „Beten im Geist und in der Wahrheit“ verfehlt bzw. niemals erreicht, sondern in ihrem eigenen „Beten in der Seele und im Selbstbetrug“ stecken bleibt, das sie aber als solches nicht wahrhaben will.
c) Im Glauben neigen wir dazu, das Wort Gottes absolut zu setzen. Die Folge ist, dass die Theologie sich über die Naturwissenschaften hinwegsetzen muss, indem sie konstatieren muss, das biblische Wort Gottes habe kosmische Relevanz, egal was die Naturwissenschaften an Erkenntnis gefunden zu haben glauben und lehren. Wenn wir nun aber die Einstein’sche Relativitätstheorie, gerade in ihrem Begriff des Bezugssystems, berücksichtigen, so können wir "unser Wort Gottes" sozusagen "kosmisch zurücknehmen", indem es sich ja faktisch nur auf die Erden-Menschheit bezieht, nicht auf sämtliche Menschheiten im Kosmos, die auch nicht wie wir einen "Sündenfall" erlebt haben müssen: Die "Situation des Kosmos" muss auf keinen Fall identisch sein mit unserer "bloßen Erdensituation". Und dann können wir theologisch aussagen, dass wir über die "Situation des Kosmos" gar nicht mitreden können, denn wir befinden uns in einer womöglich vom Kosmos ganz unabhängigen, irdischen Situation, also in einem womöglich "anderen Bezugssystem". Und dann kann unsere „Sündengeschichte“ und „Heilsgeschichte“ ontologisch unterschieden und gleichsam konform zur (kosmisch denkenden) Naturwissenschaft gedacht werden: Wir Erdenmenschen oder Irdischen kommen aus dem alten (irdischen) Bezugssystem der Sünde her und bewegen uns auf das neue (kosmische) Bezugssystem des Heils zu, das wir aber noch nicht abschätzen können und das uns womöglich auch erst wieder einen "kosmischen Anschluss sündfreier Weltanschauung" ermöglichen will. - Und wenn nun nur ein Teil der Menschheit in das neue resp. wiederhergestellte Bezugssystem Eingang finden wird, so wird unter den Menschen eine „Ungleichzeitigkeit“ entstehen usw.
Mit Einsteins Relativitätstheorie ist es möglich, das Wort Gottes als zugleich „absolut gültig“ und „relativ gültig“ zu verstehen: Es ist in seinem relativen Bezug zu uns absolut gültig, so dass es gar keine kosmische Relevanz haben muss, wenn Evangelium und Bibel nicht missverstanden werden als „pauschales Rundschreiben Gottes an alle rationalen Lebensformen im Kosmos“, die vielleicht in ganz anderen Bezugssystemen stecken, keinen „menschheitlichen Sündenfall“ erlebten und daher auch kein „Evangelium der Rettung“ brauchen. – Wir haben heute hochkomplexe Kommunikationsmodelle und -theorien, nur kommen wir nicht auf die Idee, sie hinsichtlich unserer Religiosität resp. des Evangeliums zur Anwendung zu bringen, weil offensichtlich (materialistisch-atheistisch) vorausgesetzt wird, es handle sich beim Religiösen um Pseudo-Wirkliches, folglich um Pseudo-Kommunikation, so dass eine Anwendung unserer - ach so - fortschrittlichen, den Gottes-Kinderglauben hinter sich gelassen habenden Kommunikationsmodelle gar nicht in Frage komme...? - So sehen wir, wie beides ungenügend und unfruchtbar ist: Wenn der christliche Glaube den Geist der Welt von sich ausschließt, und wenn der Geist der Welt den christlichen Glauben von sich ausschließt.
Und weil ein solches Transfer-Denken, welches ein tieferes Reflexionsniveau der Bibel aufzeigen würde, theologiegeschichtlich unterlassen worden ist, sind die weltlichen Wissenschaftler zu dem Schluss gekommen, der Glaube sei etwas Unvernünftiges, Wirklichkeitsirrelevantes und Fallenzulassendes. In Wahrheit ist es gerade der „Geist der Welt“, der die Reflexionstiefe der Bibel erweisen könnte, nur muss die Theologie hierzu durch den Geist der anderen Wissenschaften hindurchgehen und deren Erkenntnisse für ihre Bibellektüre fruchtbar machen.
Und ich möchte folgende Frage an unsere Theologen richten: Glauben sie denn ernsthaft, dass neuzeitlich-modern etwas (Unvorhergesehenes) mit der Menschenwelt passierte, was von höherer (resp. biblischer) Warte aus nicht schon vorher gewusst wurde? Vielleicht versuchen wir einmal, die Bibel weniger anthropozentrisch zu lesen, also nicht so, als wäre unser Gegenwarts-Erkenntnisstand identisch mit einem etwaigen Kosmos-Erkenntnisstand, sondern vielmehr so, als gäbe es uns überlegene Geistwesen, die unsere Geschichte und unser Handeln sehr wohl abschätzen und beurteilen können, indem sie unserer Geschichtsentwicklung überlegen und voraus sind, so dass dasjenige, was für uns neu ist, für sie durchaus alt sein könnte? - Und die richtige Schlussfolgerung daraus wäre nun, dass wir damit rechnen können, dass die Bibel diesen (für uns) neuen, umstürzlerischen "Geist der Moderne" bereits berücksichtigt und folglich auch schon in sich enthält!? Hinzu kommt, dass dieser "Geist der Moderne" selbst dann, wenn er grundsätzlich oder pauschal gesehen "gottlos" ist, sehr wohl eine höheres Reflexionsniveau in sich enthalten kann, auch wenn man dies aus einer "Glaubensperspektive" heraus für "unmöglich" halten mag - vor dem Hintergrund, dass zwischenzeitlich dargelegt ist, dass "Gott-Losigkeit" durchaus auch als "religiöser Fortschritt" angesehen werden kann, indem ein religiöses Rockzipfeldasein des Menschen für eine wahrhafte Gottes-Auffassung nicht ernsthaft in Frage kommen kann?
***
Daraus folgt dann, dass der biblisch-johanneische „Welt-Begriff“ nicht einfach als bare Münze genommen und plump als „Konstantes und Dauerhaftes von Anfang des Glaubens an“ angesetzt werden kann. Er hat vielmehr ein dynamisches Wirklichkeits-Verständnis zu seiner Grundlage und Voraussetzung, kein statisch-ewiges wie noch im „Alten Sein“ angenommen. Und somit muss kritisch gefragt werden, für welchen Zeitpunkt innerhalb der Heilsgeschichte dieser Welt-Begriff ins Auge zu fassen ist; ab wann er seine eigentliche Relevanz hat und für wie lange er noch keine Relevanz hat?
Und solange er noch keine Relevanz hat, muss es auch noch falsch sein, wenn sich „christlicher Geist“ dem „weltlichen Geist“ entgegensetzt, schlicht und einfach deshalb, weil das Evangelium selbst einen „konstitutiven und dynamischen Zug in die Welt“ in sich enthält. Und wenn dieses Hineindringen wollen in die Welt von den Christen (in ihrer Christlichkeit, Geistigkeit, Geistlichkeit) nicht angemessen mitgemacht wird, so kann das Evangelium sein Ziel nicht erreichen, welches uns umrissen ist im sog. Missionsbefehl:
"Aber die elf Jünger gingen nach Galiläa auf den Berg, wohin Jesus sie beschieden hatte. Und als sie ihn sahen, fielen sie vor ihm nieder; einige aber zweifelten. Und Jesus trat herzu, redete mit ihnen und sprach: Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und lehret alle Völker [1 alternativ: machet zu Jüngern alle Völker]. Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende." (Mt. 28,16-20; Herv. v. Verf.)
Lutherbibel,
revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft,
Stuttgart, und Einheitsübersetzung ©
2016 der Katholischen Bibelanstalt GmbH,
externer Link: https://www.bibleserver.com/LUT.EU/Matth%C3%A4us28,
abgerufen am 11.04.2024.
Die griechische Formulierung
lautet: μαθητεύσατε πάντα τὰ ἔθνη. Das Verbindende zwischen
"Lehret alle Völker (in Christo)" und "Machet zu Jüngern alle
Völker" liegt vielleicht darin, dass der Christ sich
selbst als Jünger und als solcher auch als Schüler des
Geistes verstehen muss. Und wir haben schon gesehen, dass
das Schüler- und Lehrersein konstitutiv miteinander verbunden
ist, so dass niemand Lehrer sein kann, der das Schülersein
nicht aus sich selbst heraus kennt (und ernsthaft praktiziert),
und niemand Schüler sein kann, der nicht zugleich die
Berechtigung und Befugnis zum Lehrersein hätte, je nachdem, wie
gute und weitgehende Schritte er in seinem
Schülersein-im-Geiste zu tun vermag, indem er sich dem
gesendeten Geist öffnet und ihm Einlass in sich gewährt. Wer
auch immer sich mehr öffnen kann, der wird auch mehr lehren
können. Und wenn nun ein Schüler andere lehrt resp. unterweist
resp. ins Christentum einweist (weil sie davon noch nicht
gehört haben), so lehrt er sie, sich selbst als Schüler des
Geistes (Christi) zu verstehen. Und so werden die Völker
(näher die Individuen, aus denen sich die Völker
konstituieren), auf dieselbe Schüler-Ebene gebracht,
auf welcher die Christen schon stehen. Das "Lehren" hat damit
keinerlei Assoziation eines "Überlegen- oder Vorgeordnetseins",
sondern hat die Funktion des
Die-Anderen-ins-Eigensein-Mithineinnehmens, also des
Auf-derselben-Menschenebene-als Christen-Stehens, ganz analog
zur paulinischen Gleichstellungs-Formel "Juden wie Griechen". -
Und so gesehen sind die beiden Übersetzungs-Varianten
gleichlautend, wenn sie richtig verstanden werden.
Griechische Textgrundlage:
Nestle-Aland, Novum Testamentum Graece, 28.,
revidierte Auflage, hg. v. Barbara und Kurt Aland, Johannes
Karavidopoulos, Carlo M. Martini und Bruce M. Metzger in
Zusammenarbeit mit dem Institut für Neutestamentliche
Textforschung, Münster, © 2012 Deutsche
Bibelgesellschaft, Stuttgart - externer Link: https://www.die-bibel.de/bibeln/online-bibeln/lesen/NA28/MAT.28/Matth%C3%A4us-28,
abgerufen am 11.04.2024.
Das Evangelium ist deshalb als eine Doppelbewegung zu verstehen: Es will und soll in die gesamte Menschheit und Welt hineindringen, einen möglichst großen Teil der Menschheit ergreifen. Dann kommt ein Wendepunkt, und es folgt ein seelisch-geistiger Exodus in die Geistwelt oder das Reich Gottes hinein, in den Evangelien angedeutet als Mitgenommen- und Zurückgelassen werden.
Den Zeitpunkt des Wendepunktes kennen wir nicht, und es kann auch nicht unsere Entscheidung sein festzusetzen, wann es genug sein wird, das Evangelium in die Menschheit hineinzutragen bzw. mit dem christlich werdenden Geist in den Geist der Welt hineinzuleuchten, um ihn und sich (= uns) selbst zu erhellen.
Es dürfte auch eine Fehleinschätzung des Evangeliums sein zu glauben, es sei uns gegeben, damit wir es weitertragen in die (noch unchristliche) Welt hinein. Denn mit einer solchen Sichtung erwecken wir vor uns selbst den Eindruck, das Evangelium sei eine Bekannte, eine uns schon Bekannte, und wir hätten lediglich die Aufgabe, diese unsere Bekannte nun auch noch den Anderen mitzuteilen. Das ist falsch gesehen. Mit dem "Evangelium" ist uns weniger ein Wissen gegeben, als vielmehr eine Hoffnung, eine Hoffnung auf Erneuerung unserer selbst. Also ist das Evangelium keine Bekannte, und also ist es auch nicht nur zu den Anderen hinzutragen, sondern in erster Linie ist es in uns selbst hineinzutragen, auf uns selbst zur Anwendung zu bringen. Wir selbst sind es, die missioniert werden sollen und wollen, und also müssen wir bestrebt sein, dieses Evangelium mit Haut und Haar zu verschlingen, so, wie in der Offenbarung des Johannes steht, der die Offenbarung Empfangende solle das Buch essen, also ganz und gar in sich aufnehmen - und dann natürlich auch verdauen, nicht wieder ausspucken. Dieses Essen und Verdauen ist ein unerledigter Vorgang, und er dauert die gesamte Kirchen- und Heilsgeschichte lang, die wir nicht oder noch nicht überblicken können, doch zugleich ist es so, dass wir diesen Vorgang nach und nach, allmählich besser in den Blick bekommen, indem sich das Heil ja peu a peu ereignet und die Kirchen- und Heilsgeschichte nicht als eine äußerliche, uns äußerlich bleibende Angelegenheit anzusehen ist. Und wer sie dennoch so ansieht, der isst eben nicht und verdaut auch nicht, tut nicht das, was er tun soll, lässt nicht die Veränderung oder Umwandlung mit sich geschehen, die mit ihm geschehen soll. Und ich vermute, in dieser Richtung des Verstehens des Evangeliums als eines Geist-Werdungs-Prozesses zeigt sich dann der gravierende Unterschied zwischen römisch-katholischer und evangelischer Bibel- und Evangeliums-Sichtung.
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Versuchsweise kann man das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen heranziehen, Sondergut im Matthäusevangelium (Mt. 25,1-13), welches m.E. allerdings nur schwer oder unzureichend zu deuten ist, schwerlich einen vollständig in sich logischen Sinn ergibt.
„Dann wird das Himmelreich gleichen zehn Jungfrauen, die ihre Lampen nahmen und gingen hinaus, dem Bräutigam entgegen. Aber fünf von ihnen waren töricht und fünf waren klug. Die törichten nahmen ihre Lampen, aber sie nahmen kein Öl mit. Die klugen aber nahmen Öl mit in ihren Gefäßen, samt ihren Lampen. Als nun der Bräutigam lange ausblieb, wurden sie alle schläfrig und schliefen ein. Um Mitternacht aber erhob sich lautes Rufen: Siehe, der Bräutigam kommt! Geht hinaus, ihm entgegen! Da standen diese Jungfrauen alle auf und machten ihre Lampen fertig. Die törichten aber sprachen zu den klugen: Gebt uns von eurem Öl, denn unsre Lampen verlöschen. Da antworteten die klugen und sprachen: Nein, sonst würde es für uns und euch nicht genug sein; geht aber zu den Händlern und kauft für euch selbst. Und als sie hingingen zu kaufen, kam der Bräutigam; und die bereit waren, gingen mit ihm hinein zur Hochzeit, und die Tür wurde verschlossen. Später kamen auch die andern Jungfrauen und sprachen: Herr, Herr, tu uns auf! Er antwortete aber und sprach: Wahrlich, ich sage euch: Ich kenne euch nicht. Darum wachet! Denn ihr wisst weder Tag noch Stunde.“
Lutherbibel,
revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft,
Stuttgart und Einheitsübersetzung
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abgerufen am 17.07.2024.
Das Öl ist der Brennstoff, der Geist, der aufgenommen werden soll und der anfänglich bereits während Jesu Erdenwirken angenommen wird. Die Lampen sind die menschliche Vernunft, das Verstehvermögen der Menschen. Das Entgegengehen besteht in der Entgegennahme des Evangeliums und in der Aneignung des Sinngehaltes der Bibel, die als eine „Landkarte“ oder ein „Wegweiser“ verstanden werden kann, welcher die „Route in die Geistwelt“ hinein enthält, die aus ihr herauszulesen ist; „Lesen“ auch im Sinne von „auflesen“ verstanden, weil die Erkenntnis auch ein Auflesen des in der Bibel enthaltenen Geistes ist. Und besonders beachtenswert scheint mir, dass die Jungfrauen aufgefordert werden, dem Bräutigam entgegenzugehen. Das heißt dann, dass ein bloßes Warten auf die Wiederkunft Christi nicht ausreichend sein wird für den wahren christlichen Glauben, sondern dass der Gläubige aktiv etwas dazutun muss.
Die Mitternacht ist die Zeit des Kali Yuga, der geistigen Verfinsterung der Welt und Wirklichkeitswahrnehmung im Atheismus und Materialismus, wobei wir jetzt offenlassen wollen, ob wir die „Mitternacht“ schon überschritten oder schon erreicht oder noch nicht erreicht haben.
Das Erschallen des Rufes „Siehe, der Bräutigam kommt! Geht hinaus, ihm entgegen!“ will ich offenlassen. - Die aufgeklärte Christenheit des begonnenen dritten Jahrtausends wird sich überlegen müssen, welche Aufrufe, Mahnungen, Warnungen, die sich unter uns, in unserer Geschichte finden, sie als „seriöses Rufen des Geistes“ einstufen will und welche nicht. Überhaupt wird sie sich überlegen müssen, wie und von woher sie einen solchen Ruf empfangen zu können gedenkt. Vielleicht steht unsere Theologie ja auch auf dem Standpunkt, unsere Zeit sei noch nicht soweit fortgeschritten, dass eine theologische Erörterung dieser Frage überhaupt schon in Betracht komme? Wir wissen ja, dass die Christenheit um das Jahr 1000 herum von großer Endzeitangst erfüllt war, und dann stellte sich heraus: „Es war nichts damit.“ Also kann sich die aufgeklärte Theologie des 20./21. Jahrhunderts gesagt haben: „Als Christen haben wir die Erfahrung gemacht, dass die Endzeiterwartung für das Jahr 1000 falsch war. Diesen Fehler werden wir bzgl. der jetzigen Jahrtausendwende nicht nochmals wiederholen, und wie es scheint, haben wir damit Recht behalten: Auch um das Jahr 2000 herum war kein „Ende“ zu erwarten, und erwartungsgemäß ist auch um diese zweite Jahrtausendwende herum nichts weiter passiert.“ – Wäre nur noch die „Kleinigkeit“ zu klären, um welch ein ominöses „Ende“ es sich denn handeln soll, welches – angekündigtermaßen – kommen wird wie ein Dieb in der Nacht, an der Weltwahrnehmung vorbei? - Na ja, da haben wir „als Christen“ doch den „rettenden Anker“: „Ich bin Christ, also werde ich auch informiert werden über das Kommen des Endes. Also muss ich mir keine Sorgen machen. Wenn es soweit ist, bekomme ich Bescheid“ (vgl. hierzu aber das Ende des Gleichnisses, siehe unten).
Ebenso lasse ich das Bräutigam- und Braut- und Jungfrauenbild jetzt unerörtert, es gehört aber wesentlich zum Christentum und hat wohl auch eine Komplexität, wenn in der Offenbarung des Johannes steht: „Der Geist und die Braut aber sagen: Komm!“ (Offb. 22,17), wobei man hier die Frage aufwerfen kann, warum „Geist“ und „Braut“ parallelisiert sind? Auch sind die Bräute in eine Braut zusammengegangen. Sie haben sich quasi zusammengerauft, eventuelle Streitigkeiten unter sich zurückgestellt und können daher in die Einheit des neuen Jerusalem eintreten…?
Dass der Bräutigam lange nicht kommt, ist die Parusieverzögerung, die uns heute handgreiflich so sehr gegeben ist, dass Bibel und Glaube hinfällig geworden zu sein scheinen: Das genau ist aber der evangelisch-biblische Kairos des Kommens des Diebes in der Nacht. Das Müde werden und Einschlafen steht für die Tendenz des Glaubens, sich durch die Parusieverzögerung zu verlieren und zu verflüchtigen, also den christlichen Glauben (an die Lebendigkeit und Realität der Geistwelt) nicht durchzuhalten.
Und jetzt erst wollen wir „töricht“ und „klug“ einander gegenüberstellen: Die törichten Jungfrauen – es werden zwei Typen des Christseins einander gegenübergestellt – lesen die Bibel zwar mit ihrer Vernunft, aber es geht ihnen das Öl aus, d.h. der anfänglich gegebene Geist reicht zum tieferen Verstehen und Eindringen in den eigentlichen Sinngehalt nicht aus. Es fehlt ihnen der kirchen- und heilsgeschichtlich zugesagte Beistands-Geist, um in die biblische Tiefe des Geistes zu dringen. Die klugen Jungfrauen nehmen Öl mit auf den Weg, d.h. ihre Vernunft wird auch noch kirchen-, geistes-, heilsgeschichtlich durch den Beistands-Geist angeregt und erhellt, um in die biblische Tiefe des Geistes dringen zu können.
Nun kommt ein Passus, der keinen rechten Sinn ergibt, was vielleicht ursächlich dafür ist, dass das Gleichnis nicht „synoptisch geworden“ ist: Die klugen Jungfrauen können von ihrem Öl nicht abgeben, weil es ansonsten nicht für sie selbst reicht. – Die Fehlübertragung: Erkenntnis kann man immer weitergeben und vermitteln, weil dies dem eigenen Erkennen keinen Abbruch tut. Wenn ich Erkenntnis mitteile, gleichsam abgebe, so verliere ich rein gar nichts von meiner eigenen Erkenntnis. Sie bleibt dieselbe. – Der „Fehler“ oder die „Schwäche“ des Gleichnisses liegt m.E. darin, dass Materialität (Öl) zur Demonstration für Spiritualität (Geist) genommen wird und – das klappt einfach nicht! Das Analogon ist nicht gegeben, denn Geist nimmt durch Weitergabe und Mitteilung nicht ab, Öl schon!
Nun folgt der Punkt, weshalb ich das Gleichnis in diesem Kontext überhaupt heranziehe: Auf die Anfrage der törichten Jungfrauen, von ihrem Öl abzugeben, antworten die klugen Jungfrauen: ‚Geht aber zu den Händlern und kauft für euch selbst.‘ Im Zusammenhang heißt das: Wenn die „gläubige Vernunft“ der Bibel ihren (höherwertigen) Geist nicht entnehmen kann, d.h. sozusagen nicht aus „eigener Kraft“, dann möge sie sich doch im „Geist der (ungläubigen) Welt“ umsehen, um vielleicht dort die Anregung für die biblische Geist-Erkenntnis zu finden, die sie braucht; denn das „Öl der Händler“ ist gleichwertig gegenüber demjenigen Öl, das sich auch schon anfänglich in den Lampen befand, und dasselbe Öl, das mit auf den Weg genommen wurde, kein anderes, sondern ein und dasselbe „Öl des Christus- resp. Beistands-Geistes“, der tendenziell auch in der Welt wirkt, wenngleich vielleicht unbewusst, so dass nur Christen ihn "dort draußen" verifizieren können.
Das „Kaufen“ ist nun ein Vorgang, der in jedem Fall Zeit in Anspruch nimmt, übertragen: Geist-Entwicklungs-Zeit, zur Anerkennung und Aneignung des „Geistes der Welt“, zur Ermöglichung auch eines tieferen Verstehens der Bibel, was zuvor versäumt worden war. Wenn nun aber – zwischenzeitlich – der Reife- und Erntezeitpunkt der geistes-, kirchen- und heilsgeschichtlichen „christlichen Geist-Genese“ eintritt, dann bleibt keine Zeit mehr, das zuvor Versäumte nachträglich nachzuholen, weil der „brisante Zeitpunkt des Kommens des Bräutigams“ unmittelbar ansteht, mit welchem der Reißverschluss der Heilsgeschichte zugezogen werden wird. – Analog fanden wir auch in der Offenbarung des Johannes gegenüber der Gemeinde von Laodikia der siebten Kulturepoche drei Kaufempfehlungen ausgesprochen, die dort von Christus selbst kommen. Und wir hatten gesehen, sie werden nur noch gegenüber demjenigen Teil der Gemeinde formuliert, der nicht rechtzeitig die geistige Gemeinschaft mit Christus finden konnte (Offb. 3,18).
Und sowohl die Kaufempfehlung in der Offenbarung als auch der Kaufratschlag bei Matthäus sind im Grunde pro forma gesprochen, weil keine Zeit mehr für die Umsetzung bleibt. Daher wird jener Typ des Christseins, der das Notwendige zur rechten Zeit versäumt hat (aus welchen Gründen auch immer), leer ausgehen und nicht mitaufgenommen werden in die Hochzeit und Hochzeitsgesellschaft, und Christus wird sagen: „Ich kenne euch nicht! Ihr seid gar keine echten Christen (geworden), und Nominal-Christen kann ich nicht gebrauchen! Denn sie sind innerlich nicht "meines Reiches" geworden.“
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Nun will ich an meinen obigen Gedankengang anschließen und deshalb die Frage aufwerfen: Kann es sein, dass im römischen Katholizismus ein halbes Bibelverstehen gegeben ist (z.B. Prüfung der Konformität des Vaterverbotes, ohne ein es durchdringendes Verstehen), dem auf der anderen Seite auch ein halbes Wirklichkeits-Verstehen entspricht (Nicht-Hinein-Wollen in den Geist der Welt), welchem dann auch noch ein halbes Wahrheitsstreben und Wissenschaftsverständnis korrespondiert, welches darin besteht, dass der katholischen Theologie ihre Forschungs- und Lehrfreiheit beschnitten wird, weil man – kurien- oder päpstlicherseits – der Ansicht ist, die „christliche Wahrheit“ sei ein schon Gegebenes (von welchem her Zensur möglich und notwendig ist), nicht etwa ein durch die eigene geistige Tätigkeit erst Hervorzubringendes, auch in der Theologie, nämlich unter der Mitwirkung des Beistands-Geistes?
Wir betrachten immer noch die zweite markante Stelle, an welcher eine kirchengeschichtliche Weggabelung in der Erfüllung des Weide- und Nachfolge-Auftrages erkennbar werden könnte, nämlich den Rückzug des historisch gewachsenen, römisch-katholischen Geistes-Habitus‘ von der Welt.
Und ich bin der Meinung, dass der johanneische Welt-Begriff nicht zeitunabhängig anwendbar sei, was in diesem Zusammenhang dann bedeutet, der römisch-katholische „Rückzug von der Welt“ sei – christlich gesehen - möglicherweise viel zu früh erfolgt, am Weg des Evangeliums und der Heilsgeschichte (in die Welt hinein) vorbei.
Um den johanneischen Welt-Begriff überhaupt korrekt erfassen und zur Anwendung bringen zu können, werden wir ihn der Art und Weise, wie Johannes seine Begrifflichkeiten entwickelt, anpassen müssen.
Und wir haben bereits gesehen, dass der Zeitfaktor, das Verstreichen von Zeit, ein wichtiges Gestaltungsmoment des Johannesevangeliums ist, so etwa auch in der Formulierung „Aber die Stunde kommt, und sie ist schon da…“ (Joh. 4,23). Mit einem platt-logischen Denken müsste man hier kritisieren: „Was denn nun, entscheide dich: das eine („kommt“) oder das andere („schon da“)?“ Tatsächlich ist in der Formulierung der geschichtliche Fluss der Ereignisse enthalten, der in Zusammenhang steht mit der „Ungleichzeitigkeit individueller und allgemeiner Erkenntnis“. Hier ist die Erkenntnis schon da, dort wird sie erst kommen. Und deshalb müssen wir auch in Bezug auf diesen Welt-Begriff fragen, ob es nicht vielleicht einen Zeitpunkt oder Zeitraum gibt, in welchem er überhaupt erst virulent wird?
Ich nehme weiter Bezug auf Joh. 14,16-20 (vgl. oben). Vom Gegenbegriff „Geist“ wird den Jüngern und Christen ja gesagt, er werde bei ihnen bleiben und irgendwann in der Zukunft in ihnen sein. Und auch das Erkennen ist als ein Zukünftiges formuliert: „An jenem Tag werdet ihr erkennen…“ Und dann wird das In-Sein als diese tiefere Erkenntnis und als Resultat des heilsgeschichtlichen Wirkens genannt.
Man kann deshalb aus einem Text wie dem obigen keine biblische Berechtigung ableiten, es sei für Christen richtig und gut, sich vom Geist der Welt fernzuhalten oder ihn vielleicht nur halbherzig zur Kenntnis zu nehmen. Das erkenntnistheoretische, den Christen konstituierende Unterscheidungsmoment ist die Existenzgrundhaltung des Hinaufhörens, die „die Welt“ nicht entwickeln kann. Und warum nicht? Weil sie gottlos geworden ist. Und warum ist sie gottlos geworden? Weil sie nicht richtig durch die (tiefenpsychologisierende) Religionskritik hindurchgegangen ist: Sie lässt zwar Gott als Existenz-Sicherung fallen, was ja insofern richtig ist, als Gott nicht als Mittel zum Zweck (ewigen Lebens) missbraucht werden soll. Sie versäumt aber gleichzeitig, tiefer in diesen innersubjektiven Vorgang der Existenz-Sicherung einzudringen. Und deshalb bleibt sie im Materialismus hängen und dringt nicht – dialektisch – zum Spiritualismus durch. Denn dazu müsste das Leben vom Tod her gedacht werden und die im Menschen liegende Idee des Seins aufgespürt und freigelegt werden. Der Materialist muss durch den eigenen Tod hindurchgehen, dann und nur dann kann er zum Spiritualisten werden: Er hängt zwar nicht mehr an Gott wie der Falsch-Betende, er hängt aber noch am Leben, weshalb er das „Leben an sich“, also das Sein selbst, nicht in den Blick bekommen kann und daher einen „Lebenskurs heroischer Realitätsanerkennung“ fahren muss (vgl. vielleicht Albert Camus; „heroischer Realismus“ wäre allerdings eine nicht beabsichtigte Assoziation, die aber inhaltlich in derselben falschen Lebensausrichtung liegt).
Der johanneische Welt-Begriff bezieht sich auf die Zukunft, mindestens jene „Zukunft“, in welcher Gottlosigkeit und Materialismus sich etabliert haben werden. Vorher trifft er nicht zu und sollte er daher auch kirchen- und geistesgeschichtlich nicht verwendet werden. Johannes betont die große, fundamentale Rolle des Individuums im christlichen Geist-Werdungs-Prozess. Das Individuum befördert für die Allgemeinheit und Christenheit den Geist. Und die Allgemeinheit und Christenheit wird es dann schon bemerken und realisieren können, jedenfalls die Selbstständig-Denkenden in ihr, die von und in ihrem Eigen-Verstehen leben, wenn und wo innerhalb ihrer sich der Geist Raum und Durchbruch verschafft, um in ein neues, höheres oder tieferes Niveau seiner selbst eintreten zu können.
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Wir können daraus als Prinzip ansetzen: Werden die biblischen Begriffe zu früh angewandt und sozusagen in Kraft gesetzt, so besteht die Gefahr, dass die Christenheit eine Begrifflichkeit und Dogmatik entwickelt, die die Wirklichkeit in sich gar nicht enthält, weil die Heils-Wirklichkeit noch gar nicht bis dorthin vorgeschritten ist. Man kommt dann in einem Nominalismus heraus, aber nicht im Realismus, dessen Begriffe ein echtes fundamentum in der heilsgeschichtlichen res haben. Der christliche Glaube lebt aber von der Grundüberzeugung: „Das Wort wird Wirklichkeit werden.“ Und nach zwei Richtungen kann diese Grundüberzeugung ins Leere laufen:
- Das Wort wird zu früh als Wirklichkeit gesetzt, obwohl es diese „seine Wirklichkeit“ noch gar nicht erreicht hat -> nominalistischer Glaube, bloßes Wort-Christentum, Nominalismus des Geistes, tendenziell römischer Katholizismus
- Das Wort wird niemals als Wirklichkeit gesetzt, weil eine solche Wirklichkeit niemals kommen wird -> Unglaube, Atheismus, Materialismus, Nominalismus der Materie, tendenziell und letztgültig der „Geist der Welt“, der „das Ende“ und den sphärenmusikalischen Trugschluss nicht als solche realisieren können wird
Zwischen beiden Irrwegen, wie zwischen Skylla und Charybdis, führt der rechte Weg des Geistes hindurch, nämlich in den Geist der Welt schnurstracks hinein, nach Maßgabe der (Heilungs-)Zeit, um ihn vollständig aufzunehmen und mit ihm für einen Moment zur Deckung zu kommen (oder besser: im Verstehen parallelisiert zu sein), aber, um durch ihn hindurchzugehen und dann von ihm weg die Richtung zur Spiritualisierung des Geistes zu nehmen, in eine freischwebend in sich selbst gründende Geistigkeit hinein, die "über den Wassern zu schweben" scheint, in Wahrheit einen festen Anhaltspunkt an der (nun internalisierten) Geistigkeit und Weisheit der Bibel gewonnen hat.
Dies scheint mir der tendenzielle Weg der evangelischen Kirche zu sein, nur weiß sie das noch nicht, denn die Johannes-Tradition liegt noch im Verborgenen, noch im selig Unbewussten, und so können sich die evangelischen Kirchen noch nicht als die Johannestradition des Geistes wiedererkennen und identifizieren, die bis zur Wiederkunft Christi durchhalten und bleiben wird.
Sie steckt noch in ihrem eigenen Werden fest, nachreformatorisch ins Stocken geraten, wie einer, der begonnen hat, etwas Neues zu tun, und dann in Zweifel geraten ist, ob es wirklich das Richtige und Bessere sei. Sie hat ihr eigenes reformatorisches Prinzip der Wandlung des Geistes in sich selbst noch nicht richtig erkannt und kann es daher auch noch nicht forciert zur Fortentwicklung bringen, um dem Bräutigam zielgenau entgegenzugehen resp. um auf den heilsgeschichtlich intendierten Kairos des Schwellenübertrittes zur Geistwelt ziel- und zeitgerecht zuzusteuern.
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Der Zusammenhang zwischen Wort und Wirklichkeit muss daher gegenseitig im Auge behalten und geprüft werden: Wirklichkeit -> Wort (katholisch), und Wort -> Wirklichkeit (evangelisch), also:
Wirklichkeit <-> Wort oder Wort <-> Wirklichkeit
Christen müssen beständig überprüfen, ob und wann das Wort (Gottes) sozusagen den Brennpunkt seiner Wirklichkeitswerdung erreicht, also heilsgeschichtlich virulent wird. Dies gilt für alle Bibelaussagen. Entsprechend lautet eine meiner „94 Thesen zum Evangelium“ (auf dieser Website nicht enthalten):
60. Die Heilsgeschichte macht es erforderlich, unser Wort Gottes in jede Gegenwart wiederzuholen.
Das Wort Gottes soll nicht in jeder Gegenwart „wiederholt“ werden, wieder und wieder gesagt, bis zum Ende immer wieder gleich. Sondern es muss in jede Gegenwart und jede veränderte Zeitsituation des Menschen hinein „wieder geholt“ werden, neu geholt, neu verstanden, besser verstanden, angemessener verstanden. Und ein solches besseres Verstehen muss sich nach und nach ergeben, wenn anders der christliche Glaube ein fundamentum in re hat, so dass der Geist immer tiefer in unsere Wirklichkeit und Welt hineinfährt, um sie und uns zu ergreifen.
Hinzu kommt, dass ich den Terminus „Gegenwart“ nun neu und anders verstehe, wie erst in diesem Text hier unter „D. Gegenwart“ dargestellt: Es stehen nicht verschiedene Zeiten wie verschiedene Gegenwarten sozusagen gleichberechtigt nebeneinander, sondern „Gegenwart“ ist in sich selbst das Zulaufen auf einen Brennpunkt, auf einen geistesgeschichtlichen Erkenntnis- resp. Ereignis-Brennpunkt, auf den Reifungs-Zeitpunkt des unter der Wirkung des Beistands-Geistes reif werdenden und irgendwann reif gewordenen menschlichen Geistes. Man könnte also sagen: "Gegenwart" ist ein ganz und gar theologischer und heilsgeschichtlicher Terminus. Wird er anders verwendet, so ist er überhaupt nicht verstanden. Wer nicht Christ sein will und es vorzieht, in der Welt oder weltlich zu leben, der hat und kennt überhaupt keine "Gegenwart". Und wenn er den Terminus dennoch benutzt, so benutzt er ihn falsch, oder genauer: Er gebraucht zwar das Wort, aber ohne den Begriff zu haben. Der Begriff ergibt sich aber aus der etymologischen Betrachtung: Sich dem eigenen Geschichtsfluss zuzuwenden, in welchen man gestellt ist, und allmählich gewahrzuwerden, wohin die Reise geht.
Die Heilsgeschichte ist ja eine Hineinbewegung des Evangeliums in unsere sündhafte Wirklichkeit und Welt, eine Hereinbewegung in uns in unserer sündhaften Existenz. Das heilende, höhere Wort des Geistes soll ganz hinein in diese Welt und ganz hinein in uns, und diese Bewegung braucht ihre Zeit, nämlich unsere Geschichts- und Entwicklungszeit. Und erst, wenn das Wort voll und ganz hineingelangt ist in uns, in unsere Welt und Wirklichkeit, kann es diese Welt und Wirklichkeit und uns selbst ergreifen und mit sich nehmen ins kommende Reich Gottes, in die Wirklichkeit des Geistes und der Geistwelt hinein.
Die Heils-Wirklichkeit läuft zuerst auf die Sünden-Wirklichkeit zu, solange, bis sie mit ihr zur Deckung kommt, und dann beginnt die Heils-Wirklichkeit sich aus der Sünden-Wirklichkeit herauszuheben, und es kommt zu einer gesellschaftlich-kulturellen Scheidung und Trennung, aus welcher dann erst die „Wirklichkeit des Geistes“ resultiert, die nun erst dem „Geist der Welt“ unversöhnlich oder inkompatibel gegenübertritt.
Die Heils-Wirklichkeit kommt von oben, aus der Geistwelt selbst heraus, und sie muss hinunter in die irdische Sünden-Wirklichkeit und gänzlich hinein in sie. Und solange dies nicht der Fall ist, solange darf sich der Christ von der Welt nicht distanzieren, sondern muss in ihre volle Tiefe mit hineingehen. Ansonsten würde er voreilig einen Maßstab des Sündhaften und des Heilvollen anlegen, den er noch gar nicht hat, weil er selbst noch von beidem betroffen ist und daher nicht klarsehen kann.
Handelt er dennoch voreilig, so weiß er nicht einmal, ob er Sündhaftes zu Heilvollem erklärt und umgekehrt. Er schreibt sich selbst ein Wissen zu, das er noch gar nicht hat und auch noch nicht haben kann, weil die Heilsgeschichte ihre Zeit braucht, um ihre Wirkung zu tun. Und deshalb kann man sich nicht - um mit Lessing zu sprechen - mit einem "vorausgesagten Fazit" begnügen, also eine "wahre Wirklichkeit" äußerlich festhalten, ohne in sie selbst hineinzugehen, so, wie man einen höheren Betrugsversuch (eines Genius malignus) nicht schon dadurch "ausschalten" kann, dass man auf die Idee des Betrogen-werden-könnens gekommen ist. Und so wird man zugespitzt vielleicht formulieren können: Der Katholizismus hält die "Idee des Heiles" hoch und fest, der Protestantismus aber sucht die Mittel und Wege, um in jenes Geheiltwerden wirklich und praktisch hineinkommen zu können, an ihm teilzuhaben, welches in der Idee zunächst einmal nur zugesagt ist. Der Katholik sagt sich: "Ich stehe (schon) auf der rechten Seite, denn ich bin es, dem sie mitgeteilt worden ist. Also kann mir welt- oder unheilsgeschichtlich nichts mehr passieren." Der Protestant sagt sich: "Was muss ich tun, damit ich auf der zugesagten rechten Seite auch wirklich zum Stehen komme? Die Bibel warnt mich ja auf Schritt und Tritt, dass Heilszusage und Geheiltwerden nicht schon identisch sind."
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Aus diesem Grund erachte ich es in unserer Gegenwartssituation als möglich, sinnvoll, dringlich und notwendig, die gegenseitige Kommunikation und das Gespräch über den Geist möglichst allseitig am Leben zu erhalten, oder auch neu anzufachen, denn wir befinden uns noch in einer weltanschaulichen Unentschiedenheit, die noch keine klar getrennten kulturellen Weltanschauungs-Lager aufweist, die die gegenseitige Kommunikation preisgegeben hätten und in die von ihnen behauptete Wahrheitsrichtung liefen, ohne Rücksichtnahme auf die Anderen.
Entsprechend intendiert mein Gesamttext hier eine Gesprächsaufnahme, ein Zusammensammeln. Er will keine pure Provokation sein, wobei „provocare“ nicht nur „reizen“ heißt, sondern auch „hervor- oder herausrufen“, womit es der Ekklesia, der „Herausgerufenen“ benachbart zu liegen scheint (ἐκκαλέω (ekkaléō) „herausrufen“). Und die „Provokation“ ist als Handlungselement Jesu auch nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Ich komme darauf noch zurück.
Wir sind in die „Endzeit“ der Offenbarung noch nicht eingetreten, stehen aber an deren Schwelle, weshalb der Terminus „Gegenwart“ als Sammelbewegung vor dem Schwellenübertritt bestimmt wurde, wobei bereits Markus der Evangelist dieser Bewegung angehört, wenn er kürzest und knappest formuliert:
„Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ (Mk. 1,15)
Einheitsübersetzung © 2016
der Katholischen Bibelanstalt GmbH, externer
Link: https://www.bibleserver.com/EU/Markus1,
abgerufen am 18.06.2024.
Die biblischen Termini "Zeiterfüllung" oder "Reifezeitpunkt" sollten einmal umfassend theologisch aufgearbeitet werden. Dies dürfte unsere Geisteswissenschaften dann zu ihrem wahren Selbstverständnis und Selbstbewusstsein führen können, und die Naturwissenschaftler können dann vielleicht richtig erkennen, dass sie vom wahren Erkenntnisprozess im Grunde ausgeschlossen sind und "draußen" stehen, aber nicht, weil irgendein Geisteswissenschaftler das wollte, sondern weil die Naturwissenschafter es selbst wollen, indem sie eine unangemessene "Blickrichtung ins Sein" gewählt haben. Und wenn sie doch nicht dauerhaft draußen stehen wollen, dann sollen sie die Wissenschaft doch dort betreiben, wo es Sinn macht: im Geiste für den Geist.
Der Schwellenübertritt selbst ist ein Übergehen in die Geistigkeit des Daseins, die in einem Exodus aus dem Irdischen zu bestehen scheint (Offb. 14,3), der dann freilich – von der anderen Seite her gesehen – ein Eintreten ins Himmlische oder das Reich Gottes ist. Dann wird die Menschheit zwei Wegrichtungen nehmen: die einen marschieren nach unten, in die Sinnlichkeit und Materialität, in die Peripherie des Universums, die andern marschieren nach oben, zum Höhlenausgang, in die Geistigkeit des Daseins überhaupt, ins Zentrum des Geistes, von dem das Universum sein Herkommen, sein Dasein, sein Wesen, seinen Bestand, sein Wirken und seine Wirklichkeit hat.
Und mir scheint, wir haben heute allen Grund, uns mit den Modalitäten dieses Eintreten-Könnens näher zu befassen, nicht allmählich, sondern schnurstracks. „Jetzt aber hopp!“
36. Wird die Petrus-Tradition von den Pforten der Unterwelt überwältigt werden?
Der römische Katholizismus mit seiner päpstlich-petrinischen Führungsspitze fußt - rein gedanklich gesehen – auf einer bestimmten Bibelstelle, die die kardinale Bibelstelle der Petrus-Tradition zu sein scheint, so sehr, dass es offensichtlich unmöglich ist, sie ihr – konfessionell – irgendwie streitig machen zu können.
Faktisch, scheint mir, lebt der römische Katholizismus aber nicht von einer Geistunmittelbarkeit, die er hätte, sondern von einem Schlussfolgerungsverfahren, einer rationalen Schlusskette, die als solche schon ein Indiz oder auch Verdachtsmoment dafür ist, dass ihm die Geistunmittelbarkeit fehlt, die dann und dadurch zustande käme, dass es dem menschlichen Denken gelänge, den Geist selbst in sich herein und aufzunehmen und so eine lebendige Geistanbindung auf den (Geschichts-)Weg zu bringen. Und weil sie fehlt, deshalb muss geschlussfolgert werden, quasi um nachzuweisen, dass dasjenige, was faktisch „nicht da ist“, doch… irgendwie… „da sei“…
Der römisch-katholische Schlussfolgerungs-Geist nimmt seinen Ausgangspunkt von Mt. 16,18. Hier liegt der Angelpunkt, der gleichsam felsenfest steht, so fest, dass selbst die Pforten der Unterwelt ihn nicht werden überwinden können. Da können christliche Konfessionen dagegensetzen, was immer sie wollen. Denn so sagt das nicht nur die Bibel, sondern Jesus Christus selbst hat es gesagt!
Und wir wollen nun kritisch nachfragen, reformatorisch-kirchengeschichtlich zum „gebrannten Kind“ geworden: Ja? Sagen sie das?
Wir sehen in der Bibel einen Musterschüler Johannes vorgeführt, der selbstständig und ohne große Anweisung oder Beaufsichtigung durch Jesus seiner „Wege in Christo“ gehen kann, Jesus in den Geist hinein nachfolgt und uns, den Mitschülern, diesen Weg hinein vorausgegangen ist und ihn uns nach- resp. vorgezeichnet hat. Er hat uns den Nachfolge-Auftrag exemplarisch vorgemacht, und in der Nachzeichnung führt er auch den Weide-Auftrag mustergültig vor, denn er gibt uns jene geistige Nahrung, die wir auf dem Weg und für den Weg brauchen. Er versteht etwas von der Sache, der Sache des Christentums, der Sache „Geist“, und er tut seine Aufträge einfach, verliert nicht viele Worte.
Daneben wird uns der zweifelhafte Schüler Petrus der Fels präsentiert, der immer wieder fehlorientiert und missverstehend gezeigt wird, nicht nur im Johannesevangelium, und von welchem man – in gedanklicher Fortführung der Bibellektüre - eigentlich annehmen muss, dass er in dem Augenblick, wo Jesus nicht mehr leiblich präsent sein wird, um unmittelbar korrigierend in das stolpernde, herumirrende, im Grunde desorientierte Petrus-Handeln einzugreifen, aus der Bahn geraten und die Richtung des Christentums, also der Heilsgeschichte in die Welt hinein (und umgekehrt des menschlichen Geistes in die Himmels- oder Geistwelt hinein), nicht halten können wird, und zwar deshalb nicht, weil er die Orientierung im Geiste gerade nicht findet, ja nicht einmal als eigentlichen, spezifisch christlichen Problem- und Ansatzpunkt des Lebens und Handelns erkennt.
***
Kommen wir zurück auf den „Störfaktor“, der in der wiederholten Liebesfrage Jesu in den Raum gestellt ist, aber nicht aufgelöst wird. Was ist denn nun dieser „Störfaktor“, auf den Petrus selbst kommen soll, aber einfach nicht kommt; jener Störfaktor, auf welchen Jesus Petrus wiederholt aufmerksam macht, ohne ihn explizit auszusprechen? Worin liegt der „Fehler“ des Petrus?
Der Petrusfehler - und zugleich der Kapitalfehler des
menschlichen Geistes - ist:
ALLES MÖGLICHE IN FRAGE ZU STELLEN, NUR NICHT SICH SELBST!!!
Diese Erkenntnis entnehmen wir nicht der Bibel, die uns aber im „Störfaktor“ einen Wink mit dem Zaunpfahl gibt, sondern unserem philosophischen Selbstdenken, so dass uns Petrus nun zu einem Fallbeispiel der Philosophie geworden ist. In 2 Thess. 2,10 haben wir uns biblische Rückendeckung geholt, um vor etwaigen theologischen Angriffen sicher zu sein, und nun bewegen wir uns auf Mt. 16,18 zu, der „Rückendeckung der römisch-katholischen Theologie und Kirche“, nicht, um diese Bibelstelle zu erschüttern, sondern um sie ein wenig abzuklopfen, soll heißen, um die Gedanken-Streu (um diese Bibelstelle herum) vom Erkenntnis-Weizen (dieser Bibelstelle selbst) zu trennen.
Das urchristliche Jesus-Wort von „Petrus dem Felsen“ scheint nämlich zur kirchen- und geistesgeschichtlichen Stolperfalle einer „Felsenfestigkeit der Petrus-Tradition“ geworden zu sein, die sich selbst nicht mehr in Frage stellt, indem sie sich von Jesus her „dauerhaft in der Wahrheit stehend“ wähnt.
Nennen wir’s eine „euphorische, enthusiastische Egozentrik“ oder auch ein „erhöhtes Selbstwertgefühl“, das in Petrus vorhanden ist, so vorhanden, dass er einen Tatendrang in sich verspürt, ohne recht zu wissen, wo und wie das – christliche - Handeln anzusetzen sei.
Und dieses petrinische erhöhte Selbstwertgefühl fließt dann in die Petrusnachfolger und in die Petrus-Tradition sozusagen als „Felsenbestandteil“ mit ein:
„Zur Lenkung der Kirche bin ich erwählt –
- Von der rechten Bahn kann ich nicht abweichen –
- Meine Bahn ist die rechte Bahn –
- Ich gebe die Lenkung der Kirche vor.“
Man sieht förmlich, wie innerhalb dieses Ich- oder Geist-Prozesses eine stillschweigende Umkehrung stattfinden kann, vom Objektiven weg und ins Subjektive hinein: Die Euphorie wird zum Tragenden, und sie „beweist“ die Richtigkeit des eigenen Weges, welches Aussehen auch immer dieser durch die Zeiten und Kirchengeschichte hindurch annehmen wird. Der Weg als solcher (philosophisch - wir erinnern uns - met-hodos) muss nicht mehr hinterfragt werden, nicht beurteilt und nicht überprüft, denn er gründet in einer höheren Weg-Zusicherung. „Der Petrus-Weg ist als der richtige zugesichert!“ – Dies ist der Geist des römischen Katholizismus, diese Grundüberzeugung bestimmt alle römisch-katholische Verstehensbemühung, ist also in der römisch-katholischen Geistigkeit bereits a priori vorausgesetzt, ist römisch-katholische Denk- und Lebens- und Glaubens-Prämisse.
So ergibt sich der Schluss: Weil der Geist dem Petrus zugesagt ist, deshalb ist er in der Petrus-Tradition da. Und daraus ergibt sich der weitergehende Schluss: Welcher Geist auch immer in der Petrus-Tradition da ist, es muss der zugesagte Geist sein. Und so ergibt sich für die römisch-katholische Gefolgschaft der weitergehende Schluss: Wir brauchen den Geist als solchen gar nicht mehr anzusehen, nicht mehr zu beurteilen, denn er wird und muss schon der richtige sein. Er ist im Papst, denn er kommt von Petrus, also kommt er von Jesus. - Römisch-katholische Geistigkeit hat schlussfolgernden, keinen geistunmittelbaren Charakter.
Der „Geist des Menschen“ wird auf diese Weise zum unkritischen Selbstläufer, gestützt auf ein äußerliches Wahrheits-Sicherungs-Verfahren, das auf eine Realeinschätzung des Geistes verzichten kann, welche dadurch stattfinden würde, dass man Wort und Wirklichkeit miteinander vergleicht, also aneinander hält wie zwei Reißverschluss-Elemente, um zu sehen, ob sie überhaupt (noch) zusammenpassen. Luther hat das zuerst getan, sich vom "Nimbus des Heilgen Vaters" nicht blenden und nicht täuschen zu lassen, sondern in seinen Geist selbst hineinzusehen und diesen mit dem Geist der Bibel zu vergleichen. Die römisch-katholische Christenheit aber hält das päpstliche Ansehen immer noch als wahr und heilsgeschichtskonform fest und hoch, sei es nun kritisch-reflexiv oder auch naiv-unhinterfragt.
Auf diese Erwählungs-Selbstsicherheit ist der mittelalterliche Dictatus Papae gebaut, und darauf ist auch das Infallibilitätsdogma des 19. Jahrhunderts gebaut, mit welchem im Grunde ein „Ort des Erscheinens der Wahrheit“ behauptet wird, gegen das „Windwehen“ des Johannesevangeliums: Der Ort des Erscheinens sichert die Richtigkeit des Inhaltes…? Ein (Ex-cathedra-)Wort des Papstes muss das wahre sein… …egal welchen Inhalts es sei? Aha, deshalb wird dieses Wort immer leiser, immer sporadischer, weil ihm diese Logizität selbst unheimlich geworden ist: „Egal, was ich sage, es ist wahr, weil ich es sage (indem offenbar irgendwo versteckt in mir der Heilige Geist sein numinos-geheimnisvolles, tiefst-sakrales Wirken an mir vollzieht, an meiner unzureichend-menschlichen Selbstwahrnehmung vorbei)?“…
Und daraus lebt das Selbst- und Sendungsbewusstsein der römisch-katholischen Kirchenführung und ihrer Gefolgschaft. Wenn Augustinus (richtig) formuliert: „Liebe (Gott) - und tu was du willst“ (Dilige et quod vis fac; in seinem Kommentar zu 1 Joh. 4), so scheint ein petrinisch-analoges Leitwort zu lauten: „Lass dich von Gott beauftragen - und tu was du willst“. Entsprechend zentral gewichtet ist das biblisch-evangelische Petrus- oder Felsenwort Jesu innerhalb dieser Theologie, welches eine solche Beauftragung ja auch tatsächlich ausspricht.
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Dennoch ist in der Person des Petrus – biblisch-evangelisch - eine seltsame Diskrepanz zwischen Zweifelhaftigkeit und Selbstsicherheit erkennbar, und wir sehen uns zunächst noch ein paar Szenerien an:
„Von da an begann Jesus, seinen Jüngern zu erklären: Er müsse nach Jerusalem gehen und von den Ältesten und Hohepriestern und Schriftgelehrten vieles erleiden, er müsse getötet und am dritten Tag auferweckt werden. Da nahm ihn Petrus beiseite und begann, ihn zurechtzuweisen, und sagte: Das soll Gott verhüten, Herr! Das darf nicht mit dir geschehen! Jesus aber wandte sich um und sagte zu Petrus: Tritt hinter mich, du Satan! Ein Ärgernis bist du mir, denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen.“ (Mt. 16, 21-23; Herv. v. Verf., vgl. Mk. 8,27-33)
Einheitsübersetzung 2016
© Katholische Bibelanstalt GmbH und
Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016
Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart,
externer Link: https://www.bibleserver.com/EU.LUT/Matth%C3%A4us16,
abgerufen am 29.04.2024.
„Da fragte er sie abermals: Wen sucht ihr? Sie aber sprachen: Jesus von Nazareth. Jesus antwortete: Ich habe euch gesagt: Ich bin’s. Sucht ihr mich, so lasst diese gehen! Damit sollte das Wort erfüllt werden, das er gesagt hatte: Ich habe keinen von denen verloren, die du mir gegeben hast. Nun hatte Simon Petrus ein Schwert und zog es und schlug nach dem Knecht des Hohenpriesters und hieb ihm sein rechtes Ohr ab. Und der Knecht hieß Malchus. Da sprach Jesus zu Petrus: Steck das Schwert in die Scheide! Soll ich den Kelch nicht trinken, den mir der Vater gegeben hat?“ (Joh. 18, 7-11; Herv. v. Verf.)
Lutherbibel,
revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft,
Stuttgart und Einheitsübersetzung
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Link: https://www.bibleserver.com/LUT.EU/Johannes18,
abgerufen am 29.04.2024.
Was wird uns gezeigt? Petrus der Schüler nimmt sich die Freiheit, Jesus den Lehrer zurechtzuweisen, als würde er die Dinge besser verstehen als jener. Und im andern Fall will Petrus das Christentum mit physischer Gewalt verteidigen, um es irdisch zu sichern. Beide Male zeigt er ein „fleischliches“ Missverstehen des Christentums, und beide Male muss der Lehrer den Schüler (und vermeintlichen Lehrer) zurechtweisen, was er jetzt noch kann, weil er jetzt noch da ist.
Dieses Hingebannt sein auf ein fleischliches, irdisches Missverstehen finden wir auch im folgenden Wasser-Bild dargestellt:
„Und alsbald drängte Jesus die Jünger, in das Boot zu steigen und vor ihm ans andere Ufer zu fahren, bis er das Volk gehen ließe. Und als er das Volk hatte gehen lassen, stieg er auf einen Berg, um für sich zu sein und zu beten. Und am Abend war er dort allein. Das Boot aber war schon weit vom Land entfernt und kam in Not durch die Wellen; denn der Wind stand ihm entgegen. Aber in der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen und ging auf dem Meer. Und da ihn die Jünger sahen auf dem Meer gehen, erschraken sie und riefen: Es ist ein Gespenst!, und schrien vor Furcht. Aber sogleich redete Jesus mit ihnen und sprach: Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht! Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser. Und er sprach: Komm her! Und Petrus stieg aus dem Boot und ging auf dem Wasser und kam auf Jesus zu. Als er aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: Herr, rette mich! Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? Und sie stiegen in das Boot und der Wind legte sich. Die aber im Boot waren, fielen vor ihm nieder und sprachen: Du bist wahrhaftig Gottes Sohn!“ (Mt. 14, 22-33)
Lutherbibel,
revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft,
Stuttgart und Einheitsübersetzung
2016 © Katholische Bibelanstalt GmbH, externer
Link: https://www.bibleserver.com/LUT.EU/Matth%C3%A4us14,
abgerufen am 29.04.2024.
Das „Wasser“ steht für den „Geist“. Petrus und auch den anderen Jüngern fehlt aber die „Tragfähigkeit im Geiste“. Ihre Selbstsicherheit bezieht sich nur auf das Irdisch-Sinnliche, sobald aber das Überirdisch-Geistige in Betracht kommt, sind Zweifel und Kleinglaube da. Petrus gelingt es nicht, im „Komm“-Ruf Jesu den „Komm“-Ruf des Geistes zu erkennen und ihm zu folgen, er ist abgelenkt durch die sinnliche Wirklichkeit (starke Winde), nicht anders als durch die „Tücher“ im Grab des Auferstandenen, so dass ihm das Geist-Ereignis als solches entgeht, während Johannes eine andere Geistkonzentration und Geistesgegenwart besitzt und daher sofort angemessen reagieren kann: "... und sah und glaubte." (Joh. 20,8)
Lutherbibel,
revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft,
Stuttgart und Einheitsübersetzung
2016 © Katholische Bibelanstalt GmbH, externer
Link: https://www.bibleserver.com/LUT.EU/Johannes20,
abgerufen am 29.04.2024.
Petrus wird hier gezeichnet mit übereilter Besserwisserei und mit Kompetenz-Überschreitung, zugleich mit einem Fixiert sein auf das Sinnliche, so dass er kein Auge und keine Wahrnehmung für das Geistige (und eigentlich Christliche) hat, denn dazu bedürfte es einer Aufmerksamkeitsverlagerung, oder wir können auch sagen, einer Umkehrung seines Geistes. Und wir wollen dies zunächst einmal nur zur Kenntnis nehmen.
***
Und jetzt sehen wir uns die kardinale Bibelstelle der päpstlich geführten römisch-katholischen Kirche näher an.
Den Anfang machen wir aber mit einem Blick auf eine Vertonung dieses Textes, auf das „Tu es Petrus“ von Franz Liszt, welches ich selbst in früheren Zeiten des Öfteren im Chor mitgesungen habe, als Knaben- und als Männerstimme. Ich will zunächst versuchen, die musikalische Kunst ein wenig einzufangen.
Inhaltlich wird mit dem
Kopf- und Kernsatz begonnen: Tu es Petrus, Du bist Petrus,
scheinbar einem bloßen Aussagesatz, und so entspricht den
Worten "Du bist" eine Tonwiederholung, eine Prim, sozusagen ein
Nichtintervall. Doch mit der Namensnennung des "Petrus" ist
sogleich auf dem dritten Ton eine düstere kleine Sext gesetzt,
die einen Schreckmoment bedeutet und eine Bedrohlichkeit
signalisiert, als würde Petrus über die Worte erschrecken: Der
goße Gott (Jesus der Christus) wendet sich an den kleinen
Menschen (Petrus), und so wird aus einem scheinbar lapidaren
Aussagesatz ("Du bist du" oder "a = a") ein Aufforderungs- und
Anforderungssatz, der im direkten Anschluss dann präzisiert,
definiert und musikalisch ausgerollt wird: Du bist
Petrus - und auf diesen
Felsen - werde ich meine
Kirche bauen.
Von Satz zu Satz nimmt das Intervall ab, indem - gemessen an
der anfänglichen "Petrus"-Sext - der "Felsen" auf eine Quint
fällt und die "Kirche" auf eine Quart, aber die Besonderheit
daran ist, dass das erste (eingestrichene) Petrus-C beibehalten
und durchgehalten wird im Felsen-C und Kirchen-C, so dass das
Intervall also von unten her abnimmt, als würde der
anfänglich überraschte und übermannte Petrus
allmählich aufsteigen bzw. emporgehoben bzw. sich einfinden in
seine hoheitliche, herrschaftliche Aufgabe. Es geht
sozusagen stufenweise mit Petrus aufwärts, analog einer
Thron-Besteigungs-Zeremonie. Das ostinate C übernimmt damit
eine Transformations-Funktion, als würden die drei Sätze
schließlich in den einen Satz verschmelzen: Tu es ... ecclesia
mea - Du bist meine Kirche.
Auch in den Nebenworten ist eine Tonmalerei enthalten: Es ist
ein Dreivierteltakt gewählt. Damit die Hauptworte Petrus -
Felsen - Kirche auf den (betonten) ersten Taktschlag treffen
können, müssen die Nebenworte entsprechend platziert werden.
Und weil der erste Satz in den Nebenworten nur zwei Silben
ausmacht, muss der Männerchor im Grunde mit einem Pausenschlag
beginnen, also: leer (1) - Tu (2) - es (3) / Pe-
(1-2-3) / -trus (1) - leer (2) - leer (3). Im ersten
Satzteil des zweiten Satzes sind es vier Silben, weshalb
zunächst zwei Pausen erforderlich sind: leer (1) - leer (2) -
Et (3) / su- (1) - -per (2) - hanc (3) / Pe-
(1-2-3) usw. Der zweite Satzteil des zweiten Satzes
weicht nun in der Nebenwort-Verteilung ab. Rein prosodisch
gesehen, könnte das "aedificabo" ganz regulär auf dem ersten
Schlag des Taktes beginnen, denn es fügt sich punktgenau in den
Dreivierteltakt: ae (1) - di (2) - fi (3) / ca
(1-2) [weil prosodisch betont] - bo (3). Da es aber um
die Bautätigkeit der Kirche geht, in welcher es
maßgeblich auf "Petrus den Felsen" ankommen soll/wird,
verlegt der Komponist die Silbe "ae-" nicht nur auf die 1 des
Taktes, sondern zusätzlich auch noch auf die 3 des Vortaktes,
wodurch sie nicht nur verlängert und besonders gewichtet ist,
sondern zugleich sozusagen synkopisch vorweggenommen, so dass
die "Grund- oder Ecksteinhaftigkeit Petri für den anstehenden
Kirchenbau" im Bau der Komposition mitabgebildet ist,
vielleicht auch sein "Primat" innerhalb der Kirche, seine
geistige Vorreiter- und Führungsrolle. Und die fundamentale
Bedeutung des Verbs "aedificare" wird dann noch fortgeführt,
indem das "-cabo" (= bau"-en werde ich"), das die
betonte Silbe "-ca-" enthält, auf die
Petrus-Felsen-Kirchen-Linie des C mithinaufgehoben wird, so
dass Petrus mit der
Kirche gerade über die Bautätigkeit Jesu
Christi - in Ausübung seines Petrusamtes -
zu einer Einheit
verschlungen ist.
Genannt sei noch zum dritten Satz "et portae inferi non
praevalaebunt", dass das "praevalere = sehr stark sein, die
Übermacht haben" von der Unterwelt intensiv angestrebt ist,
indem sie im ersten Kompositionsteil zuletzt die eingestrichene
Dur-C-Heils-Linie mit einer ebenso eingestrichenen (zugleich
modulierten, daher zwischen Cis und E gebildeten)
Moll-Unheils-Linie zu überbieten versucht, erkennbar
auch daran, dass sie sich zwei volle Takte (= sechs Schläge -
konnotativ: die forcierte Sechs = dreimal 6 = in der
Offenbarung die Zahl des Tieres oder des Antichristes)
durchhalten kann und durchhält - und dann aber auf das kleine H
zurückfällt bzw. zurückfallen muss, also
unter die C-Sieges-Linie. Warum muss sie das - auch
musikalisch? Weil die
von Jesus intendierte Kirche, die vier Schläge
erhielt, also mehr als Petrus, der einen Takt (= drei Schläge)
bekam, ebenso sein Felsensein, die von Petrus geforderte
"Schützenhilfe" tatsächlich erhält (so wohl des
Komponisten Auffassung), indem der Kirchenaufbau
vorsehungsmäßig gelang, nämlich durch das zur C-Ebene
aufgestiegene "-ca", das einen vollen Takt, also drei
Schläge ausmacht, so dass also letztendlich durch
Petrus die
Kirche den längeren Atem behält, indem sie in
Summe sieben Schläge (3 + 4) ausmacht (konnotativ: sieben ist
die Zahl der Zeit und die Zahl der Vollendung) und damit die
Sechszahl der Unterwelt schlagen, überbieten, unterwerfen und
über sie siegen kann.
Das sei genug, um Franz Liszt als Komponisten zu würdigen. Zugestehen möchte ich noch, dass das Stück musikalisch-harmonisch sehr gut gelungen ist, so dass man es - rein musikalisch gesehen - gut und oft anhören kann. Ich merke dies vor allem deshalb an, weil mein Lieblingskomponist - Bach - so allerlei kompositorisch kunstvoll gearbeitete Stücke produziert hat, die ich mir so gut wie niemals anhöre, weil diese Kunst musikalisch-harmonisch nicht so geraten ist, dass man sie nach einem ersten Hören unbedingt nochmals wiederhören möchte: Es ist handwerkliche Meisterkunst, und wer sich für (Kompositions-)Handwerk interessiert, der mag sich damit beschäftigen.
Nichtsdestotrotz finden wir hier dasselbe musikalisch, was uns schon in der pseudo-goethischen Natur-Bewunderung literarisch begegnete: Für einen mangelhaften Inhalt wird eine schöne, ästhetisch ausgereifte, künstlerische Form bemüht. Die Kunst transportiert ein Mehr, das der Inhalt aber gar nicht enthält. Das Kleid erweckt einen falschen Anschein. "Mangelhaft" nenne ich den Inhalt deshalb, weil geistig gesehen die sachlich falsche emotionale Botschaft transportiert wird: „Du bist Petrus - du bist der Sieger!“
Als Text zugrunde gelegt sind Matthäus 16 und Johannes 21:
Tu es Petrus et super hanc
petram
ædificabo Ecclesiam
meam
et portæ inferi non
prævalebunt.
(Matthäus 16,18)
Simon Joannis diligis
me?
Pasce agnos
meos!
Pasce oves
meas!
Amas me? Diligis
me?
Confirma fratres
tuos!
(Johannes 21,15-17; + x)
Du bist Petrus, und auf
diesen Felsen
werde ich meine Kirche
bauen,
und die Pforten der
Hölle
werden sie nicht
überwältigen.
Simon, (Sohn) des Johannes,
liebst du mich?
Weide meine Lämmer! Weide
meine Schafe!
Liebst du mich?
Stärke deine Brüder!
Textquelle - externer Link: https://www.youtube.com/watch?v=8M1i3YAgABI, [Text unterhalb des Videos: Die Übersetzung als solche kann ich nicht verifizieren, denn "werde ich meine Kirche bauen" ist ein Einheitsübersetzungs-Baustein und "Pforten der Hölle" ist ein Lutherbibel-Baustein...?]. Vielleicht gibt man in YouTube auch alternativ ein „Tu es Petrus Orgel“, dann kann man die Regensburger Domspatzen hören: Externer Link: https://www.youtube.com/watch?v=uK8hhz3e2m8, nur dass die Orgel-Transkription nicht die orchestrale Wucht des Stückes erreichen kann. Die Tonsetzung kann man über diesen Link ansehen, unter VIII. Die Gründung der Kirche: Tu es Petrus (ab 1:28 min. [= ab ca. 90 Min.]): Externer Link: https://www.youtube.com/watch?v=YkM89wQWJ4w - alle Links abgerufen am 30.04.2024.
Der Matthäusvers ist glorifizierend vertont, schwergewichtig, bedeutsam, im Forte, vom Männerchor geschmettert, wie von einer in sich feststehenden Armee. Der Johannestext ist „lieblich“ und piano komponiert, als ginge es darum um „Liebe“ (nicht etwa um Nichtliebe, um Verrat). Und den „Frage-Verdacht“ kann die Komposition mit ein paar kleinen Moll-Zweifeln schnell erledigen wie aufziehende Gewitterwolken, die sich bald wieder verflüchtigen - man sieht hier das oben angedeutete Hinweghuschen über den eigentlichen Sinngehalt des Textes. Der „Liebes-Text“ gehört dem (weichen) Knaben- oder Frauenchor, den die Männerstimmen sachte begleiten dürfen, bis das Ganze dann – nach Zweifelserschöpfung und Himmelsaufklärung – gemeinschaftlich zum Fortissimo anschwillt und den grandiosen Schlusspunkt setzt.
Der Satz „Stärke deine Brüder“ (Confirma fratres tuos) wird dann irgendwie musikalisch hineingeschmuggelt, er hat mit Mt. 16 und Joh. 21 nichts zu tun, sondern stammt aus dem Lukasevangelium, womit uns der Komponist wohl zu verstehen geben will: "Seht doch: Das Felsenwort Jesu ist wie synoptisch. Die Evangelien stimmen darin überein!" - Hier der Satz im Zusammenhang:
„Simon, Simon, siehe, der Satan hat begehrt, euch zu sieben wie den Weizen. Ich aber habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre. Und wenn du dann umkehrst, so stärke deine Brüder. Er aber sprach zu ihm: Herr, ich bin bereit, mit dir ins Gefängnis und in den Tod zu gehen. Er aber sprach: Petrus, ich sage dir: Der Hahn wird heute nicht krähen, ehe du dreimal geleugnet hast, dass du mich kennst.“ (Lk. 22, 31-34)
Lutherbibel,
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Stuttgart und
Einheitsübersetzung 2016 © Katholische
Bibelanstalt GmbH, externer Link: , https://www.bibleserver.com/LUT.EU/Lukas22,
abgerufen am 17.07.2024.
Greifen wir den Satz heraus, um den es geht:
"Und wenn du wieder umgekehrt bist, dann stärke deine Brüder!"
Nun müssen wir fragen nach der Bedeutung dieser Aussage „Stärke deine Brüder“, die ja biblisch ein Nachsatz ist. Ergibt sich eine Sinnveränderung, wenn man den Vordersatz unterschlägt, oder bleibt der Nachsatz sich selbst gleich? Wenn Petrus – lukanisch-biblisch gesehen – umzukehren hat, dann ergibt sich sehr wohl eine Sinnveränderung. Wenn Petrus nämlich nicht umkehrt, dann bedeutet die Aussage „Stärke deine Brüder“ nichts Verheißungsvolles, sondern das Gegenteil dessen, was biblisch gesagt und gewollt ist, nämlich: „Bring deine Brüder dazu, sich nach dir zu richten und deinem Irrweg zu folgen!“
Und wir wollen hier den Komponisten entschuldigen, denn ein „petrinischer Umkehrgedanke“ passt so gar nicht in das strahlende Bild „Petrus der Sieger“, weshalb er den Vordersatz in seiner Tonsetzung nicht brauchen konnte. Entsprechend schließt die Komposition im Fortissimo (des Gesamtchores) ab, unter Beteuerung: „Nicht einmal die Pforten der Hölle [= lutherisch, oder: der Unterwelt] werden Petrus irgendetwas anhaben können. Wenn also eines feststeht, dann dies – PETRUS IST DER SIEGER!“
***
Blicken wir von Lk. 22 nochmals zu Joh. 21 hinüber, und zwar auf den Versübergang 19-20:
„Und als er das gesagt hatte, spricht er zu ihm: Folge mir nach! Petrus aber wandte sich um…“
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abgerufen am 29.04.2024.
Just in dem Augenblick, wo der vor ihm stehende Jesus zu Petrus sagt „Folge mir nach“, „Richte dich nach mir!“, just in dem Augenblick dreht Petrus sich um? Petrus ist offensichtlich nicht mit voller Aufmerksamkeit bei Jesus und hört ihm nicht richtig zu…
…und die Petrus-Tradition hört dem in der Welt wirkenden, von Jesus gesandten Geist nicht richtig zu, ist mit ihrer Aufmerksamkeit woanders, als wäre die Welt von einem falschen Geist durchwirkt, von welchem ich aber nachzuweisen versuchte, dass es kein anderer als der Heilige Geist selbst sein muss, der darin wirkt und der u.a. zur Religionskritik, zur Psychoanalyse, zur Relativitätstheorie führte, die hochwertige Beiträge zur Selbsterkenntnis des Menschen sind und die man dann für die Bibellektüre wiederum fruchtbar machen kann resp. muss, auch wenn der erste Anschein dagegenspricht. Und so muss man eben den Mut fassen oder auch das Risiko eingehen, sich in den Reflexions-Wahnsinn oder das „Irrenhaus unserer Moderne“ voll und ganz hineinzubegeben, auch auf die Gefahr hin, hierbei in der Nervenklinik oder Psychiatrie herauszukommen. Aber vielleicht kommt man ja – sozusagen gegen die bloß-subjektive Eigenerwartung oder -befürchtung - ganz woanders heraus: im Glauben resp. Mehrglauben an die durchgängige Wirksamkeit des Geistes, der auch dort noch trägt, wo die menschliche Vernunft zunehmend schwindet oder schwindelig wird?
***
Wir begeben uns jetzt in die Höhle des Löwen, ins petrinische Allerheiligste, und wir wollen dieses Treffen „intellectus inquirens fidem“ nennen. Denn so, wie die Vernunft in ihrer Geistesgeschichte die Inquisition des Glaubens ertragen und erdulden musste, soll nun umgekehrt der Glaube (römisch-katholischer Provenienz) einer peinlichen Befragung durch die Vernunft unterzogen werden.
Wir wollen prüfen, ob die Gewichte biblischer Aussagen – es sind ja viele, nicht nur eine – römisch-katholisch richtig austariert sind, oder - womöglich - einseitig und falsch gewichtet, petrinisch-narzisstisch verzerrt?
Und wir nehmen zuvor noch als römisch-katholisches Selbstverständnis zur Kenntnis:
a) „Wenn der Petrus-Tradition die Kirchenführung vorbehalten ist, dann muss ihre Bibelauslegung – selbstverständlich – auch die wahre und richtige sein.
b) Nun ist der Petrus-Tradition die Kirchenführung vorbehalten.
c) Also ist die Bibelauslegung der Petrus-Tradition die wahre und richtige.“
Das Petrus- oder Felsenwort Jesu lautet:
„Ich aber sage dir: Du bist Petrus
und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen
und die Pforten der Unterwelt werden sie nicht überwältigen. (Mt. 16,18)
Ich werde dir die Schlüssel
des Himmelreichs geben;
was du auf Erden binden wirst, das wird im Himmel gebunden
sein,
und was du auf Erden lösen wirst, das wird im Himmel gelöst
sein.“ (Mt. 16,19)
Einheitsübersetzung ©
2016 der Katholischen Bibelanstalt GmbH und
Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016
Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart,
externer Link: https://www.bibleserver.com/EU.LUT/Matth%C3%A4us16,
abgerufen am 30.04.2024.
Wir wollen den Text nicht, wie üblich, von vorne her lesen, nicht also mit „Petrus“ beginnen, um dann über ein schlagwortartig-assoziatives Schlussverfahren „Petrus – Kirche – Schlüssel“ bei der römisch-katholischen Theologie herauszukommen.
Üben wir uns stattdessen einmal im „Rückwärtsdenken“, das der Anthroposoph empfiehlt, um aus der Laufrichtung des Natürlichen (= Fleischlichen) heraus und in die Laufrichtung des Geistigen (= Geistlichen) hineinkommen zu können. Und diese Richtungsumkehrung haben wir in diesem Gesamttext auch schon wiederholt versucht, indem wir beispielsweise die Wissenschaft von der Philosophie her definiert haben (statt umgekehrt), oder das Leben vom Tod her gedacht haben (statt umgekehrt), oder das NT von der Offenbarung des Johannes her gelesen haben (statt umgekehrt).
Wir verzichten also auf das übliche Schlussverfahren "Petrus - Kirche - Schlüssel" und nähern uns dem Sinn des Jesuswortes von hinten her, vom "Schlüssel", um womöglich einen - "Aufschluss" zu erhalten?
Es scheint mir nämlich nicht zwingend, Petrus im Mittelpunkt dieses Textes zu sehen. Und da wir nun einmal den (reformatorischen oder auch umstürzlerischen) Gedanken einer möglichen Petrus-Egozentrik ins Auge gefasst haben, wollen wir unseren Versuch, eine alternative Lesart für diese römisch-katholische Kardinal-Bibelstelle zu finden, von hinten her beginnen. Möglicherweise steuern wir damit auf eine Hinter- oder Rückseite der Petrus-Tradition zu, soll heißen: auf ihr Unbewusstes, wovon sie nichts weiß und nichts wissen will, weil sie die (ins Tiefenpsychologische hineingehende) Geistentwicklung der Moderne verweigert und (bislang) nicht mitmacht?
Wir setzen also: Im Mittelpunkt des Textes steht nicht Petrus, sondern die Kirche Jesu Christi.
Und wir nehmen jetzt auch noch als römisch-katholisches Selbstverständnis zur Kenntnis: „Diese Aussage ist doch eine Tautologie, denn Petrus steht selbst für die Kirche Jesu Christi.“ Und wir antworten philosophisch und sachlich: "Genau dieses Selbstverständnis steht nun in Frage, kann also nicht mehr länger als unumstößliche Prämisse oder sich von selbst verstehende Wahrheit vorausgesetzt bleiben, nicht mehr unangetastet."
***
Vers 19:
Über die Schlüsselgewalt hatten wir bereits gesprochen, und wir sahen, dass der Evangelist, der sie benennt und über sie spricht, Matthäus, sie nicht exklusiv dem Petrus zugesprochen sein lässt (vgl. Mt. 18,18). Und gehen wir im Matthäusevangelium noch ein Stückchen weiter, so finden wir auch noch folgende Aussage über die Schlüsselgewalt:
„Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr das Himmelreich zuschließt vor den Menschen! Ihr geht nicht hinein und die hineinwollen, lasst ihr nicht hineingehen.“ (Mt. 23,13f)
Lutherbibel,
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Stuttgart und Einheitsübersetzung
2016 © Katholische Bibelanstalt GmbH, externer
Link: https://www.bibleserver.com/LUT.EU/Matth%C3%A4us23,
abgerufen am 29.04.2024.
Hier ist von Matthäus selbst der geistige Sinn der
Schlüsselgewalt benannt. Es ist kein politischer
Sinn, der den Kaiser unter Kontrolle halten und zu einem
Canossa-Gang bewegen kann. Mit ihr kann vielmehr das
Himmelreich aufgeschlossen werden, aber auch
zugeschlossen; allerdings nicht äußerlich, nicht so, als sei
Petrus der „Vorarbeiter oder Türsteher Christi“, der eingesetzt
ist zu entscheiden: „Du darfst rein, du bleibst draußen usw.“ –
das wäre schlicht lächerlich. Richtig ist: Über eine
richtige Bibelauslegung wird das Himmelreich
aufgeschlossen. Aber über eine falsche
Bibelauslegung wird es auch zugeschlossen. Und es
ist hier zum Ausdruck gebracht, dass solches Zuschließen auch
versehentlich und unabsichtlich erfolgen kann. Nur wird man
dann sagen müssen, dass bei der falschen, verschließenden (oder
auch: falsch schließenden) Bibelauslegung nicht die wahre
Schlüsselgewalt zugrunde liegen kann, sondern eine nur
vermeintliche Schlüsselgewalt, also der Glaube, sie zu
besitzen, obwohl man sie gar nicht hat, so dass die
Christenheit dann - in Anlehnung an Lessing - fragen könnte:
„Der echte Schlüssel nicht doch ging verloren?“
Oder alternativ könnte man sich fragen, ob nicht vielleicht mit
dieser "Schlüsselgewalt" irgendein "Geistgeheimnis" verbunden
sei, analog zu dem mythisch-magischen Schwert Excalibur, das
nur der rechtmäßige Träger aus dem Stein ziehen kann,
als bestehe auch die eigentliche Schlüsselgewalt
darin, tief angelegte, in die irdische Welt hineingesenkte
Bilder zu entschlüsseln, also aus ihnen
Erkenntnis-Schätze zu heben (herauszuziehen), was nicht jeder
Beliebige leisten kann, sondern nur ein aus dem Geist Geborener
und somit vom Geist rechtmäßig Befugter?
Man könnte auch in Frage stellen, ob sich die biblisch gemeinte
Schlüsselgewalt überhaupt noch auf die Alt- oder
Sünden-Begrifflichkeit "Himmel und Erde" bezieht, oder ob die
Löse- und Bindegewalt nicht erst im "neuen Himmel" und der
"neuen Erde" der Offenbarung des Johannes wahrhaft zum Tragen
kommen werden, so dass das eigentliche Lösen und
Binden genau erst mit dem Erkennen des Neuen als
Neuen seinen Anfang nehmen kann?
***
Sehen wir uns den anderen Vers (18) genauer an, er teilt sich in drei Aussagen:
a) Du bist Petrus [gesagt zu Simon, Jonas Sohn bzw. Simon, Sohn des Johannes; vgl. Joh. 1,42]
b) Auf diesen Felsen [Petra] werde ich meine Kirche bauen
c) Die Pforten der Unterwelt werden sie nicht überwältigen
Der Schlusssatz thematisiert die Unterwelt, der Mittelsatz thematisiert die Kirche, der Anfangssatz thematisiert Petrus. Es sind in den Sätzen drei Subjekte genannt, und es wird nun auf ihr Zusammenspiel ankommen. Sowohl für den Anfangssatz selbst als auch für Anfangs- und Mittelsatz zusammen können wir das Bindeglied „Petrus – Fels“ benennen. Im Mittelsatz ist Petrus zur Kirche in ein Verhältnis gesetzt. Für Mittel- und Schlusssatz besteht kein "Bindeglied" (indem die "Kirche" schlicht sich selbst gleich bleibt), und vielmehr ist im Schlusssatz umgekehrt die Kirche Jesu Christi sozusagen ins „Nichtverhältnis" zur Unterwelt gesetzt.
Also:
Du = Petrus
Felsen <-> Kirche
Kirche ≠ Unterwelt
Damit ergibt sich folgendes Schema (gelesen – europäisch - von links nach rechts): Im Mittelpunkt steht die Kirche Jesu Christi (Mittelsatz). Sozusagen zur Linken ist Petrus ins Verhältnis gesetzt zur Kirche, aber auch ins Verhältnis gesetzt zu sich selbst (Mittel- und Anfangssatz). Sozusagen zur Rechten ist die Unterwelt ins Nichtverhältnis zur Kirche gesetzt oder von ihr ausgeschlossen (Schlusssatz).
***
Zum Schlusssatz:
Warum spricht Jesus hier über die Pforten der Unterwelt (Pylai Hadou)?
Der griechische Terminus ist
"πύλαι ᾅδου" (externer Link: https://www.die-bibel.de/bibel/NA28/MAT.16,
abgerufen am 01.05.2024, Quelle: Nestle-Aland, Novum
Testamentum Graece, 28., revidierte Auflage, hg. v.
Barbara und Kurt Aland, Johannes Karavidopoulos, Carlo M.
Martini und Bruce M. Metzger in Zusammenarbeit mit dem
Institut für Neutestamentliche Textforschung,
Münster, © 2012 Deutsche Bibelgesellschaft,
Stuttgart). Luther übersetzt mit "Pforten der Hölle",
traditionell und wörtlich gilt aber der Hades als die
Unterwelt, siehe auch Einheitsübersetzung.
Lutherbibel,
revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft,
Stuttgart und Einheitsübersetzung
2016 © Katholische Bibelanstalt GmbH, externer
Link: https://www.bibleserver.com/LUT.EU/Matth%C3%A4us16,
abgerufen am 01.05.2024.
Sieht Jesus denn eine Gefahr, diese „Pforten der Unterwelt“ könnten seine Kirche (Ekklesia, die Herausgerufene) gefährden? Die Terminologie ist, soweit ich sehe, ungewöhnlich für das Evangelium und für die neutestamentlichen Schriften überhaupt. Es wäre daher sinnvoll, eine Bibelkonkordanz zu Rate zu ziehen. Ich will es ohne versuchen.
Die Unterwelt ist traditionell das Jenseitige, und das Jenseits ist in der Moderne ins Unbewusste abgetaucht. Die Grenze zum Unbewussten ist das Bewusstsein, und in den „Pforten“ scheint es um diesen Grenzbereich oder Grenzübertritt zu gehen, wobei wir jetzt konnotativ mitdenken wollen, was wir oben feststellten: Es gibt nicht nur eine Himmelspforte, sondern jedes Individuum hat seine eigene Tür oder Schleuse, die es öffnen oder geschlossen halten kann. Die „Pforten der Unterwelt“ könnten also ein „Gegentor“ zur „Himmelspforte“ bilden - die Pluralität bezieht sich auf die „eigenen Türen“ der Individuen, denn es sind ja viele. Folglich muss den "Pforten der Unterwelt" auch eine Vielzahl von Himmelspforten entsprechen, oder anders formuliert: Jedes Individuum trägt "die Himmelspforte" in sich.
Und wenn wir uns nochmals den betreffenden Satz der Offenbarung vergegenwärtigen...
"Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich hineingehen und das Abendmahl [wörtlich: Mahl] mit ihm halten und er mit mir." (Offb. 3,20),
Lutherbibel,
revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft,
Stuttgart und Einheitsübersetzung
2016 © Katholische Bibelanstalt GmbH, externer
Link: https://www.bibleserver.com/LUT.EU/Offenbarung3,
abgerufen am 29.04.2024.
...dann sehen wir, dass das Bild
von Petrus dem Türsteher an der Himmelspforte, der mit seinen
Himmelreichs-Schlüsseln die einen reinläßt, die andern nicht,
mehrfach falsch ist. Der eigentliche Türsteher ist
Christus selbst, und er steht hinter den Himmelstüren der
Individuen, nicht davor. Er klopft beim
individuellen Menschen vom Innen des Himmelreiches aus
an, d.h. von der wahren Wirklichkeit her, um die Menschen (in
ihrer Pseudowirklichkeit) individuell in sein Reich
herüberzuholen und zwar so, dass er bei
ihnen eintritt, womit sich das "Wohnen Gottes unter
den Menschen" erfüllt und also ein Teil des Irdischen,
vielmehr: der Irdischen - wie soll ich sagen - coelestiziert
wird.
Mensch und Menschheit befinden sich ja selbst noch außerhalb dieser Welt (platonisch gesprochen: noch in der Höhle). Und daher liegt der (kosmisch-geistige) Welt-Mittelpunkt, wenn man so will, außerhalb oder jenseits unserer Wirklichkeit, was aus dem christlichen Glauben heraus so zu verstehen ist, dass die Menschheit aufgrund der Erbversündigung in einen "Raum außerhalb", in ein "Jenseits Gottes" gefallen ist und wir uns zudem daran gewöhnt haben, dieses eigentliche Jenseits "unser Diesseits" zu nennen. Es ist auch unser Diesseits, nur dass dieses Diesseits das eigentliche Jenseits ist, und das von uns aus sog. "Jenseits" (resp. ein Jenseits aus unserer sündebehafteten Jetzt-Sicht) ist in Wahrheit das eigentliche Diesseits, in welchem sich Christus befindet und von welchem aus er "bei uns anklopft".
Die Pforten der Unterwelt und die Himmelstüren liegen benachbart oder sind sogar identisch, und es kommt lediglich darauf an, wie das Individuum selbst mit seinem Bewusstsein Stellung bezieht. Wenn es die psychische Struktur "Ich - unbewusstes Über-Ich" behält, so haben die Pforten der Unterwelt es überwältigt, wenn es die psychische Struktur "Ich - überbewusste Geistigkeit seiner selbst" gewinnen kann, so haben sich die Himmelspforten geöffnet, und es ist der wahre Zugang zu Christus, die wahre Verbindung mit ihm (als dem eigenen Ich-Mittelpunkt) gefunden.
Das Individuum ist damit in seinem eigenen Jenseitigen oder
Unbewussten angesprochen, und deshalb ist auch nicht
gewährleistet, dass Christi Stimme von jedem gehört werden
wird. Man wird sein eigenes Unbewusste erst einmal ins Visier
genommen haben müssen, um ein diesbezügliches Hör- und
Wahrnehmungsvermögen überhaupt erst einmal entwickeln zu
können...
...und so wird auch klar, warum es sein kann, dass den Lampen unserer Vernunft das Öl oder der Brennstoff des Geistes, der allein das wahre Verstehen erwirken kann, ausgeht, wie in dem Gleichnis von den Jungfrauen formuliert. Und auch dort ist von einer Tür die Rede, die der Bräutigam öffnet, um die verständig gewordenen Jungfrauen einzulassen und hinter ihnen die Tür zuzuschließen, so dass die unverständig gebliebenen Jungfrauen vom Mahl ausgeschlossen bleiben.
Und damit gewinnt das Bild von Petrus dem Türsteher, der ja an der Außenseite steht und der (irdisch) darauf wartet, seine (äußerliche) Kirchengeschichts-Rolle zur Erfüllung zu bringen in (s)einem großen und letzten heilsgeschichtlichen Auftritt, in welchem er endlich seinen schwergewichtigen Treue-und Verlässlichkeits-Abschluss-Satz aussprechen kann: "Siehe, Herr, hier sind wir nun alle!"... - damit gewinnt das Bild vom vor der Himmelspforte stehenden Petrus ein neues Aus- und Ansehen: "Siehe Herr, hier sind wir nun alle. Mach' uns jetzt bitte die Tür auf und lass uns rein. Wir sind's doch - die Deinen! Oder etwa nicht...?"
***
Wenn die „Pforten“ nicht „überwältigen“ können, so wird die Kirche keinen „dauerhaften Platz im Unbewussten des Menschen“ behalten können: Sie kann nicht im Unbewussten bestehen, darin keinen Bestand haben und sich auch nicht darin verlieren. Die Kirche ist demnach nicht nur aus der Welt herausgerufen, sondern gerade auch aus der Unbewusstheit des Menschen heraus, in welchem sie nicht steckenbleiben wird. Sie ist – oder wird sein - klares Vollbewusstsein und klarstes Geist-Bewusstsein, das die Verhüllungen und Gefährdungen des Unbewussten hinter sich gelassen haben wird und ihnen nicht mehr verfallen kann, so dass letztlich kein „aufgeklärter Geist der Welt“ klarer, deutlicher, bewusster, selbstbewusster, überlegener in der Welt dastehen kann als die Kirche Jesu Christi selbst – dies ist ein klares Manifest dieser kardinalen Bibelstelle und muss daher auch für den Glauben in der Moderne gelten!
Der Geist der Christenheit ist zuletzt allem Geist der Welt überlegen und reflektierter als dieser, weil letzterer jenes Unbewusste an sich nicht abstreifen kann, das er gar nicht sehen und wahrhaben will, nämlich die Unbewusstheit seiner ursprünglichen und wahren Zugehörigkeit zur Geistwelt, die unterschwellig in ihm bleibt, weil ihn die biblische Kunde der Existenz einer Schleuse seines Bewusstseins, die er öffnen könnte, nicht erreicht und er daher das Unbewusste selbst nur mit seinem Naturtalent-Denken erfassen kann, nicht hingegen mit der biblischen, höheren Denk-Gebrauchsanleitung. Und weil er die Bibel unter "erledigt" archiviert oder ganz weggeworfen hat, kann er die Macht des atheistisch-materialistischen Irrtums nicht erkennen und daher auch nicht die biblische Geistesüberlegenheit anerkennen und daher auch nicht die biblisch-höheren Anhaltspunkte zu einer vollständigen Durchleuchtung und Durchschauung des Unbewussten finden. Aus dem Glauben heraus müssen daher alle Geisteskoryphäen, die wir haben und die Glaube und Bibel preisgegeben haben und nicht durchhalten konnten, ein Stückweit in ihrer Geistesgröße zurückgesetzt oder relativiert werden; dazu gehört auch Albert Einstein, ebenso Kant, dessen geistige Autorität daher auf keinen Fall aufrecht erhalten bleiben kann: Wer eine Geistigkeit ohne Heiligen Geist lehrt, der kann unmöglich vom Geist so sehr viel verstehen. Das Wirken des Geistes kann alle Erkenntnisgrenzen von Menschen auflösen.
Die Kirchengemeinde Jesu Christi wird ihren Bestand haben in den erfolgreich aus dem Unbewussten der Welt (aber auch dem Unbewussten des Menschen) zum Wachsein und zur Klarheit des Geistes Herausgerufenen. Sie wird allen möglichen Verdeckungen oder Unter-Haltungs-Versuchungen, die sich der Heilsgeschichte und dem Werden des freien (christlichen) Geistes widersetzen wollen, widerstehen. SIE WIRD BESTEHEN. SIE WIRD BESTAND HABEN. GANZ SICHER. GANZ KLAR. KRISTALLKLAR. ZWEI-FELS-FREI. EIN-DEUTIG.
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Zum Mittelsatz:
Die Kirche wird auferbaut auf dem Felsen Petrus, auf einer festen, konkret-irdischen Grundlage. Das kann freilich heißen, Petrus sei Fundament, Träger und Organisator der Kirche, wobei uns nun aber beim Stichwort „Petrus der Organisator“ die Petrus-Schelte Jesu im Johannestext (auch im Matthäustext, vgl. Mt. 16,21-23) aus dem Hinterkopf her einfallen muss: Petrus will Eindeutigkeit von Jesus und Eingleisigkeit der Kirchenlinie, nimmt Anstoß an Jesu Zweigleisigkeit (Petrus – Johannes), aber ohne Erfolg. Sein Missverstehen, seine Desorientierung über Johannes im Zusammenhang mit seinem Weide-Auftrag wird ihm nicht aufgelöst. Petrus wird also nichts anderes übrigbleiben, als in seinem Handeln einfach einmal „selbst machen zu müssen“. Allerdings wird ihm hierbei von Jesus der Nachfolge-Auftrag als Problemlösung nahegelegt, also sein eigenes Schülersein-im-Geiste als rechter Lösungsweg, den er nun kirchengeschichtlich beherzigen kann oder auch nicht.
Die Aussage könnte alternativ auch heißen, Petrus sei zwar Fundament und Anfang, von welchem aus sich die Kirche dann erheben wird, womöglich aber in Abgrenzung oder Abnabelung von Petrus, als ein Anderes und Eigenes? Die obige Satzstruktur stellt zwei wichtige Subjekte nebeneinander: "Petrus" ist eingespannt zwischen seinem eigenen Ich und dem Wir der Kirche. Die "Kirche" anderseits ist eingespannt zwischen dem petrinischen Ich (bewusste Grundlage) und dem Wir der Unterwelt (unbewusste Grundlage). Und es scheint offengelassen, wie sich diese Spannungen einpendeln und stabilisieren werden.
Petrus ist dann nicht Grundlage und Grund, sondern nur der Untergrund der Kirche Jesu Christi. Und so müssen wir uns seit 500 Jahren die Frage stellen, ob nicht in dem „reformatorischen Scheibeneinwurf“, der zwar die menschlichen Konventionen verletzte, aber zum höheren, heilsgeschichtlichen Zweck des Geistes und der Geistigkeit des Menschen, ein solcher Abgrenzungs- und Neukonstitutionsprozess der Kirche in seine Wirk-lichkeit getreten sei? Ein Prozess, der vielleicht selbst noch unabgeschlossen ist und erst in seinen Anfängen steht? Indem er ein neues Prinzip, das individuelle Geist-Prinzip, wie es im Johannesevangelium ausgesprochen und festgehalten ist, in die Wirklichkeit der Menschen einführte, nämlich über das Schaf Luther, das zwar kein Hirte Papst war, aber trotzdem der Christenheit geistige Nahrung zukommen lassen konnte und dadurch ein gutes Stück Bibel-Wort zur Kirchen-Wirklichkeit hat werden lassen (ob nun subjektiv so beabsichtigt oder auch nicht)?
Man kann diesen Vers also sowohl Petrus-inklusiv als auch Petrus-exklusiv verstehen, und es stellt sich die Frage, bei welcher Deutung der Reißverschluss des Wirkens des Geistes sich mit unseren Gesellschaftsverhältnissen verhakt und bei welcher er zugezogen werden kann? Womöglich ist der Vers auch deshalb so doppeldeutig formuliert, wie er eben formuliert ist, weil im vorab noch gar nicht unbedingt feststeht, in welche Richtung er zu deuten resp. zuzuziehen sei? Erst muss das Verhalten der Petrus-Tradition faktisch abgewartet werden. Dann wird die Christenheit schon nach und nach erkennen können, ob die eine oder die andere Lesart die richtige ist und in welche Richtung sich der Reißverschluss der Heilsgeschichte zuziehen wird, so, dass die Petrus-Tradition darin einen Platz findet, oder so, dass sie darin keinen Platz findet?
Bei Petrus-exklusiver Deutung reicht die „Nichtüberwältigung der Pforten der Unterwelt“ (Schlusssatz) logisch-literarisch nur bis zur „Kirche“ (Mittelsatz-Ende) zurück, nicht aber auch bis zu „Petrus“ (Mittelsatz-Anfang und Anfangssatz). Das hieße dann: Die Kirche Jesu Christi wird durch die Pforten der Unterwelt nicht überwältigt werden können resp. nicht im Unbewussten verbleiben, Petrus und die Petrus-Tradition aber möglicherweise schon. - Und wir erinnern uns an die wiederholte Liebesfrage Jesu im Johannesevangelium, mit welcher Jesus den Petrus auf sein eigenes Unbewusste aufmerksam machen will, und Petrus versteht überhaupt nicht, was Jesus von ihm will!?
Für eine nähere, konkrete Deutung kann der Bibeltext allein (sola scriptura) auf keinen Fall ausschlaggebend resp. erkenntnisgewinnend sein, sondern es bedarf auch des faktischen Gangs der Kirchengeschichte. Und wir können sogar noch einen Schritt weitergehen und sagen: Die Petrus-Tradition hat es grundsätzlich selbst in der Hand, ob Mt. 16,18 Petrus-inklusiv oder Petrus-exklusiv zu lesen sein wird, nur muss Petrus der Hirte sich hierzu die Frage stellen und beantworten, ob er denn nun von der Schafherde richtiger als "Heiliger Vater" oder als "(auch) erbsündebehafteter Bruder" anzusehen sei, der lediglich durch den "Primat des Geistes" ausgezeichnet ist, ein Primat, der Selbstevidenz besitzt und keinerlei Schlussfolgerungs-Verfahren nötig hat.
"Petrus" muss lediglich sich selbst ins rechtmäßige Verhältnis rücken, und zwar
a) zu sich selbst
b) zur Geistwelt
c) zu Christus
d) zum in die Welt gesendeten Geist
e) zu den Menschen als Geistindividuen
f) zur Kirche.
Diese scheinbar vielen Verhältnisse und Aufgaben sind in
Wahrheit nur ein Verhältnis, nur eine Aufgabe
- nur ein einziger "Ruck", der erforderlich ist, wenn
eine den wahren Geistverhältnissen entsprechende Konzentrik und
Sozialvernetzung entstehen können soll.
Die rechte Lesart hängt ab vom ureigenen Verhalten der römisch-katholischen Kirche. Ihre eigene, selbst gewollte Wirk-lich-keit wird das Wort ent-scheiden.
Lautet so nicht auch die Gegenargumentation der katholischen Theologie gegenüber einem evangelisch-lutherischen Sola-Scriptura-Prinzip: Bibel und Tradition müssen zur Wahrheitsfindung herangezogen werden? Im geschichtlichen Gang der Kirche wird erst die vollständige Beweiskraft liegen können, denn diese Beweiskraft ist ja die Kraft des wirkenden Beistands-Geistes selbst. Daher ist es ein Eines, einen Text ansehen und deuten, doch die Wirklichkeit ansehen und realistisch einschätzen ist ein Anderes, Wahreres und Beweiskräftigeres. Der Realbezug von Wort und Wirklichkeit ist aber gerade im christlichen Glauben, also auch in der Bibel und besonders auch im Neuen Testament als konstitutive Erkenntnisrelevanz oder gar als evidente Beweiskraft gesetzt. Und insofern muss auch die Offenbarung des Johannes, die uns die Ereignisse der Zukunft verschlüsselt vorwegnimmt, verstanden werden als die Höhere Beteuerung des Evangeliums: „So glaubt es doch: Das Wort wird Wirklichkeit werden!“
Und so wird also die gesamte Christenheit im Verlaufe der Kirchengeschichte in die Zukunft der Menschheit hinein beobachten können, ob es der Petrus-Tradition gelingen werde, sozusagen den Wahrhaftigkeits- oder Geistigkeits-Beweis ihrer selbst zu erbringen oder lediglich einen Schlussfolgerungs- oder Fadenscheinigkeits-Geist vor die Welt hinzustellen und als wahr zu behaupten.
Zum Anfangssatz:
Simon ist der Petrus, der Fels, der Stein (Kephas). Ein Stein kann ein Fundament sein, denn er ist hart und fest. Durch die Härte ist er aber auch unbeeindruckbar. Und so könnte das „Steinsein Petri“ auch für die Unbeeindruckbarkeit resp. kirchen-, geistes- und weltgeschichtliche Erfahrungslosigkeit der Petrus-Tradition stehen. Sie steigt irgendwann – im Verlaufe der Neuzeit - aus unserer Geistesgeschichte aus, macht also unsere seitherige Erfahrung und Erkenntnis nicht mehr richtig mit, erfährt nichts Neues mehr, sondern hält seither - "unbeirrt" - am Alten fest, und zwar bis zu jenem Punkt zurück, an welchem sie selbst die Wirklichkeit noch verstehend durchdringen konnte, sagen wir: bis zum Christenheits- oder Kirchen-Trauma der Reformation. Danach steigt sie aus der Weltentwicklung aus bzw. bewegt sich geistesgeschichtlich rückwärts, in ihre noch intakt gewesene (weil von ihr selbst noch beherrschte und verstandene) Vergangenheit zurück.
Wir können daher von der Reformation an zwei diametrale Gesellschaftsbewegungen ausmachen: Die Protestanten erklären die faktische Kirchenwirklichkeit für falsch orientiert und steigen daher aus ihr aus. Und die Katholiken erklären die faktische Weltwirklichkeit, zu der nun auch die reformatorische Kirchenspaltung gehört, für falsch orientiert und steigen daher aus ihr aus. Wir können auch sagen: Protestantisch wird die Wirksamkeit des Geistes in der Kirche bestritten (zur Luther-Zeit), katholisch wird die Wirksamkeit des Geistes in der Welt bestritten (seit der Luther-Zeit), was - aus rein christlicher Sicht gesehen - irgendwie beides falsch sein muss...?
Die römisch-katholische Rückwärtsbewegung zeigt sich auch daran, dass die römisch-katholische Kirche seit der Reformation theologische Rückzugsgefechte führt, von welchen auch ihre eigenen Theologen betroffen sind, die mit dem Geist der Zeit mitgehen wollen, aber nicht dürfen. Die Reformation fördert neue christliche Begrifflichkeiten zutage, und wir sehen nun, wie die katholische Kirche, die aus sich selbst heraus keine neuen Begrifflichkeiten entfalten kann, den reformatorischen Begrifflichkeiten nachgeht (oder auch: hinten nachfolgt) und sie dann aber „berichtigt“, sprich: in ihrer christlichen Erneuerung wieder kaputt- und rückgängig macht; so zum Beispiel das „Priestertum aller Gläubigen oder Getauften“, das so anerkannt wird, dass es faktisch annulliert ist (Stichwort: Besserwisserei).
Dieser Text basiert auf dem Artikel "Priestertum aller Gläubigen" (externer Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Priestertum_aller_Gl%C3%A4ubigen) aus der freien Enzyklopädie "Wikipedia" (externer Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Hauptseite) und steht unter der Lizenz "Creative Commons CC-BY-SA 4.0"(externer Link: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/legalcode.de). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren des Artikels "Priestertum aller Gläubigen" verfügbar, dort unter dem Reiter "Versionsgeschichte". Abrufdatum des Artikels: 24.03.2024.
Auf diese Weise kann sich die römisch-katholische Kirche vor sich selbst einen gewissen Up-to-date-Anschein geben und sich eine "allerschärfste Überlegenheits- und Eleganz-Rationalität" einbilden, die gleichsam zum Vorschein bringt, reformatorischer Geist sei nur aus einer vagen Begrifflichkeit heraus entstanden, die - ganz nach lutherisch-grobschlächtiger Manier - auf die (absurde) Idee verfallen ist, dem Volk aufs M... zu schauen und sich gar mit der Schafherde gemein zu machen, und die - in römisch-katholischer Wahrheits-Sichtung - an die "Feinsinnigkeit scholastischer Differenzierungskunst" niemals herankommen kann (und sie wohl genau deshalb missachtet; vgl. Luthers "disputatio contra scholasticam theologiam"). Und so muss also erst "römisch-katholische Meisterlichkeit im Denken" auf die grobe reformatorische Begrifflichkeit zur Anwendung gebracht werden, wenn "scharfe und kristallklare Gedanken" daraus entstehen können sollen...!? - Oder aus dem Theologischen ins Philosophische zurückübersetzt: Die Römisch-Katholischen wissen ganz gewiss, also zweifelsfrei, dass sie es halt einfach besser wissen als die Evangelischen. Denn sie haben die historische Kirchen-Zusage, während die Protestanten (oder Protestler) überhaupt keine Zusage haben und sich daher ihre "Eigensubstanz" aus der Bibel herauszusaugen versuchen müssen. Und so kommen sie - unter Verleugnung der Kirchentradition - zu ihrer subjektiven Sola-Scriptura-Ideologie usw. usw.
Die römisch-katholische Rückwärtsbewegung geht in die Erfahrungen des Menschen mit der Welt nicht mit hinein und nicht durch sie hindurch, oder wenn, dann nur schwer und nur sehr sporadisch. Daher dauert es auch geraume Zeit, bis sich die Petrus-Tradition mit der kopernikanischen Wende abfindet. In die Religionskritik und Psychoanalyse will sie dann aber m.E. überhaupt nicht mehr hinein. Diese erscheinen als etwas Fremdartiges, Abzulehnendes, Verirrtes, reflexiv Verdrehtes, vielleicht Diabolisches - als "Dekadenzerscheinungen" eben, aus welchen der "Geist der Wahrheit" ganz offensichtlich entschwunden ist, so dass sie alle dem (verkommenen) "Geist der Welt" zuzurechnen sind.
Und so steht die Petrus-Tradition heute da als ein „Fels der Unbeeindruckbarkeit oder auch Erfahrungsresistenz“ in der Brandung des sich geistesgeschichtlich entwickelt habenden und weiterentwickelnden menschlichen Geistes, von dem sie nichts wissen will, in seiner gleichsam unrelevanten oder überflüssigen Entwicklung, und dessen „weltliche“ Erfahrung sie auch nicht zu kennen braucht, weil sie der Auffassung ist, den entscheidenden Geist doch bereits in sich zu tragen (und gegen alle Dekadenz - auftragsgemäß: unbeirrbar - festzuhalten). Sie hat ihn, denn er ist ihr - über Jesu Petrus-Beauftragung - ausdrücklich zugesagt, mit Führungsanspruch: Wenn also eines in der Bibel feststeht, dann dies: fel-sen-fest. Und der Beweis hierfür ist – oder scheint zu sein – Mt. 16,18!
…?
Hoppla, was ist jetzt passiert?! Die römisch-katholische Kirche wird unter päpstlicher (oder auch kurialer) Führung aus Gegenwart und Zeitverhältnissen, also aus unserer Wirklichkeit herausgesteuert, hinein in eine "virtuelle Geistlichkeit" - und als Begründung für diese Wirklichkeits-Vernachlässigung oder auch Wirklichkeitsnegierung kann ja nun nicht mehr die Wirklichkeit (Tradition) dienen, da sie ja in ihrer natürlichen Entwicklung negiert ist (soll heißen: negativ aufgefasst ist als abzulehnender "Geist der Welt"), sondern nur noch die Bibel (Mt. 16,18)? Nanu? Dann scheint ja nun - in Moderne und Gegenwart hinein - ein römisch-katholisches… Sola-Scriptura-Prinzip zu gelten? Weil sich die (römisch-katholische) Kirchenwirklichkeit in der Weltentwicklung nicht mehr wiederfinden kann, aber zumindest in der Bibel noch finden zu können glaubt?
Und wir können jetzt fragen, sozusagen als Probe aufs Exempel, ob sich nicht eine analoge (dialektische) Umkehrung in der Evangelischen Kirche finde? Denn das „sola scriptura“ ist ja schon ein merkwürdiges Ding. Wenn wir das Prinzip geistesgeschichtlich nachvollziehen wollen, so musste Luther es zunächst einmal konstatieren, weil die Wirklichkeit der Kirche in gravierender Nichtübereinstimmung mit dem Wort der Bibel stand. Daraus musste geschlussfolgert werden, die Wirklichkeit der Kirche könne keine Beweiskraft haben. Soweit, so gut. Dann aber traf es sich geistesgeschichtlich (gut, auch verfassungs- oder staatsgeschichtlich usw. - Stichwort "Protestation zu Speyer"), dass Luther mit seinen abweichenden Ansichten nicht alleine blieb. Und am Ende stand eine neue, andere Kirchenwirklichkeit neben der alten Kirchenwirklichkeit da!!! Also hätte doch die Lutherische Orthodoxie Luthers „sola scriptura“ wieder rückgängig machen können oder sollen, denn nun war ja wieder eine Übereinstimmung zwischen Bibelwort und Kirchenwirklichkeit erzielt, nur halt nicht als Reformierung der alten, sondern als Konstitution einer neuen, neben der alten, weil Letztere sich widersetzte?
Dieser Text basiert auf den Artikeln "Protestation zu Speyer" (externer Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Protestation_zu_Speyer) und "Protestantismus" (externer Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Protestantismus) aus der freien Enzyklopädie "Wikipedia" (externer Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Hauptseite) und steht unter der Lizenz "Creative Commons CC-BY-SA 4.0"(externer Link: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/legalcode.de). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren der Artikel "Protestation zu Speyer" und "Protestantismus" verfügbar, dort unter dem jeweiligen Reiter "Versionsgeschichte". Abrufdatum der Artikel: 24.03.2024.
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Wenn ich mir nun beide Teilkirchen in ihrer Grundstimmung anschaue, - ich spreche jetzt als Konvertit, sozusagen als Neuankömmling in der evangelischen Kirche -, dann habe ich den Eindruck, in die evangelische Kirche sei zumindest unterschwellig eine Art schlechtes Gewissen miteingezogen, vielleicht, weil man sozusagen in den „natürlichen Traditions- resp. Heilsstrom der Kirche“ eingreifen musste, während umgekehrt die römisch-katholische Kirche von dem Selbstbewusstsein getragen ist, in diesem natürlichen Traditions- und Heilsstrom unverändert festzustehen und also selbst keinerlei, nun ja, „Geschichtsmanipulation“ daran vorgenommen zu haben und also ein allerbestes, reines (Geschichts-)Gewissen haben zu können…?
So sieht es aus. Und m.E. ist es Zeit, diese Irr-Emotionen zu berichtigen und heilsgeschichtlich richtig zu stellen, wobei ergänzt sei: Die Dinge und Verhältnisse können sich jederzeit auch wieder umdrehen, denn es kommt jetzt zunehmend auf das faktische Wirken der Menschen an, die nun einmal sehr wankelmütig, störanfällig, wahrheits-gefährdend sind, um nicht zu sagen: im Großen und Ganzen unzuverlässig.
Rein geistig gesehen verhält es sich so: Um 1500 herum war die Christenheit reif geworden, eine kirchliche Erneuerung aus sich selbst heraus in die Wege zu leiten, unter erstmalig erfolgreicher Anwendung des individuellen Geistprinzips im Menschen, von welchem die Bibel spricht, stellvertretend wahrgenommen von Martin Luther, auch wenn der Kirche selbst dieses ihr inhärierende Kernprinzip der individuellen Geistigkeit noch gar nicht bewusst geworden war, so dass aus der Reformation für die Protestanten ein zwiegespaltenes Gefühl resultierte: Nicht nur etwas Richtiges getan zu haben, sondern zugleich auch irgendwie etwas Falsches, nämlich die Einheit der Kirche Verletztendes. Und das Resultat der Reformation war eine neue Kirche, in welcher „Petrus“ seines Weide-Auftrages resp. seines Lehrerseins enthoben und das Petrus-Amt in den Regel-Nachfolge-Auftrag resp. in das Schülersein zurückgesetzt war. Die Führungsriege der etablierten Kirche hat sich aber eine solche Zurücksetzung resp. „Erneuerung“ nicht gefallen lassen, sich dagegen ausgesprochen und sie als Irrweg und Abfall vom Rechten bekämpft, und nur deshalb gibt es seither eine römisch-katholische und eine evangelische Teilkirche, die als solche auch von der römisch-katholischen Kirche mit zu verantworten ist.
Welche Teilkirche hat nun wieviel Jahre an Tradition vorzuweisen? Die evangelische Kirche umfasst die 500 Jahre Reformation, gewiss, aber nicht nur, sondern auch die 1500 Jahre vorreformatorischer Kirche, denn diese war es ja, die erneuert werden musste – und auch erneuert wurde. Also umfasst die evangelische Kirche 2000 Jahre Tradition des christlichen resp. mehr und mehr christlich werdenden Geistes, gemäß der zunächst unsichtbaren Johannes-Tradition, die genau in dem Maße irdisch sichtbar werden wird, als dieses Irdische sich dem Geist entgegenbewegt und den Geist als Frucht in sich zeitigt. Durch Luther hat die Kirche einen Schritt, nein, einen ordentlichen Ruck in diese Richtung gemacht.
Also wurde um 1500 herum unter die römisch-katholische Tradition ein Schlussstrich gezogen, und dieser Schlussstrich lag schon nicht mehr in der Handlungssouveränität der päpstlich geführten römisch-katholischen Kirche (Stichwort: sich gürten): Sie war machtlos, nicht mehr Herr im eigenen Haus (des erhöhten Selbstwertgefühls und der bloßen, schlussfolgernden Ratio). Also: Seit 1500 gibt es die römisch-katholische Kirche – eigentlich - nicht mehr, nicht mehr als „Gegenwart des Geistes“, denn diese „Gegenwart“ hat die Fronten (oder die Weidefläche) gewechselt, gemäß dem johanneischen Windwehens-Prinzip. Und am Leben erhalten bleibt sie – diese römisch-katholische Kirche - lediglich aufgrund „petrinischer Besserwisserei“. Die römisch-katholische Kirche dürfte streng genommen auf gar nichts mehr zurückblicken, weil sie im Prinzip – in ihrem Prinzip - um 1500 herum ausgelaufen ist. - Faktisch ist es aber so, dass in der römisch-katholischen Kirche noch geglaubt wird, man halte am Alten als dem Wahren fest. Daher ihr unumstößlicher Wille zu restaurieren und zu konservieren.
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Man kann also unterschiedlich auf „Tradition“ blicken, nämlich „fleischlich“ und „geistig“. Die 2000 Jahre Tradition hat die römisch-katholische Kirche nur fleischlich, soll heißen, nur genau dann, wenn man vom Geist und seinem Wirken abstrahiert, was man freilich tun kann, nur nicht als Christ. Geistig gesehen sind die 2000 Jahre Kirchengeschichte auf die evangelische Kirche übergegangen, ganz nach einem in der Bibel formulierten Handlungsprinzip des Geistes:
„Darum sage ich euch: Das Reich Gottes wird von euch genommen und einem Volk gegeben werden, das seine Früchte bringt.“ (Mt. 21,43)
Lutherbibel,
revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft,
Stuttgart und Einheitsübersetzung
2016 © Katholische Bibelanstalt GmbH, externer
Link: https://www.bibleserver.com/LUT.EU/Matth%C3%A4us21,
abgerufen am 17.07.2024.
So gesehen muss also nicht die evangelische Kirche ein schlechtes Gewissen haben, weil sie ja dem Wirken des Geistes Raum gegeben und Rechnung getragen hat. Das schlechte Gewissen muss die römisch-katholische Kirche haben, weil sie das Erneuerungsprinzip des Geistes nicht anerkennen will, sondern die Dinge besser zu wissen glaubt. Analog wie Petrus meinte, Jesus belehren zu müssen, meint die römisch-katholische Kirche, den Geist in seinem (heils-)geschichtlichen Wirken belehren resp. korrigieren zu müssen. Dies ist die tiefere, gesellschaftsbezogene Sünde wider den Geist, die nicht vergeben werden kann, weil der Geist in seiner und der Weltentwicklung weiterschreitet und nicht mit den Gesellschafts-Sündern auf der Stelle treten kann und will.
Und so sehe ich derzeit in beiden Teilkirchen zwei Grundstimmungen, die beide nicht passen: Die evangelische Kirche hat ein schlechtes Gewissen, weil sie das Reformations- oder Umwandlungs-Prinzip des Geistes in sich aufgenommen hat, und die römisch-katholische Kirche hat ein gutes Gewissen und ist vielleicht sogar stolz darauf, sich dem (diabolischen?) Wandlungsprinzip des Geistes seit 2000 Jahren erfolgreich zu widersetzen. Ich korrigiere mich: Der Widerspruch ist erst seit 1500 zu rechnen. Also hätte nicht die evangelische Kirche ein 500-Jahre-Jubiläum feiern sollen, sondern die römisch-katholische Kirche: „500 Jahre Geist-Widersetzung“...
Luther hat also nur mit der fleischlichen Tradition der Kirche gebrochen, aber, um ihre "Tradition des Geistes" zu bewahren, zu sichern, zu retten, in einem erstmaligen und anfänglichen Herausrufen des christlichen Geistes aus seinem Unbewusstsein - in das wahre, erst kommende und immer noch erst kommende Kirchenselbstbewusstsein hinein! "Kirche" muss also richtig verstanden werden als ein "Herausgerufen werden", und dann wird deutlich, dass ein Begriff wie derjenige einer "Kontinuität der Heilslinie" kein eigentlich "kirchlicher Begriff" ist, sondern ein "fleischliches Missverstehen", welches sich auf das "Natürliche" oder von selbst Bestehende (also ohne geistiges Zutun des einzelnen Menschen) bauen möchte. Das ist die Linie der Unselbständigkeit des Individuums im Geiste, die Linie des Auf-einen-anderen-Menschen-Hörens, die Linie einer Habemus-Papam-Kirche, die Linie einer Missachtung des Vaterverbots.
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Der entscheidende kontroverstheologische Punkt scheint mir in der Frage zu liegen: Wie kann Kirchengeschichte richtig als Heilsgeschichte gedacht werden? Was muss im Verlaufe ihrer Geschichte mit und in der Kirche geschehen, damit das daraus wird, was daraus werden soll – „Heil“? Die formale Antwort finden wir im obigen Matthäus-Zitat: Die Kirche muss die Früchte des Reiches Gottes zeitigen.
Was ist diese Frucht? - dies ist doch wohl die Kapital- oder Kernfrage, wenn christliche Traditionen beurteilt und gewürdigt werden sollen! Und die (christliche) Antwort kann nur sein: Der Geist selbst ist diese Frucht. Und mit dem Hineingehen in den Geist ergibt sich das Hineingehen ins Reich Gottes wie von selbst. Und auf dieses „von selbst“ kommt es gerade an, weil sich der Mensch – über den Geist – mit seinem Selbst sozusagen in Gott hinein verschlingt. Er steht dann nicht mehr allein (wie das neuzeitliche Subjekt), sondern ist in den Geist und das Geistige involviert und wird mehr und mehr in die Geistwelt oder das Reich Gottes hineingezogen, so wie es die Offenbarung ganz am Ende formuliert und im Grunde schon vorhersagt.
Und hier ist dann nicht Einer der Anführer, dem die Andern dann folgen sollen/können/dürfen, gleich einem Primus inter angeblichen "Pares", sondern Einer ist das Ziel, das ist Christus, und alle Individuen stehen so Christus- wie Geist-unmittelbar, und der Papst befindet sich hier als Bruder unter Brüdern (resp. Geschwistern), der sich bestenfalls so hervortun könnte, dass er so vorangeht, wie Johannes es mustergültig vorgemacht hat, in stillschweigender, streng zielorientierter Umsetzung des Nachfolge- und Weide-Auftrages, ohne viel Aufhebens, ohne Gestikulation, ohne Theatralik, ohne Schauspierelei, durch schlichte Mitteilung in geschwisterlicher Kommunikation, in der Jeder von Jeder profitiert, indem Jeder Jeder etwas voraushat, weil alle an unterschiedlichen Raum-Zeit-Stellen stehen, die unterschiedliche Erfahrungen ermöglichen, die auf diese Weise untereinander ausgetauscht und nivelliert werden können. Der Papst könnte seinen Führungsanspruch dadurch unter Beweis stellen, dass er besser und tiefer über das spezifisch Christliche sprechen kann, aus seinem Individualgeist heraus. Zeigt sich hingegen in seinem Sprechen nicht dieses Christliche und Geistige, so stellt er eben etwas anderes unter Beweis, da kann er dann beteuern und schlussfolgern was und wie viel immer er will...
Doch ist dies kein archaisches Geist-Verhältnis mehr, in welchem das Selbst des Menschen noch hingebannt war auf höhere Geistwesen, so dass es sich gleichsam in einem Zustand der Unbewusstheit befand, sondern es ist ein vollbewusstes oder zunehmend bewusstes Dastehen nun als eigenständiges Geistwesen unter eigenständigen Geistwesen, das die Unbewusstheit (Unterwelt), aus der es herkam, ein für alle Mal hinter sich gelassen hat.
Diese Frucht kann das römisch-katholische Schaf nicht zeitigen, weil das Papsttum das individuelle Geistprinzip in ihr unterbindet, und es ist „systemkonform“, wenn das Papsttum das Vaterverbot aufweicht, weil auch im römisch-katholischen „Vater-Haben“ oder Habemus-Papam dieses Geistprinzip außer Kraft gesetzt bleibt.
Umgekehrt ist es ebenso „systemkonform“, wenn die Offenbarung des Johannes die Individuen anspricht, indem es die kirchen- und heilsgeschichtliche Umsetzung des im Johannesevangelium formulierten individuellen Geistprinzips bereits voraussetzt: „Wer siegt, der…“
Entscheidend für eine objektive Sichtung unserer Kirchengeschichte ist also die Frage, ob die Reformation als „Störung der Kirche (von außen)“ zu beurteilen ist, oder als „Richtigstellung der Kirche in sich selbst“, oder als „Erneuerung der Kirche aus sich selbst heraus“. Die römisch-katholische Kirche hat die „Störungs“-Sicht, die evangelische Kirche hat immer noch die (ihr Gewissen belastende) „Richtigstellungs“-Sicht, was ein „analoger Fehler“ ist, wie der, nur auf 500 Jahre Kirchengeschichte zurückzublicken. Die Reformation ist m.E. aber als „Erneuerung“ zu beurteilen: Die Kirche erneuert „sich selbst“, aus ihrem eigenen, sich verjüngenden Geist heraus, und das Individuum, das einzelne Schaf, beginnt hiermit, aktiven Anteil an der Kirchenwirklichkeit zu nehmen, damit aber auch am Wirken der Heilsgeschichte, beginnt also, die Heilsgeschichte und das Wirken Gottes mitzutragen, indem es „zu einer Säule im Tempel meines Gottes“ (Offb. 3, 12) wird!
Und jetzt sehen wir das Phantastische des Evangeliums: Es bildet innerhalb der menschheitlichen Sündenwirklichkeit eine kirchliche Heilswirklichkeit heraus, die aber nur dann und dadurch Heilswirklichkeit ist und bleibt, dass sie das Erneuerungs- und Wandlungsprinzip in sich selbst mitaufnimmt und auch umsetzt, immer wieder, immer weiter, solange, bis die Geistwirklichkeit selbst resultiert, in der die Sünde abgestreift sein wird. Das ist ein dynamischer, kontinuierlicher, lange währender menschheitlich-sozialer Geschichts- und Umwandlungsprozess, und anders sollte das „Kommen des Reiches Gottes“ nicht erwartet werden. Es wird nicht ein Tag x kommen, an welchem uns der Deus ex machina das Reich Gottes gleichsam überstülpen wird.
In der römisch-katholischen Kirche bleibt alles beim Alten, weil sie das Erneuerungsprinzip des Geistes - das das notwendige Korrelat zur menschheitlichen Sündengeschichte ist - überhaupt nicht verstanden hat. Und deshalb bleibt der Papst, und deshalb bleibt die Unterbindung des individuellen Geistprinzips, und deshalb bleibt die äußerliche Herleitung der päpstlichen Machtbefugnis. Und alles in allem beißt sich hier, wie man sagt, die Katze in den Schwanz.
An Mt. 16,18 demonstriert:
In der Mitte steht die Kirche, sicher und fest. Zur Linken Petrus - der Untergrund, zur Rechten Hades - die Unterwelt.
Untergrund - Kirche - Unterwelt
Untergrund und Unterwelt stehen in einer verborgenen, nicht direkt sichtbaren Beziehung zueinander, gleich einer Ouroboros-Schlange, die sich selbst genug ist, mit ihrer „Schlussfolgerungskette in sich selbst“, die sozusagen einmal ganz herum geht, um das Ganze des Glaubens, aber so - um mit Lessing zu sprechen -, dass sie sich mit dem vorausgesagten Fazit begnügt und sich auf diese Weise eine äußerlich bleibende Glaubensdogmatisierung zurechtzimmert (oder seit der Reformation könnte man sagen: sich selbst zurechtverbarrikadiert), anstatt - gemäß dem lutherischen Sola-Scriptura-Prinzip - in den Sinn aller biblischen Äußerungen mit der eigenen Vernunft voll und ganz hineindringen zu wollen, um zuletzt den "heilvollen Kern" intus zu bekommen, statt sich mit einer "heilvollen Schale" äußerlich zu schmücken zu versuchen.
"Wollten sich die Schüler an
dem voraus gesagten Facit begnügen: so würden sie nie rechnen
lernen, und die Absicht, in welcher der gute Meister ihnen bey
ihrer Arbeit einen Leitfaden gab, schlecht erfüllen." (EdM, §
76)
Externer Link zum Text: G.E. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, §76, Projekt Gutenberg-DE - https://www.projekt-gutenberg.org/lessing/erziehng/erziehn2.html, abgerufen am 25.03.2024
Die Schlussfolgerungs-Schlange geht einmal ganz herum, in einem logisch in sich stimmigen Kreis, und es mangelt ihr hierbei nur eines in sich:
die Mitte, die Kirche, der Geist.
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Wir sehen damit, dass der „Störfaktor“, den das Johannesevangelium an Petrus konstatiert, auch im Matthäusevangelium erscheint, nur in eine andere, gesellschaftskomplexe, die Kirche selbst betreffende und angehende Form gebracht.
Im Johannesevangelium stößt Jesus Petrus auf sein Unbewusstes, und Petrus versteht dieses Angestoßen werden nicht und befasst sich daher auch nicht weiter oder näher mit seinem Unbewussten, indem ihn das nicht interessiert, was Jesus in ihm sieht und anspricht: „das, was im Menschen ist“.
Im Matthäusevangelium ist das Unbewusste fast beim (modernen) Namen genannt (Unterwelt = Jenseitiges, Unbewusstes), und die Kirche wird ausdrücklich in eine Nichtbeziehung zum Unbewussten gesetzt. Petrus steht scheinbar auf einer ganz anderen Seite (als die Unterwelt), ganz nahe dran an der Kirche, so dass man versucht ist, „Petrus“ und „Kirche“ in eins zu setzen. Und doch, bei näherer Betrachtung, steht er mitten darin in dieser „Unterwelt seiner selbst“, die er nicht durchschauen kann, weil er sich mit ihr (resp. mit Religionskritik und Psychoanalyse) einfach nicht befasst und nicht befassen will.
Und sehen wir uns den Verlauf der Kirchengeschichte an, so scheint sich ein Wort des Lukasevangeliums punktgenau einzufügen:
„Achtet darauf, genau hinzuhören! Denn wer hat, dem wird gegeben; wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er zu haben meint.“ (Lk. 8,18)
Einheitsübersetzung 2016
© Katholische Bibelanstalt GmbH und
Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016
Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart,
externer Link: https://www.bibleserver.com/EU.LUT/Lukas8,
abgerufen am 02.05.2024.
Nehmen wir dazu die Petrus-kritische Äußerung im Lukasevangelium:
„Simon, Simon, siehe, der Satan hat verlangt, dass er euch wie Weizen sieben darf. Ich aber habe für dich gebetet, dass dein Glaube nicht erlischt. Und wenn du wieder umgekehrt bist, dann stärke deine Brüder!“ (Lk. 22,31f)
Einheitsübersetzung 2016
© Katholische Bibelanstalt GmbH und
Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016
Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart,
externer Link: , https://www.bibleserver.com/EU.LUT/Lukas22,
abgerufen am 30.04.2024.
Die Zweigleisigkeit der Kirchengeschichte, wie sie am Ende des Johannesevangelims aufschimmert, ist demnach gar nicht durch Jesus initiiert, sondern sie geht vom „Satan“ aus, der die Jünger resp. die Kirche Jesu Christi wie Weizen sieben will, sprich: einen Teil der Kirche für sich selbst herausschlagen will. Und was passiert in diesem Sieben? Der eine Kirchenteil hält Glauben und Christentum wie eine äußerliche Schale fest, hat damit nur Spreu, während der andere drauf und dran ist, immer tiefer in den geistigen Inhalt hineinzukommen, und zwar durch das sola scriptura oder die biblische Erziehungshilfe oder Denk-Gebrauchsanleitung, nimmt ihn also als Weizen in sich hinein, um sich geistig davon zu nähren. - Und im literarischen Anschluss ist von der Notwendigkeit einer Petrusumkehr die Rede. Damit ist zum Ausdruck gebracht, die Petrus-Tradition stehe mindestens in der Gefahr, zu einem Pseudo- oder Namenschristentum zu verkommen, das dann Widersacher-Mächten anheimfallen kann und das dasjenige nicht haben wird, was es fälschlich zu haben glaubt.
So gesehen findet sich sowohl im Johannesevangelium als auch im Matthäusevangelium als auch im Lukasevangelium ein „Störfaktor Petrus“ thematisiert, nein, nur angedeutet, unter anderem aber auch in der römisch-katholischen Kardinal-Bibelstelle.
Und weil Jesus „das, was im Menschen ist“ bestens kennt, deshalb gründet er seine Kirche zweigleisig, indem er den Weide-Auftrag doppelt erteilt: Die bewusste Erteilung an Petrus wird dem die Bibel lesenden Christen gegenüber ausgesprochen, während die „geheime“ Erteilung an Johannes dem die Bibel lesenden Christen zunächst vorenthalten und unbewusst bleibt, und zwar genau solange, bis dieser inmitten der Kirchengeschichte wachsam bleibende Christ genau dieses Das-was-im-Menschen-ist geistesgeschichtlich in sich selbst eingeholt haben wird - das ist hier und heute, in der Moderne, und zwar durch den Geist in der Welt. Und er muss dieses einholen, wenn die Pforten der Unterwelt keine Macht über ihn behalten sollen.
Der Mensch soll also auf seiner Menschenebene einfach einmal „machen können“ dürfen – diese Freiheit soll ihm eingeräumt sein, und das ist die Petrus-Tradition (fast analog zu den - wir erinnern uns - Platonikern, die auch gerne endlich einmal "machen können dürfen" wollen, aber die Aristoteliker-Anthroposophie-Gründer trauen es ihnen nicht so richtig zu). Mit der (vorsichtshalber vorgenommenen) Alternativgründung - Jesus und die Bibel kennen ja ihre Pappenheimer - ist nun Johannes beauftragt, aber diese Kirchengründung ist eigentlich in den Geist selbst hineinverlegt, in sein Wirken in der Zeit und Geschichte. Und diese Wirksamkeit des Geistes kommt von oben herab in den individuellen, sich empfänglich gemacht habenden Geist des Menschen hinein. Dagegen ist der Satan genau dann machtlos, wenn über die Schutzfunktion des Beistands-Geistes „das, was im Menschen ist“ neutralisiert resp. geläutert wird und somit keine Angriffsfläche mehr bieten kann, weil ein "nun gewappnetes Selbst des Menschen" gegenübersteht. Und dieses wird anvisiert im "Beten im Geist und in der Wahrheit", welches nur in und durch Religionskritik und Psychoanalyse hindurch erreicht werden kann, so dass im Menschen eine Selbsterkenntnis stattfinden kann über "das, was im Menschen ist."
***
Man könnte aus einer solchen Sichtung unserer Kirchengeschichte nun kontroverstheologisch Kapital schlagen wollen, und Evangelische könnten zu Katholischen sagen: „Da habt ihr die Bescherung! Eure kardinale Bibelstelle gereicht euch gar nicht zum Vorteil, sondern zum Nachteil!“
Allein, der Kirche Jesu Christi ist damit nicht geholfen.
Und es gibt auch keine Luther-Lorbeeren, auf welchen man sich ausruhen könnte. Die gibt es ja nur in der Richtigstellungs-Hypothese. Unter der Erneuerungs-Hypothese sieht es gleich wieder ganz anders aus. Da muss der christliche Glaube zu jeder Zeit neu gefunden und grundgelegt, verinnerlicht werden. Denn die Zeit schreitet voran, und irgendwann kommt ein Teil der Menschheit nicht mehr mit, so ist es vorhergesagt. Und wir können heute schon sehen, wie die einen ein Verstehen entwickeln und haben, das die andern nicht nur nicht haben, sondern von dem sie entweder auch noch glauben: es sei schlechterdings unmöglich, niemals erreichbar, von niemandem, oder: es sei bloße geistige Dekadenz. - Kann uns diese Differenz im Denken der Menschen kalt lassen? Muss sie uns nicht vielmehr zu denken und zu handeln geben, weil diese Denk-Differenz jetzt schon eine Ungleichzeitigkeit anzeigt, die die Menschen kulturell in ganz unterschiedliche Welten und Wirklichkeiten hineinführen könnte - im Laufe der Zeit? Müssen wir da nicht ein hochdringliches Bedürfnis entwickeln zusammenzusammeln? Aber selbst dieses Bedürfnis werden nur diejenigen entwickeln können, die jetzt schon sehen können, dass ein Fatales, ein Schicksal-Entscheidendes auf die Menschheit zukommt...
Und wir dürfen auch nicht vergessen, dass wir nicht aufgehört haben, uns in der Unruhe der Philosophie oder Erkenntnissuche zu bewegen, und wenn wir nun ins Theologische hineingekommen sind, so deshalb, weil die Philosophie m.E. darauf verzichten muss, von irgendwelchen Setzungen und Selbstabgrenzungen auszugehen wie „Es ist kein Gott“ oder „Es ist kein subsistierender Geist“. Deshalb muss philosophisch zur Kenntnis genommen werden, was immer die Menschheitsgeschichte aus sich hervorbringt bzw. was in ihr wirksam war und ist. Und dann muss zugesehen werden, ob es philosophisch gehandhabt werden kann.
Die Philosophie wäre aber zu Ende oder das philosophische Wahrheitsstreben abgewürgt, würde sie in irgendeinem „Standpunkt“ ein Lager aufschlagen und zur Ruhe kommen wollen. Im Grunde lebt sie aus der Vermutung, es könne ein Noch-mehr an Erkenntnis geben, für welches sie sich (bzw. der nach Erkenntnis strebende Mensch sich) offenhalten muss.
Kontroverstheologisch wird man zumindest sagen können, die evangelische Kirche sollte die „Kirchenwirklichkeit“ als „Beweisfaktor“ in ihre theologischen Prinzipien wieder mitaufnehmen. Denn nachreformatorisch ist das sola scriptura hinfällig geworden, weil eine alternative Kirchenwirklichkeit entstanden ist. Die Bibel bleibt ja trotzdem ganzer Maßstab, nur: Was misst sie denn? Sie misst die Kirchenwirklichkeit (speziell in den sieben Sendschreiben oder Gemeindebriefen). Luther hat das getan, die alte Kirchenwirklichkeit hielt dem Maßstab nicht stand, und so resultierte eine neue Kirchenwirklichkeit, die dem Luthermaß, das einer vertieften Bibellektüre entsprang, dann entsprach.
Ob Luther das so gesehen hat, dass die von ihm angestoßene Kirchen- oder Gemeinde-Entwicklung sein eigenes Sola-Scriptura-Prinzip überholte, weiß ich nicht. Anderseits hat er eingeräumt, dass er die Offenbarung des Johannes nicht verstehen kann...
"An diesem Buch der Offenbarung
Johannes lass ich auch jedermann seines Sinnes walten, will
niemand an meine Meinung oder Urteil gebunden haben. Ich sage,
was ich fühle. Mir mangelt an diesem Buch verschiedenes, so
dass ichs weder für apostolisch noch für prophetisch halte:
...
...und in allen Dingen nicht spüren kann, daß es von dem
heiligen Geist verfaßt sei. ...
Endlich meine davon jedermann, was ihm sein Geist gibt,
mein Geist kann sich in das Buch nicht schicken, und
ist mir dies Ursache genug, dass ich sein nicht hochachte,
daß Christus drinnen weder gelehret noch erkannt wird,
welches zu tun ein Apostel doch vor allen Dingen schuldig ist,
wie Christus Apg. 1,8 sagt: „Ihr sollt meine Zeugen sein.“
Darum bleibe ich bei den Büchern, die mir Christus hell und
rein dargeben." (Herv. v. Verf.)
Textnachweis: Martin Luther,
Vorrede zur Offenbarung Johannes von
1522
Quelle: Luther Deutsch. Die Werke Martin
Luthers in
neuer Auswahl für die Gegenwart, hg. Kurt
Aland, Bd. 5: Die Schriftauslegung, Vandenhoeck &
Ruprecht, Göttingen, vierte Auflage 1990, teilw. mit
Verlags-Angabe Klotz, © 1963
by Ehrenfried Klotz Verlag Stuttgart, S. 65f., hier als
Digitalisat der Deutschen Digitalen Bibliothek der
Bayerischen Staatsbibliothek (externer Link:
https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/organization/PE423JPDSCU6C72BAC2PUBOHAINDRGFO):
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erforderlich): S. 64. Das Werk steht dort unter der Lizenz "CC
BY-NC-SA 4.0 Deed" (externer Link: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/4.0/deed.de),
Abrufdatum aller Links: 17.06.2024.
Und wenn Luther die Offenbarung des Johannes nicht richtig verstehen kann, so gilt doch, dass wir das sola scriptura noch gar nicht umfänglich anwenden können, weil uns Teile dieses scriptura noch gar nichts sagen, und dies gilt folglich auch noch für die Reformationszeit und für die bislang aus ihr hervorgegangene evangelische Kirche. Und wir müssen noch einen Schritt weitergehen und festsetzen: Auch die Teile, die uns schon etwas sagen, werden ihren vollen Sinn erst ergeben, wenn wir die Bibel durchschauen können. Dieses Durchschauen-Können dürfte aber selbst ein Vorgang der Heilsgeschichte sein, der seine Zeit braucht. Und es wird dann sogar die Auswirkung haben, dass nicht nur die Bibel durchsichtig wird, sondern auch das Leben der Menschen, angedeutet in den Worten:
"Siehe, ich komme wie ein
Dieb. Selig ist, der da wacht und seine Kleider bewahrt, damit
er nicht nackt gehe und man seine Blöße sehe." (Offb.
16,15)
Lutherbibel,
revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft,
Stuttgart und Einheitsübersetzung ©
2016 Katholische Bibelanstalt GmbH, externer
Link: https://www.bibleserver.com/LUT.EU/Offenbarung16,
abgerufen am 29.04.2024.
Da ist es dann nichts mehr mit "Datenschutz", weil die Daten resp. Taten der Menschen offenliegen werden, nicht nur vor dem Himmel, sondern auch vor demjenigen Teil der Menschheit, der sehend geworden sein wird. Und wir könnten fragen, ob unser heutiges großes Datenschutzbedürfnis nicht schon ein unbewusster Voranzeiger für dieses sicher auf uns Zukommende ist?
Ich möchte und muss hier für Luther eine Lanze brechen:
Luther kann mit der Offenbarung des Johannes offensichtlich
nichts Rechtes anfangen, so deutlich formuliert in der Vorrede
von 1522. In der späteren Vorrede von 1530 nimmt er
diese Aussage insofern zurück, als er hier versucht, der
Offenbarung nun doch einen bzw. ihren Sinn abzuringen, ohne
jedoch die erste, aporetische Sichtung von 1522 explizit aufzuheben.
Und so hat es den Anschein, als sei Luther mit
seinem Geist, mit seinem Verstehvermögen letztlich durch die
Bibel nicht durchgedrungen, sondern steckengeblieben, also
scheinbar gescheitert, so dass man - von außen oder
oppositionell-kontroverstheologisch betrachtet - sein
Sola-Scriptura-Prinzip als ein uneingelöstes Desiderat Luthers
ansehen müsste, und zuletzt auch die lutherische Theologie und
dann auch die gesamte evangelisch-lutherische Kirche als einen
Irrweg betrachten, der auf bloßer (nicht zum Erkenntnis-Ziel
gelangender) Menschenreflexion beruhe, nicht auf dem Wirken des
Geistes in der Zeit...
Und genau aus diesem möglichen Schlussfolgerungsgrund kann man
als überzeugter Lutheraner die obigen bzw. nachfolgenden Sätze
Luthers in seiner ersten "Vorrede zur Offenbarung Johannes"
nicht unkommentiert stehen lassen.
Vorausschicken möchte ich noch, dass mein Lutherverständnis
hier nur ansatzweise, nicht erschöpfend zur Sprache gebracht
werden kann, zumal ich in das breite Schriftgut Luthers noch
nicht tief genug eingedrungen bin, so dass ich meine bisherige
Lutherlektüre ernsthaft spärlich nennen muss. Immerhin habe ich
eigene Ideen für ein Lutherverständnis, zu der auch eine
umfängliche Betrachtung seines Vernunft-Begriffes gehörte,
deren gründliche Ausarbeitung vielleicht ein eigenes
Gelehrtenleben in Anspruch nehmen würde, das ich nicht führe
und nicht habe.
a) Mein Geist kann sich in das
Buch nicht schicken
b) Christus wird darin weder gelehrt noch erkannt
Die "Offenbarung des Johannes" gehört nun einmal zum Biblischen Kanon, der selbst in der Kirchengeschichtszeit entstanden ist. Insofern muss auch hier - bei der Bibel-Entstehung - das Wirken des Geistes berücksichtigt und argumentativ in Erwägung gezogen werden, wobei man selbstverständlich niemals blind sagen kann und darf: "Was immer sich kirchengeschichtlich ereignet - es muss vom Geist selbst inspiriert sein und daher seine Richtigkeit haben." Denn mit dieser Hypothese kann sowohl die Habemus-Papam-Kirche in ihrem Bestand gerechtfertigt werden, als auch die ihr widersprechende Reformation in ihrem Bestand, und dann käme heraus, dass der Geist selbst sich in seinem heilsgeschichtlichen Wirken widerspräche, als wüsste er nicht recht, was er denn nun eigentlich wolle...
Es sei denn, man hebt die eigene
Konfession in den Himmel und verteufelt die andere - ein
Geschwisterverhalten, das Christen nicht an den Tag legen
sollten, was in der Gegenwart auch erkannt zu sein scheint,
indem angesichts der ökumenischen Bewegung sich die
Kontroverstheologie in die Nichtigkeit verloren hat, damit ein
eventuelles klärendes (und wiedervereinigendes) Gespräch
zwischen den christlichen Konfessionen dauerhaft möglich
bleibt, was allerdings dann unmöglich ist, wenn eine Konfession
glauben sollte, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben, wobei
die andere Konfession dann ja die Freiheit hat, sich diesen
angeblichen "Pachtvertrag" näher
anzusehen...
Luther selbst widerspricht
einem solchen vereinfachten, schwarz-weiß-malenden Blick auf
die Kirchengeschichte durch die Darstellung in seiner späteren
Vorrede von 1530, die zeigt, wie ein und dieselbe Sache oder
Person oder Institution sowohl positiv als auch negativ
gesichtet werden kann, je nach Perspektive:
"Denn weil so mächtige
Gewalt und Schein sollte wider die Christenheit fechten ... ,
ist's der Vernunft und Natur unmöglich, die Christenheit zu
erkennen; sondern sie fällt dahin und ärgert sich an ihr, heißt
das christliche Kirche, welches doch der christlichen Kirche
ärgeste Feinde sind, und wiederum heißet das verdammte Ketzer,
die doch die rechte christliche Kirche sind ..." (viertletzter
Absatz; Bornkamm S. 229 = DFG-Viewer S. 227)
"Es ist ein Christ auch wohl
sich selbst verborgen, daß er seine Heiligkeit und Tugend nicht
siehet, sondern eitel Untugend und Unheiligkeit siehet
er an sich."
(vorletzter Absatz; Bornkamm S. 231 = DFG-Viewer S. 229)
Textnachweis: Martin Luther,
"Vorrede auf die Offenbarung S. Johannis" von
1530
Quelle: "Luthers Vorreden zur Bibel,
hg. Heinrich Bornkamm, neu durchgesehen von
Karin Bornkamm, 3. Aufl. 1989, Vandenhoeck & Ruprecht
Göttingen", dort S. 220-231,
hier als Digitalisat der Deutschen Digitalen Bibliothek
der Bayerischen Staatsbibliothek (externer Link:
https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/organization/PE423JPDSCU6C72BAC2PUBOHAINDRGFO):
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erforderlich): S. 218-228. Das Werk steht dort
unter dem Rechtehinweis "InC/1.0" - Nutzung nur im Rahmen des
Urheberrechtsgesetzes (externer Link: https://rightsstatements.org/page/InC/1.0/?language=de),
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Im Folgenden nehme ich wiederholt Bezug auf diese
Bornkamm-Ausgabe der Luther-Vorrede von 1530.
Nein, der Geist weiß vielmehr ganz genau,
was er will, nur sind Mensch und Menschheit einem
Hin- und Her-Gezerre zwischen Heils- und Sünden-Geschichte
ausgeliefert, weil es nicht nur den Geist, sondern auch einen
Widerpart oder Widersacher gibt, der das Heils-Werk ablenken,
umbiegen, vernichten will, und der Mensch tut sich mindestens
schwer, seine tatsächliche Position inmitten dieser
Fluten und Gegenfluten richtig zu bestimmen, als
befände er sich inmitten eines schweren Unwetters auf hoher
See, das ihm die Übersicht und Orientierung unmöglich macht, so
dass er nicht weiß, wo er sich befindet.
Und die "Schwere" sollten wir gerade daran ablesen können, dass
uns das Meer (der Glaubens- und Unglaubenswogen) ausgesprochen
"ruhig geworden zu sein" scheint, indem der kämpferische
Atheist sich zuerst zum kirchfreien Gott-Losen beruhigte und
dann zum gleichgültig-unfeindseligen Lose-Sein überging;
ausgesprochen "ruhig geworden zu sein" scheint, um nicht zu
sagen: den Eindruck einer Dauerflaute erweckt, als sei der
Glaube vom Erkenntnis-Unkraut der Moderne derart beeindruckt,
eingeschüchtert oder überwuchert, dass er immer kleinlauter
wird und in sich zu ersticken droht, nur weil er sein
Wissen und Nichtwissen nicht ins rechte Verhältnis zu
ihrem Wissen und Nichtwissen setzen kann und also in
seiner Vernunft unfähig geworden ist, klar und deutlich zu
erkennen, dass er selbst das eigentliche und einzig wahre
Lebens- und Wirklichkeitsprinzip ist, das er tief in
seinem Innern und Herzen trägt, aber irgendwie nicht mehr
angemessen und wahrheitsgemäß artikulieren kann - in der Welt,
wie sie geworden ist.
Wenn also die Offenbarung des Johannes rechtmäßig und
konsequent zum Biblischen Kanon gehört, so kann die
a)-Lutheraussage keine dauerhafte Gültigkeit haben, und so muss
auch die b)-Lutheraussage näher untersucht und verstanden
werden. Man kann sie nicht einfach ungedeutet lassen.
Zu a) Mein Geist kann sich in das Buch nicht schicken
Ich fange gleich mal dialektisch an und nehme diese Aussage Luthers zum Anlass, ihm kein Tadel, sondern ein großes Lob auszusprechen. Es gehört Mut dazu, ein eigenes Nichtverstehen zu bekennen. Die Aussage zeugt also von Luthers großer Aufrichtigkeit im Umgang mit der Bibel, mit dem christlichen Glauben, mit dem Christentum. Und ich will sie heilsgeschichtlich so verorten, dass sie zeigt, dass Martin Luther "vollauf Christ in der Zeit" gewesen ist. Er hat ein besseres Verstehen des Christlichen, besser als seine Gesellschaft um ihn herum, und deshalb findet er in sich auch die Kraft, dieses Verstehen öffentlich zur Sprache zu bringen, zum Nutzen der Gesellschaft und zum Aufbau der christlichen Gemeinde. Und die Gesellschaft um ihn herum hat ihrerseits auch den Geist gezeigt, in Luthers Wort und Sprache das Wirken und die Kraft des Geistes zu erkennen. - Beides ist notwendig, sonst kann sich gesellschaftlich nichts tun.
Hegel spricht von
"welthistorischen Individuen", und der bloße Begriff erweckt
den Eindruck, als sei die Gesellschaft gar nichts, und so sehen
wir uns lieber noch eine Stelle aus Jacob Burckhardts
"Weltgeschichtlichen Betrachtungen" zu dieser Thematik
an:
"Die Geschichte liebt es
bisweilen, sich auf einmal in einem Menschen zu verdichten,
welchem hierauf die Welt gehorcht.
Diese großen Individuen sind
die Koinzidenz des Allgemeinen und des Besondern, des
Verharrenden und der Bewegung in e i n e r
Persönlichkeit. Sie resumieren Staaten, Religionen, Kulturen
und Krisen.
...
Denn die großen Männer sind
zu unserem Leben notwendig, damit die weltgeschichtliche
Bewegung sich periodisch und ruckweise frei mache von bloßen
abgestorbenen Lebensformen und von reflektierendem
Geschwätz.
Und für den denkenden
Menschen ist gegenüber der ganzen bisher abgelaufenen
Weltgeschichte das Offenhalten des Geistes für jede Größe eine
der wenigen sicheren Bedingungen des höheren geistigen
Glückes."
(Jacob Burckhardt,
Weltgeschichtliche Betrachtungen, Fünftes
Kapitel: Das Individuum und das Allgemeine (Die historische
Größe), S. 207-248, hier: S. 229, S. 248, Kröners
Taschenausgabe Band 55, 1978, Alfred Kröner Verlag
Stuttgart)
Also: Das "welthistorische Individuum" ist nur dadurch ein solches, dass seine Gesellschaft und Umgebung mitspielt, indem sie das Neue als Neues erkennt, bejaht und mitträgt. Insofern sollten wir in die Zukunft hinein "welthistorische Individuen" - ich will ja nicht sagen: "in die Zweitrangigkeit zurücksetzen", aber doch zumindest ein gutes Stück relativieren. Ihr Wert und ihre Wichtigkeit muss nach dem Ziel ermessen werden, das letztlich resultieren soll. Und aus dem Glauben heraus können wir sagen: Dieses Ziel ist die rechte christliche Gemeinschaft, die Kirche Jesu Christi, die in ihrem Ideal besagt: Alle und Jeder und Jede haben das Sagen und sind von Relevanz für die Allgemeinheit und für das Ganze. Diese Gemeinschaft muss also selbst zusehen, wie sie es am besten anstellt, dass das jeweilige Gute, das in allen Einzelnen vorhanden ist, bestmöglich fruchtbar gemacht werde und zum Tragen komme. Und die Gemeinschaftszielrichtung findet sich dadurch, dass sich die Individuen bestmöglich auf die Zielrichtung "Christus" ausrichten, den wir uns in unser "Sachlichseinwollen" herunterübersetzen können als "Menschlichkeit" und "Menschheitlichkeit" aller in ihrem Verhalten und Leben usw.
Luther hat aber kein
absolutes, die Bibel vollumfänglich
durchdringendes Verstehen, und das sagt er auch. Er gibt
also kein Verstehen vor, das er nicht hat. Er heuchelt kein
christliches Verständnis, und dies wäre auch absurd, weil
dadurch einerseits die Gemeinde, die Gesellschaft betrogen
würde, und er anderseits auch sich selbst betrügen würde. Und
es ist selbsterklärlich und evident, dass ein
Betrugs-Christentum keinerlei Lösung sein kann, da das Ziel des
Christentums ja gerade die Beseitigung von Täuschung und Lüge
intendiert. In der Offenbarung ist dies verschärft formuliert,
nämlich durch die Ankündigung der Bloßstellung des Schein-
oder Betrugs-Christentums, das offensichtlich schon
erwartet wird (siehe oben Offb.
16,15). - Ich will theoretisch einmal annehmen, dass
Lutheraner und Katholiken in dieser Feststellung
übereinstimmen, wenigstens, solange sie nur prinzipiell
formuliert ist, unangewandt auf unsere konkreten
Lebensverhältnisse.
Luthers Nichtverstehens-Aussage
steht somit konform zur Höheren Kritik im
Sardes-Sendschreiben an unserer eigenen Gegenwart (die
sich bereits auf seine Zeit bezieht, dann auch auf
unsere Zeit, und auch noch ein gutes Stück in
"unsere Zukunft" hineinreicht) und die formuliert, es
fehle noch etwas, die Werke seien noch nicht
vollgemacht, wobei wir den Werke-Begriff hier in a) noch
offenhalten wollen, denn wir wissen ja, dass der Mensch ein
doppeltes Handeln (oder Werkeln) hat: seine Lebenspraxis und
seine Denkpraxis (wobei in der "Denkpraxis" freilich der
"Geist" ins Spiel kommt, also auch: der "Geist, der sich noch
nicht schicken kann").
Wir wollen diese Aussage nochmals ganz bewusst vor uns
hinstellen: Das Bekennen eines Nicht-Verstehens kann
auch Indiz der Wirksamkeit des Geistes sein,
insbesondere dann, wenn es 8 Jahre später - wie bei Luther -
faktisch in ein Damals-noch-nicht-Verstandenhaben
zurückgenommen ist, was Luther ja faktisch getan hat, indem ein
zuerst Unverstehbares zu einem Verstehbaren (oder wenigstens
Verstehens-Nötigen) geworden ist. - Und ich will weiter unten
dann noch die Frage streifen: Was ist in und mit dem
Luther-Denken zwischenzeitlich passiert?
Zu b) Christus wird darin weder gelehrt noch erkannt
Setzen wir einfach einmal,
Luther habe dies richtig gesehen: In der Offenbarung
wird Christus "nicht gelehrt". Und wenn er "nicht gelehrt"
wird, dann kann er freilich darin auch "nicht erkannt"
werden... - Luther ist sich dessen nicht bewusst (und die
Evangelische Kirche vermutlich bis heute nicht), dass er uns
mit seiner genialen, phantastischen Christus-Offenbarungs-Frage
(denn seine "Festellung" ist eigentlich ein Frage, resultierend
aus einem Verstehen-wollen-können) die Lösung bereits an die
Hand gibt.
Denn: Hoppla! Was sagt Luther mit seiner Frage eigentlich aus?
Er sagt uns: "Christus ist in der Offenbarung des Johannes
nicht wiederzuerkennen (im Vergleich zu den
Evangelien)!" Was macht also Luthers scharf und gut
beobachtende Aussage mit uns? Sie gibt uns jenes Stichwort
des Christentums, das in den neutestamentlichen Schriften
eine fundamentale Rolle spielt!
Und interessanterweise spielt es diese Rolle zugleich
in den Evangelien und in der Offenbarung, denn in
beiden wird geäußert, dass es "Namenschristen" gibt, die dem
nicht gerecht werden, dem sie gerecht werden sollen und die
sich daher auch keine Anwartschaft zum Eintritt ins Reich
Gottes erwerben und die daher dann - umgekehrt auch von
Christus nicht wiedererkannt werden und ausgeschlossen
bleiben.
Jeweils eine Bibelstelle zur Thematik:
I) In den Evangelien (stellvertretend hier das
Matthäusevangelium, im Gleichnis von den Jungfrauen) - Mt.
25,10-13:
"Und als sie hingingen zu
kaufen, kam der Bräutigam; und die bereit waren, gingen mit ihm
hinein zur Hochzeit, und die Tür wurde verschlossen. Später
kamen auch die andern Jungfrauen und sprachen: Herr, Herr, tu
uns auf! Er antwortete aber und sprach: Wahrlich, ich sage euch: Ich
kenne euch nicht. Darum wachet! Denn ihr wisst weder Tag
noch Stunde." (Herv. v. Verf.)
Lutherbibel,
revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft,
Stuttgart und Einheitsübersetzung ©
2016 Katholische Bibelanstalt GmbH, externer
Link: https://www.bibleserver.com/LUT.EU/Matth%C3%A4us25,
abgerufen am 12.04.2024.
II) In der Offenbarung des Johannes - Offb. 22,14-16:
"Selig sind, die ihre
Kleider waschen, dass sie Zugang haben zum Baum des Lebens und
zu den Toren hineingehen in die Stadt. Draußen sind die Hunde und die
Zauberer und die Hurer und die Mörder und die Götzendiener und
alle, die die Lüge lieben und tun. Ich, Jesus, habe
meinen Engel gesandt, euch dies zu bezeugen für die Gemeinden.
Ich bin die Wurzel und das Geschlecht Davids, der helle
Morgenstern." (Herv.
v. Verf.)
Lutherbibel,
revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft,
Stuttgart, und Einheitsübersetzung ©
2016 der Katholischen Bibelanstalt GmbH,
externer Link: https://www.bibleserver.com/LUT.EU/Offenbarung22,
abgerufen am 12.04.2024.
Die Problematik des
"Wiedererkennens" besteht demnach
wechselseitig: nicht nur von echt und ernsthaft
fragenden und forschenden Christen (wie Martin Luther)
gegenüber Christus (zumindest in der Offenbarung), sondern auch
von Christus gegenüber denen, die sich "Christen" (bloß)
nennen!
Aber diese Problematik ist noch gar nicht mein eigentlicher
Punkt. Sie ist zunächst einmal nur ein Assoziations-Stichwort,
das uns Luther hier geistesgeschichtlich reicht, indem er (in
seiner Zeit) vor der Offenbarung des Johannes steht wie vor
verschlossener Tür oder wie vor einem versiegelten Buch. Wobei
wir nicht vergessen dürfen, dass der Offenbarungs-Schreiber
aufgefordert wurde, sein Buch gerade nicht zu
versiegeln, sondern den Verstehens-Weg offenzuhalten. Und
daraus folgt dann, dass sich das Verstehen der Offenbarung
heilsgeschichtlich ereignen wird, durch das Wirken
(Lehren, Unterweisen) des Geistes, im Verlaufe der
Heilungs-Zeit, und zwar in den Echt-Christen, und auch nur für
sie, nicht für die Nominal-Christen. Und Luther gibt uns
kirchen- und heilsgeschichtlich den einzig möglichen
Ansatzpunkt, über welche der christlich-menschlichen Vernunft
jemals ein Verstehen der Offenbarung möglich werden kann!
Er hat uns diese (Verstehens-)Tür aufgestoßen! Und das sollte
uns doch heils-, kirchen- und weltgeschichtlich zuversichtlich
stimmen?
Meinen eigentlichen Punkt will
ich hier unter c) fassen, auch wenn Luther ihn nicht selbst
geäußert hat, aber er ergibt sich eigentlich zwangsläufig,
sozusagen in der Luther-Aussage-Verlängerung, wenn man das
Animal-Rationale-Sein des Menschen fest im Gepäck behält, so
dass auch hier wieder die "notorische Verstehensfrage der
Philosophie" in Anschlag gebracht werden kann, was Luther aus
seinem eigenen Geist heraus - der auf jeden Fall "Biss" hatte -
hätte tun können, nur dass er es eben faktisch
nicht gemacht hat (vielleicht, weil niemand alles auf
einmal erkennen kann, weshalb Luthers Sichtung der Offenbarung
letztlich noch unzureichend bleiben musste).
c) Warum denn wird in der Offenbarung des Johannes Christus nicht gelehrt?
Und jetzt werfen wir einen ersten Blick auf
die streng und strikt verstehenswillige, sich geradezu mürbe
fragende Luther-Vernunft. Die erste "Abschreckung der
Offenbarung" ist vorüber, und Luther ist jetzt in sich frei,
sich dem Text nochmals neu und anders zuzuwenden, in einem
zweiten, genaueren, tieferen Fragen nach einem etwaigen
Sinngehalt. Man kann
also, wenn man will, den Vorgang oder die Genese des
Sich-schickens-des-Luther-Geistes-in-die-Bibel-hinein minutiös
nachempfinden und dann auch nachzeichnen.
Er muss sich im Verlauf der 8 Jahre gesagt haben: Es kann nicht
richtig sein, dass ich mein Erkenntnisvermögen, meinen
Erkenntniswillen in Bezug auf die Offenbarung einfach brach
liegen lasse, nur weil sie mir wirr und undurchsichtig
erscheint. Und so tastet er sich vom
Äußerlich-Buchstabenmäßigen allmählich ins Innere-Geistige
hinein: "Was kann denn auf jeden Fall über die
Offenbarung gesagt werden?" Dies ist seine
Fragestellung, und ich will jetzt meine Antwort geben:
Nun, sie ist ziel- und ergebnisorientiert, denn sie
spricht von einer Ernte, die eingefahren werden soll, nein,
nicht: soll, sondern sie wird eingefahren
werden! Es ist ein sicheres, unzweifelhaftes
Ereignis, das auf die Christenheit und Menschheit zukommen
wird, genauso felsenfest wie die Standfestigkeit und
Standhaftigkeit der Kirche Jesu Christi, die ja der
eigentliche Kerngehalt von Mt. 16,18 ist (wenn man die Spreu
vom Weizen trennt).
Und wenn wir unsere bisherige Bibellektüre als Verständnishilfe
berücksichtigen, dann können wir sagen: Bei einer Ernte werden
reif gewordene Früchte eingefahren, und über "Früchte" haben
wir ja bereits nachgedacht, vielmehr über die "Frucht des
Geistes", also darüber, dass der Geist selbst die zu erntende
Frucht ist. Und dann wird auch das "Aussieben" verständlich -
die Spreu vom Weizen oder die Böcke von den Schafen zu trennen
-, in der Offenbarung lediglich in das andere Bild des Kelterns
der Trauben zur Gewinnung des Weines gebracht, den wir auch mit
dem Blut Christi assoziieren dürfen, weil die Schmerz- und
Leiderfahrung der gesamten Kirchen- und Christentumsgeschichte
darin liegt. Die Zielorientierung ist unmittelbar mit
einer Sondierung verbunden: Trennung der Echtchristen
von den Nominalchristen, Aussonderung derjenigen, die die
Frucht des Geistes gezeitigt haben. - Soweit erst
einmal.
Jetzt wird erkennbar, dass es Absicht sein
muss, dass in der Offenbarung Christus nicht gelehrt
wird, und wir können die Lutherfeststellung deshalb jetzt
noch heilsgeschichtlich konkretisieren: Christus wird hier
nicht mehr gelehrt! - Einen Anhaltspunkt gibt uns die
Offenbarung selbst in den Worten:
"Und er spricht zu mir: Versiegle nicht
die Worte der Weissagung in diesem Buch; denn die Zeit ist
nahe! Wer
Böses tut,
der tue
weiterhin Böses, und wer unrein ist, der sei weiterhin unrein;
aber wer
gerecht ist,
der übe
weiterhin Gerechtigkeit, und wer heilig ist, der sei weiterhin heilig.
Siehe, ich komme bald und mein Lohn mit mir, einem jeden zu
geben, wie sein Werk ist." (Offb. 22,10-12; Herv. v.
Verf.)
Lutherbibel,
revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft,
Stuttgart, und Einheitsübersetzung ©
2016 der Katholischen Bibelanstalt GmbH,
externer Link: https://www.bibleserver.com/LUT.EU/Offenbarung22,
abgerufen am 13.04.2024.
Wir sehen an dieser Aussage, dass im Zusammenhang mit den in der Offenbarung geschilderten "Endereignissen" ein Kulminations- oder Endpunkt erreicht ist. Von jetzt an gilt also die Grundsatz-Aufforderung des christlichen Glaubens zur Umkehr nicht mehr, die bisher noch die gesamte Kirchengeschichte hindurch Gültigkeit und Richtigkeit hatte! Es wird nun ein Schlussstrich gezogen. Die Frucht muss gereift, die Umkehr vollzogen sein! Und weil dieser Schlussstrich gezogen wird, deshalb wird Christus in der Offenbarung nicht mehr gelehrt.
Dies bedeutet dann: Wer bis dahin
den christlichen Glauben und den christlichen Geist nicht
verstanden hat, an den soll nun nicht mehr weiter missionierend
herangetreten werden, sondern er soll seinem Eigenurteil,
vielmehr Eigendünkel überantwortet sein, sowie den daraus
folgenden Konsequenzen.
d) Die christliche Lehre ist nicht überzeitlich, sondern als Genese des menschlichen Geistes in der Zeit konzipiert
Ich ziehe jetzt einfach das weiter aus, was ich meine, von Luther sozusagen als biblischen Aufspürsinn an die Hand bekommen zu haben.
Es ergibt sich nun der
Rückschluss: Es kann nicht (richtig) sein, dass Christus
dauerhaft und ewig gelehrt werden muss, sondern
irgendwann muss er auch verstanden sein, nicht anders
als in unserem Schulbetrieb auch: Es gibt eine Zeit des Lehrens
(der Lehrer), die zugleich eine Zeit des Lernens (der Schüler)
ist. Aber irgendwann muss es dann auch gut damit sein, und es
muss eine Zeit der Prüfung folgen, die die Ergebnisse oder
Früchte des Lehrens und Lernens abruft, festhält, einfährt. So
wird "ausgesiebt", wer in der vorgesehenen Zeit die
vorgesehenen Fortschritte gemacht hat und wer nicht. Die einen
rücken dann vor zur nächsten Jahrgangsstufe resp. nächsthöheren
Bildungs- oder Erkenntnisstufe, die andern müssen das Bisherige
nochmals wiederholen, sie "bleiben sitzen", werden somit aus
der Regel- oder Norm-Entwicklung herausgenommen und zunächst
einmal nicht in die vorgesehene Zukunft mitgenommen. Würde man
anders verfahren, so geschähe denjenigen, die ihre Fortschritte
in der Zeit erreichten, Unrecht, weil man ihnen ihre reguläre
Weiter- und Höherentwicklung vorenthielte, zumindest
verlangsamte. Und wenn nun die Menschheits- und Weltgeschichte
ein "inneres, gesundes Entwicklungstempo" haben sollte, so
würde man dadurch zuletzt die "Gesunden" zwingen "krank" zu
werden, hinterherzuhinken hinter "ihrem Entwicklungszeitmaß",
das ihnen zukommt. Den Sitzengebliebenen oder Zurückgebliebenen
verbleiben zwar noch Möglichkeiten des Aufholens, in jedem Fall
aber müssen sie nun Umwege und Umstände in Kauf nehmen (wie die
törichten Jungfrauen), weil sie das "Normale" versäumt und
versurrt haben. - Das Christentum hat also einen Numerus
clausus, und zwar den echten eines
qualitativen Ausschlussverfahrens (keinen
äußerlich-quantitativen).
Im Verständnis des Christentums
ist inbegriffen, dass das rechte Christusverständnis das
rechte menschliche Selbstverständnis in sich enthält und
wahrt, so dass parallel gilt: Irgendwann wird die
Heilsgeschichte ihre Intention dahingehend erfüllt haben, dass
der Mensch sein wahres Selbstverständnis wiedererlangt haben
wird! Und verständlich wird dies dann und dadurch, dass wir den
Menschen schöpfungskonstitutiv als ein Animal rationale ins
Auge fassen. Er hat ein schöpfungskonstitutives
Verstehvermögen, und es kann und soll ihm auch eine
angemessene Zeit eingeräumt werden (bis dato sind es über
2000 Jahre), damit er über die christliche Lehre zu
diesem seinem rechten und ursprünglichen
Selbstverständnis (und kosmischen Verstehvermögen)
zurückfinde, über das Wirken des Tröster- und
Beistands-Geistes, so dass er seinem prinzipiellen
Menschsein wieder gerecht werden kann, das ihm
sündengeschichtlich verdorben worden war.
So hat das Christentum zu funktionieren, so soll die
Kirchengeschichte ablaufen, so ist der Himmelsplan mit der
Menschheit: Die Menschheit soll wieder integriert werden in den
kosmisch-hierarchischen Rundlauf. Das Christus- und
Heilsgeschichtswirken erfolgt außerordentlich, zu dem
Sinn und Zweck, in die Ordnung zurückzurufen
(gefallenes Verstehvermögen -> kosmisch-natürliches
Verstehvermögen, gefallene Natur -> kosmisch-natürliche
Natur, die himmlisch-hierarchisch nach wie vor gelebt resp.
praktiziert wird). Die Menschheit muss auf ihrer
"Menschseins-Ebene des Geistes" auf den "Boden der geistigen
Tatsachen" zurückgeholt werden. Die Menschen sollen - als
prinzipielle Geistwesen - ihre "Tragfähigkeit in sich selbst"
wiederfinden können, wobei dieses "selbst" ja den
allgemein-kosmischen Geist ursprünglich in sich enthielt und
eben auch wieder enthalten soll. Dann ist jedes Ich-selbst in
den allen gemeinsamen Geist verschlungen.
Und so ergibt sich (gewissermaßen gegen Luther, aber er kann ja auch in seiner Sardes-Anfangszeit - 1517 zu 1413 bis 3573 - nicht schon alles Relevante wissen); so ergibt sich, dass seine stillschweigende Annahme, Christus müsse "in der Zeit" dauerhaft gelehrt werden, unzutreffend ist. Und wenn wir also die Offenbarung des Johannes - das letzte Buch unserer Bibel und des Neuen Testamentes - zum Biblischem Kanon rechnen, so ergibt sich: Das Christentum braucht zwar auf jeden Fall Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte, Jahrtausende der Unterweisung, also "Lehrjahre", aber eine "Lehrzeit" hat das an sich, dass sie irgendwann zu Ende gehen wird und in die Gesellenjahre und schließlich in die Meisterjahre überzugehen hat, und so erklärt sich auch die Wiederholung des "Festhaltens der Lehre bzw. des Empfangenen" in den sieben Sendschreiben, die nun wie ein "Ablegen von Zwischenprüfungen" erscheinen, wobei allerdings - en passant - die "große Prüfung" stattfinden wird, die überhaupt nur ein Teil der Menschen als solche mitbekommt, weil die andern die Reife (einer Zeit-Wahrnehmung oder rechtmäßigen Zeit-Einschätzung) nicht erlangt haben und damit durchs Apokalypse-Raster fallen: Für sie "passiert" schlicht - nichts, für die andern ereignet sich "en passant" das Ende.
Somit setzt die Offenbarung des Johannes bereits voraus, dass
die christliche Unterweisung (über Jahrtausende hinweg)
irgendwann zur "Meisterschaft" gekommen sein muss und wird.
Dies ist der prinzipielle Zeitpunkt des Anbruchs des Reichs
des Geistes, welches sich - vom Menschen in seiner
Entwicklung her gesehen - dadurch auszeichnet, dass der Mensch
die Geistzentrierung seiner Existenz wiedererlangt
hat, johanneisch beschrieben als "Hinaufhören" und "In-Sein",
so dass er die Leitfunktion (oder auch Leiter- und
Hinaufsteige-Funktion) der Bibel (ihre Erziehungshilfe
oder Vernunft-Gebrauchsanleitung) nicht mehr braucht, indem er
immer besser und freier das "ewige Evangelium"
geistunmittelbar, also nun wieder aus sich selbst
heraus empfangen und tun kann.
Und hier findet nun der Werke-Begriff (des
Sardes-Sendschreibens) seine Erfüllung, der nicht einfach nur
gute "Handlungen" meint, sondern ganz wesentlich auch
die vorzunehmende "Vergeistigung" betrifft, ein
"Vollwerden in der Geistigkeit", ein Vorgang, der bei Bestehen
einer irdischen Vater-Zwischen-Instanz unmöglich gemacht ist,
indem Einer nicht gleichgestellt sein will, sondern vorgeordnet
sein will und vielleicht meint, der Allgemeinheit das wahre
christliche Geistverständnis maßstäblich vorgeben zu können,
anstelle eines wahren, interaktiven Gemeindeverständnisses, in
welchem die wahre Menschengesellschaft aus ihrer eigenen
Gemeinschaft und Sozialität heraus sieht und entscheidet, wer
in ihr welche Fähigkeiten habe, um ihn selbst dort zu
platzieren, wo es für die Gesellschaft und Gemeinschaft am
besten sein wird.
Ein Papst-Amt ist hier gar nicht erforderlich. Es ist, gelinde
gesagt, überzählig innerhalb der Christenheit. Es braucht gar
niemanden, der äußerlich sagte und entschiede: "Du darfst rein,
du bleibst draußen." Auch die Offenbarung lehrt dies, indem sie
deutlich macht: Die Entscheidung über seine Zugehörigkeit zu
den Geretteten oder zu den Verlorenen trifft jedes Individuum
durch sich selbst, durch den von ihm angenommenen
Geist. Hat das Individuum die rechte Geistigkeit gefunden,
so gehört es bereits zu den Geretteten, hat es eine falsche
Geistigkeit angenommen, so gehört es bereits zu den Verlorenen,
weshalb ein petrinischer Türsteher-Job gar nicht vorgesehen und
gänzlich überflüssig ist. Er entstammt wohl der Volksphantasie,
analog zum Fels gewordenen Napoleonischen Reisekoffer, den es
niemals gegeben hat.
Und will man nicht "um des lieben Friedens willen" (eine
falsche, irreführende Redewendung) gelinde-diplomatisch
sprechen, sondern dann doch lieber Tacheles reden, so wird man
ernsthaft formulieren müssen: Wer am Papsttum festhält, hat das
Christentum überhaupt nicht verstanden. Er hat das Christentum
in seinem Prinzip nicht verstanden, welches nämlich
das individuelle Geist-Prinzip ist, durch welches sich
der Christ als Christ überhaupt erst
konstituiert. Anders kann ein Christ nicht zustandekommen!
Und wenn er noch so viel Liebe und Mitgefühl und Mitleiden und
Warmherzigkeit zwischenmenschlich auszuströmen scheint, so ist
er doch das nicht, was er zu sein glaubt - ein Christ. Gewiss,
der Christ hat Menschlichkeit und Menschheitlichkeit zu seinem
Handlungs- und Lebens-Mittelpunkt gewählt, aber dieses Zentrum
ist Christus, nichts und niemand sonst. Jeder Christ hat
konstitutivermaßen Christus-Unmittelbarkeit und in
Christus Vater-Unmittelbarkeit, und er hat sie dann
und dadurch, dass der Heilige Geist unmittelbar in ihm
wirkt; alles andere ist falsch und ein Missverständnis,
ist Unselbstständigkeit im eigenen Geiste, ein
Sich-abhängig-Gemachthaben vom Denken Anderer. Daraus folgt
dann freilich: Ein Papst kann nur dadurch Papst sein, dass er
das Christentum nicht verstanden hat. Da muss man nicht einmal
einen Blick auf seine Individualität werfen, auf seine
persönlichen Stärken und Schwächen: Seine bloße
Amtsinhaberschaft zeigt sein Missverstehen, sein Irren im
Christlichen, seine Fallibilität und seine Fehlannahme eigener
Infallibilität. Oder anders formuliert: Man kann nicht zugleich
Papst und Christ sein. Und ebenso: Man kann nicht Christ sein,
solange man einen Papst hat.
e) Luthers reflexiver
Vernunft-Ansatzpunkt zur Deutung der Offenbarung
Abschließend will ich versuchen festzuhalten, wie weit Luther
in seinem Offenbarungs-Verständnis gekommen ist. Und zu diesem
Zweck sehen wir uns jetzt die Vorrede von 1530 näher an, die ja
auch in der Lutherbibel von 1545 als die "Vorrede zur
Offenbarung" enthalten war.
Zunächst einmal ist es aus christlicher Sicht einleuchtend, die
Offenbarung des Johannes als befremdlich anzusehen. Denn das
Christentum lehrt einen "Geist der Inklusion", des
Mitaufnehmens und Mithereinnehmens der Ausgegrenzten oder auch
Aneckenden in die Gemeinschaft. Es lehrt einen großen und
übergroßen Toleranzgeist, der bis zur Feindesliebe gehen muss,
weil nur dadurch alle Widerständigkeit in sich
aufgehoben wird: Ein Feind, den ich als solchen nicht
anerkenne, ist keiner mehr, selbst dann nicht, wenn er mich
noch bekriegt; die Feindseligkeit liegt dann nur noch in ihm,
und ich selbst habe keinen Anteil mehr daran.
Die Offenbarung aber zeigt uns einen "Geist der Exklusion",
zeigt uns den "Zorn Gottes" in seinem Wirken, der eine Trennung
und Scheidung vornimmt und der sogar ausdrücklich sagt: "Jeder
soll das kriegen, was er sich verdient hat - im Positiven wie
im Negativen." Dieses "Sich-etwas-Verdienen" ist das scheinbar
Unstimmige, ein logisch Widersprüchliches, das quasi ganz von
selbst die Offenbarung aus dem Rest des Neuen Testamentes
ausgrenzt. Die Evangelien lehren: "Nehmt euch der
Hilfsbedürftigen an! Unterstützt sie und helft ihnen!", die
Offenbarung sagt über die Hilfsbedürftigen gar nichts (mehr)!?
Sie scheint solche gar nicht mehr zu kennen!? Sie stellt sich
auf den knallharten, mitleidslosen Standpunkt: "Jeder ist
seines Glückes Schmied." Und wer sein Unglück schmiedet, der
soll dieses Unglück dann auch tragen müssen, und so sagt sie
den Christen: "Tut nichts (mehr) für sie, überlasst sie sich
selbst!", was "ins Christliche übersetzt" ja faktisch heißt:
"Hört auf, euch christlich-sozial zu verhalten. Stellt euer
christliches Sozialverhalten ein. Es ist jetzt genug!" - Wenn
man die Offenbarung also als biblisches Buch ernst nimmt, und
Luther tut das freilich, dann muss sie einen schon
irritieren.
Ich nehme an, Luther hat das Unbefriedigende empfunden, dass er
aus seiner "sicheren Erkenntnis christlicher Geistigkeit"
heraus den Wermuts-Schritt tun musste, die Offenbarung aus dem
Biblischen Kanon auszuschließen. Er hat damit gehadert, es hat
in ihm gearbeitet, und dieser Stachel hat ihn nicht in Ruhe
gelassen. "Hm, kann ich nicht doch einen Sinn in der
Offenbarung finden? Vielleicht ist mir ja bisher irgendetwas
entgangen? Etwas, was in der Bibel sehr wohl da ist, nur dass
es meinem eigenen Aufmerken und Wahrnehmen bisher entgangen
ist?"
Die Vorrede von 1530 ist dreigeteilt.
In den ersten sechs Absätzen
formuliert er das Grundproblem von Prophetien und also auch der
Offenbarung des Johannes: die Deutung oder Auslegung
von "Weissagungen". Und er gibt den Grund an, weshalb er sich
daran bisher nicht versucht habe: die "Verborgenheit des
Verstehens" und die "Ungewissheit der Auslegung" (5. Absatz,
Bornkamm S. 220f, DFG-Viewer S. 218f), wobei er sogar ein
geistesgeschichtliches Grundsatzurteil abgibt (ähnlich
demjenigen Kants über die Metaphysik, von welcher er sinngemäß
sagt, hier habe noch nie ein Philosoph auch nur irgendetwas
dauerhaft und sicher als wahr behaupten können):
"...wie denn auch diesem
Buch bisher gegangen. Es haben wohl viele sich dran versucht,
aber bis auf den heutigen Tag nichts Gewisses aufgebracht;
etliche viel ungeschickts Dinges aus ihrem Kopf
hineingebräuet." (ebd.)
Nichtsdestotrotz hat er nun -
1530 - eine Verstehensidee gefunden, die er den "nächsten und
gewissesten Griff" nennt (6. Absatz, S. 221 bzw. 219) und von
der er dann aber doch wieder - relativierend - aussagt, sie sei
entweder "gewiss" (= sicher) oder aber wenigstens
"unverwerflich" (soll hier wohl heißen: widerspruchsfrei, also
denkmöglich); ebd.
Luther ist ein großer
Systematiker, verfügt über ein begrifflich scharfes Denken und
die scholastische Methodik war ihm gewiss bekannt, wenn nicht
sogar geläufig. Und so teilt er die (biblischen) Weissagungen
zu Beginn in drei Kategorien ein:
a) Auslegung/Darlegung ohne Bild
(2. Absatz, S. 220 bzw. 218)
b) Bild mit Auslegung (3. Absatz;
so z.B. auch das von ihm nicht genannte Gleichnis vom Sämann im
NT)
c) Bild ohne Auslegung (4.
Absatz)
Zur dritten Kategorie rechnet er
die Offenbarung des Johannes, und er stellt fest:
"Und solange solche Weissagung ungedeutet
bleibt und keine gewisse Auslegung kriegt, ist's eine
verborgene, stumme Weissagung und noch nicht zu ihrem Nutz und
Frucht gekommen, den sie der Christenheit geben soll, wie denn
auch diesem Buch bisher gegangen." (5. Absatz, S. 220 bzw.
218).
Luther stellt damit fest, dass seine Haltung von 1522 nicht aufrecht erhalten bleiben kann, denn wenn uns schon Weissagungen (Bilder) gegeben werden, dann muss in ihnen auch ein Geist, ein Verstehen liegen und dann muss auch eine Auslegung vorgenommen werden, um uns diesen enthaltenen Geist aufzuschließen. - Seine Herangehensweise an den Text hat sich damit im Verlaufe von 8 Jahren umgekehrt:
1522) Ich verstehe nicht -
Es ist kein Geist darin - Es ist keine christliche
Schrift
1530) Es ist
eine uns Christen gegebene Schrift - Es muss ein Geist darin
liegen - Es muss ein Verstehen gefunden / eine Auslegung
vorgenommen werden
Und wenn man sich nun im
Verstehen und Deuten von außen nach innen herantasten will, so
muss man vom Augenscheinlichsten, vom Markantesten und
Allgemeinsten ausgehen, um von hier aus dann weitersehen und
ins Detail gehen zu können. Dieses Augenscheinliche aber ist:
Die Offenbarung stellt "künftige Geschichten", konkreter:
"Trübsale und Unfälle der Christenheit" (6. Absatz, S. 221 bzw.
219) dar oder kurz: die Zukunft bzw. das Schicksal des
Christentums in der Welt in ihrer Geschichte.
Und jetzt ist sich Luther dessen bewusst, dass er selbst ja
nicht an den Anfängen des Christentums steht, sondern dass
bereits 1500 Jahre Kirchengeschichte ins Land gegangen sind,
und daraus folgt, dass uns (= seiner Zeit) bereits ein
gutes Stück Kirchen- und Christentums-Geschichte vorliegt.
Und dies nun ist der Lutherische Griff oder Zugriff
auf die Offenbarung des Johannes: Christlich wird ja
grundsätzlich geglaubt, dass das Wort (Gottes) zur Wirklichkeit
(der Menschen) werden wird, und daher liegt uns (= seiner Zeit)
doch schon ein Überschneidungs-Zeitraum vor, eine
Schnittmenge zwischen Theorie (Offenbarung) und Praxis
(Kirchengeschichte).
Also kann und muss jetzt versucht werden, die bereits
geschehene Kirchengeschichte in der Offenbarung zu
verifizieren und also - analog zu Kategorie
b) - zu den Bildern
(der Offenbarung) die Auslegung (der Kirchengeschichte) zu
finden. Wenn Kant über die Metaphysik feststellt, sie nehme
keinen "Probierstein der Erfahrung" an, so könnte man -
lutherisch denkend - über die konkret-christliche Geschichte
(die aus einer faktisch-irdischen Volksgeschichte
hervorgegangen ist) umgekehrt sagen, sie nehme sehr wohl einen
solchen Probierstein an, allerdings mit dem Handicap, dass
hierbei zugleich eine "Übersetzungsleistung" vorgenommen werden
muss, nämlich von den Offenbarungs-Bildern zu den
Geschichts-Tatsachen. Und als Beispiel in dieser
Hinsicht können wir betrachten die (weiter oben von mir
vorgenommene) Identifizierung der biblisch formulierten
"Macht des Irrtums" (2 Thess. 2,11) mit der
neuzeitlich-modernen Etablierung des Materialismus und
Atheismus.
Und damit kommen wir im Prinzip wieder
am Anfang unserer Website heraus, nämlich bei Hölderlins
Aussage, es müsse der "feste Buchstabe gepflegt" werden, wenn
das "Bestehende gut gedeutet" werden können soll, womit er ja
(glaubenskonform) behauptet: Wir können unsere Geschichte
(der Menschheit) nur über die Bibel verifizieren. Und
insofern aber in unserer Zeit die Bibel zum Altpapier
gegeben worden ist, haben wir den Maßstab unserer
selbst mitweggeworfen, indem wir sie als solchen nicht
anerkennen wollen. - Diese Aussage gilt freilich nur für
Gesellschaftsteile, aber es steht ja auch noch die
biblisch angekündigte Weizen-Spreu-Lese an, die wohl manchen
von uns überraschen würde, wenn er das Sardes-Erwachen
miterleben könnte, anstatt im materialistischen
Dämmer- oder Einflüsterungs-Schlaf zu verbleiben. - Ich
schlage vor, wir nehmen einmal eine statistische Befragung
unserer Medien vor, die uns "die Wahrheit" tagtäglich
feilhalten zu können meinen und deren Kerngeschäft ja "die
Anderen" sind und deren Befragung um ihre
Meinung: Glauben sie (diese Medien selbst) noch oder sind sie
atheistisch-materialistisch eingestellt? Ich finde, unsere
Medien sollten gesellschaftlich Farbe bekennen müssen, damit
diejenigen, die sie nutzen, entscheiden können, ob sie sie
überhaupt weiter nutzen oder lieber fallen lassen und
anderweitig Nachrichten- resp. Botschafts-Orientierung suchen
wollen.
Aus dem Glauben heraus gesehen besitzen wir ja momentan ein
ziemliches Larifari-Nachrichtenwesen, in welchem jeder alles
als wahr und wichtig behaupten kann, weil keine klare
(ontologische) Orientierung vorhanden ist. Und so ist das
Nachricht-Kriterium unseres Journalismus das
äußerlichst mögliche: "Wo ist etwas passiert?" Das
Wort "passieren" hat aber eine doppelte Bedeutung, nicht nur
"geschehen", sondern auch "vorübergehen", und im christlichen
Glauben ist es vorhergesagt, Christus werde an unserer
Gegenwart vorübergehen, werde hierbei "die Geretteten
mitnehmen", und die Welt wird nicht realisieren können, dass
etwas (oder jemand) passiert sei.
Der von Luther gefundene klare Ansatzpunkt für eine Deutung oder Auslegung des letzten unserer Bücher ist: Die Offenbarung ist ein prophetisches Wirklichkeits- und Geschichtsbuch, das folglich auch geschichtlich verifiziert werden muss.
Und so spricht der 6. Absatz (S. 221 bzw. 219) dann das Entscheidende aus: Durch den Gang der Dinge bleibt die "künftige Geschichte" nicht eine solche, nicht theoretisch, sondern liegt uns peu a peu als "vergangene Geschichte" praktisch und faktisch vor, im "Perfekt" ("vollendet"). Also müssen wir Christen hergehen und unsere Eigen-Geschichte mit der Offenbarungs-Bilder-Geschichte konkret zusammenzusehen versuchen und vergleichen und prüfen, ob sich nicht die Eine auf die Andere "reime".
Die Spiritualenbewegung des Mittelalters (und
Geschichtstheologie des Joachim von Fiore) kann damit nicht
verglichen werden, denn sie nimmt ja mehr oder weniger nur drei
Einzelpunkte (oder gar nur einen einzigen, "gegenwärtigen") als
"Fakten" auf: "VATER / AT / Israel", "SOHN / NT /
Christentum" und "GEIST / ewiges Evangelium /
Franziskanerspiritualen". - Das Verfahren an sich ist
richtig, nur allzu pauschalisiert und schematisiert, ohne
Überzeugungskraft und "subjektiv perspektivisch
verzeichnet"...
...was ja auch Lessings Kritik daran war, der uns diese
kernchristliche Wort-Wirklichkeits-Methodik viel
konkreter vorführt als geistesgeschichtliche Wirkung der
Bibel in der Geist-Genese der Menschheit.
Luther steht geistesgeschichtlich dazwischen, und er versucht
ab dem 7. Absatz seiner Vorrede von 1530 eine konkrete
Ereignis-Verifizierung im kapitelweisen Durchlauf durch die
Offenbarung des Johannes.
Bei Lessing ist solche Offenbarungs-Konkretisierung wiederum
eher zurückgenommen, indem er von einem "Stampfen und Glühen am
letzten Blatte des Elementarbuches" spricht (EdM § 68).
In der Darstellung des Anthroposophen in seinen Vorträgen "Die
Apokalypse des Johannes" (GA 104) ist sie dann umso stärker
geschichtlich ausgezogen, wobei hier nun eine
"Gegenwarts-Selbstrelativierung" durchgeführt ist (durch
Anwendung oder Darlegung esoterischen oder
Eingeweihten-Wissens, das von höheren, weiter blickenden
Geistwesen stammt). Unsere ideenlos-exoterische
Gegenwarts-Monopolisierung ist darin also überwunden und eine
echte Zeit-Perspektivik hinter der menschlichen
Subjekt-Ebene gewonnen.
f) Luthers "Fehler": Er bedenkt noch nicht die Wirksamkeit des Heiligen Geistes in der Zeit
Wir
erkennen Luthers Fehler, wenn wir die Offenbarung des
Johannes mit dem Johannesevangelium
zusammenhalten (möglicherweise beide entstanden gegen Ende des
ersten Jh.): Die Offenbarung nimmt uns die künftigen
Ereignisse vorweg, allerdings "ohne Worte oder Auslegung,
mit bloßen Bildern oder Figuren" (vgl. 4. Absatz, S. 220 bzw.
218), und das Johannesevangelium sagt uns, der
Beistandsgeist werde uns auch das Künftige mitteilen (Joh.
16,13f). Und wenn wir beide Sachverhalte/Aussagen
zusammennehmen, so kommt die Aussage oder der Leitsatz heraus:
"Der Beistandsgeist wird der Christenheit durch sein Wirken in
der Zeit die bloßen Bilder der Offenbarung auslegen, also ihrem
menschlich-irdischen Verstehen zugänglich machen."
Der Luther-Fehler also ist der allgemein-menschliche, dass die
menschliche Vernunft "nicht warten kann", sondern meint:
"Alles mögliche Verstehen muss schon hier und
jetzt möglich sein. Und wenn es hier und jetzt nicht
möglich ist, dann wird es prinzipiell unmöglich sein."
Kant macht später dann ja denselben Fehler, indem er meint, in
seiner Zeit die Erkenntnis-Kompetenz der
menschlichen Vernunft ein für allemal ausloten zu können.
- Man kann Kant den Fehler insofern nachsehen, als er mit dem
Glauben und dem Christentum und dem Heiligen Geist nicht (mehr)
viel anfangen kann. Er ist ein Aufklärungs-Deist seiner Zeit,
das entschuldigt ihn ein Stückweit, und "christlich" wird man
sagen müssen: Von einem solchen Kind seiner Zeit war einfach
nicht mehr Bibel- und Wirklichkeits-Sinn zu erwarten. - Und
Luther muss man denselben Fehler (250 Jahre früher) insofern
nachsehen, als die "Aufmerksamkeit auf sich selbst" im 16. Jh.
noch nicht soweit gediehen war, dass man "Veränderungen im
eigenen Denken" als "Veränderungen des menschlichen Geistes in
der Zeit" hätte wahrnehmen und deuten können (wie seine
Verstehens-Kehrtwende von 1522 zu 1530). Hinzu kommt, dass das
16. Jh. ja noch am "nachmittelalterlichen Beginn" steht: Der
Mensch ist gerademal dabei, den Raum der Ewigkeit zu verlassen
und sich in die "Neuzeit", ins Werden
hineinzubegeben.
Wir müssen also lernen und
geistesgeschichtlich anerkennen, dass unser
Vernunftvermögen selbst ein Werden, eine Genese
durchläuft, und zwar dann und insofern, wenn und als der
Beistandsgeist selbst mit seiner Erkenntnis-Befruchtung in uns
greift. Als "starre Größe mit auslotbarer Reichweite" mag unser
Vernunftvermögen aus (halb-)materialistischer Sicht erscheinen.
Das ist aber nicht die christliche Perspektive des Wirkens des
Geistes in der Zeit. Christlich-heilsgeschichtlich müssen wir
uns sagen: "Wir vermögen grundsätzlich mehr zu erkennen, als
wir schon hier und jetzt erkennen, denn über und mit und in uns
wirkt der Beistandsgeist - unser Geschichts- und
Geistesgeschichts-Joker." Wir müssen einfach nur das Wirken des
Geistes in der Zeit abwarten, oder ich könnte auch sagen: Wir
müssen lernen, uns christlich-sozial nicht nur "im Raum" (und
in unserer Umgebung) zu verhalten, sondern eben auch "in der
Zeit", so dass wir in unser potenzielles,
christlich-befruchtungsfähiges Vernunftvermögen auch den Geist
unserer Vorfahren und den Geist unserer Nachkommen
miteinbeziehen müssen, anstatt egozentrisch oder egoistisch
behaupten zu wollen: Mein Jetzt-Erkenntnisvermögen =
das Menschheits-Erkenntnisvermögen.
Und folglich muss auch das verstehende Durchdringen der
Offenbarung des Johannes nicht sofort gelingen, vielmehr: Es
kann gar nicht sofort gelingen, sondern es kann und wird und
muss dauern, dauern bis zum geistes-, welt-, kirchen- und
heilsgeschichtlichen Reifungszeitpunkt, den nicht wir
bestimmen, sondern der bereits über uns verfügt ist.
Folglich wird man auch die konkrete Luther-Sichtung der
Offenbarung (und der Kirchengeschichte) nicht als eine
Peinlichkeit betrachten müssen, und schon gar nicht als einen
Fehler, denn sie ist und war kein "Fehler". So wie denn auch
das Kind keinen "Fehler" macht, wenn es bei den ersten
Gehversuchen stolpert und hinfällt. Es fehlt ihm lediglich noch
an Übung, um die "ungeheuere Neuerung seiner selbst" - seine
freie Orientierung im Raume - bewältigen und umsetzen zu
können. Und da wir als Elter um dieses "Neue seiner selbst"
wissen, reichen wir ihm auch eine helfende Hand, die wir dann
sachte peu a peu von ihm zurückziehen werden, damit es seine
Selbst-Ständigkeit im Raume erlangen, empfinden und
sich daran freuen kann.
Analog haben wir Erwachsenen erst noch zu erlernen, uns
selbst in der Zeit auszutarieren. Und als Christen glauben
und wissen wir, dass da auch ein unsichtbarer Elter um uns ist,
der uns solange Bei-Stand leisten wird, bis wir zum
Selbst-Stand gekommen sein werden. Wir müssen nur die bereits
ausgestreckte Hand ergreifen, oder umgekehrt: Wir müssen nur
unsere Hand ausstrecken, damit er sie ergreifen und uns
erfassen kann. Das ist schon das ganze "Werk", das wir tun
müssen, als Christen, nur ist es ein Werk im Geiste
und ein Werk des (auch unseres) Geistes.
g) Unser möglicher
Wirklichkeits-Fehler: Versäumen einer neuen
Grundsatzentscheidung der Christenheit für ihre
Zukunft
Wir befinden uns heute 500 Jahre
nach Luther, und ich bin der Meinung, nicht nur die
Schnittmenge zwischen Kirchengeschichte und Offenbarung des
Johannes ist größer geworden, sondern auch unsere christliche
Sehschärfe, wenn wir anerkennen wollen, dass in den vergangenen
500 Jahren seit Luther nicht "im Wesentlichen nichts"
mit der Menschheit und Christenheit passiert sei. Es besteht
nun eine (neue) Aussicht auf eine auf uns zukommende wahre,
christliche Aufklärung unseres Geistes, die allem "Geist der
Welt" den Rang ablaufen kann und die uns in Richtung
Himmelreich führen könnte...
...aber mit dem Führen ist das so eine Sache. Und mit einem
Geführtwerden haben die Deutschen reichlich schlechte Erfahrung
gemacht, hinreichend schlechte Geschichtserfahrung. Man kann
sich natürlich einfalls- und alternativlos stellen.
Es wird in jedem Fall die Wirksamkeit des Heiligen Geistes
beweisen, so oder so. Denn die (kat-holische) Christenheit
verfügt nun einmal über einen Geschichtsjoker, der ein
Windwehens-Prinzip pflegt. Und als Christ ist man m.E. gut
beraten, wenn man sich zuzeiten Grundkenntnisse der
Geschichts-Thermik erwirbt, ganz nach Lk. 12,57 (vgl. oben Kap.
34), ein Bibelvers, der uns grundsätzlich vor den Kopf stößt
(und den wir daher gerne ignorieren wollen), weil wir
allzugerne prinzipiell behaupten möchten, dass wir
schlechterdings nicht imstande seien, das Zeitliche und
Geschichtliche im Innern ausmachen zu können.
Die Geschichts-Thermik liegt in der Hand des Heiligen Geistes,
und als Christ muss man sich über die Planungen des Parakleten
nicht den Kopf zerbrechen, besser darüber, ob man selbst
wirklich Echt-Christ sei und nicht etwa Nominal-Christ, an dem
die entscheidenden Wirklichkeits-Geschehnisse vorbeilaufen
werden.
***
Nun müssen wir nur noch berücksichtigen, dass wir den Maßstab selbst erst noch richtig entziffern lernen müssen. Es ist ja selbst ein Vorgang und Bestandteil der Heilsgeschichte. Wir haben also an der Bibel noch so einiges zu entdecken, wobei wir jetzt wissen: Das, was wir in der Bibel entdecken, entdecken wir gleichzeitig oder parallel in uns selbst, in unserem (erst werdenden) Geist, in unserer heilsgeschichtlich immer noch erst werdenden Kirchenwirklichkeit.
Und so, wie der einzelne Christ sich ins rechte Verhältnis zur Kirche setzen muss, muss sich auch die Kirche ins rechte Verhältnis zum einzelnen Christen setzen: Beide haben einander etwas zu geben, und eine Gesellschaft oder Gemeinschaft oder Gemeinde ist dann intakt, wenn man sich gegenseitig zu- und aufeinander hinhört. Dann ist das Verhältnis zwischen Individuum und Allgemeinheit in der Ordnung. Paulus hat dies im 1. Korintherbrief näher ausgeführt (1 Kor. 12, 6-7):
„Es gibt verschiedene Kräfte, die wirken, aber nur den einen Gott: Er bewirkt alles in allen. Jedem aber wird die Offenbarung des Geistes geschenkt, damit sie anderen nützt.“ (Einheitsübersetzung)
„Und es sind verschiedene Kräfte; aber es ist ein Gott, der da wirkt alles in allen. Durch einen jeden offenbart sich der Geist zum Nutzen aller.“ (Lutherbibel)
Hier beide Übersetzungen
zitiert: Einheitsübersetzung © 2016
Katholische Bibelanstalt GmbH und
Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016
Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart,
externer Link: https://www.bibleserver.com/EU.LUT/1.Korinther12,
abgerufen am 06.05.2024.
Die Bibel als Wort der Wirklichkeit misst die Kirche als Umsetzung des Wortes in die Wirklichkeit. Das Wort selbst ist aber ein zukünftiges, das die Wirklichkeit der Zukunft bereits vorwegnimmt.
***
Man könnte also versucht sein zu sagen, die katholische Auffassung, die „Tradition“ neben der „Bibel“ als maßstabsrelevant einzustufen, sei schon richtig. Nur ist dies noch schief, noch nicht klargesehen. Das Falsche daran ist, dass "die Tradition“ als „die Kirchenwirklichkeit“ genommen wird, gleichsam synonymisiert wird. Falsch deshalb, weil „Tradition“ ein „Blickwinkel“ ist, eine Blickrichtung, nämlich der Blick zurück. Die „Kirchenwirklichkeit“ ist aber selbst keine Konstante, sondern eine Variable. Sie ist die Bewegung von der Sündenwirklichkeit zur Heilswirklichkeit, und diese Bewegung hat die Kirche Jesu Christi erst zu durchlaufen. Evangelium und Bibel selbst haben also die gegenteilige Blickrichtung nach vorne, den Blick nach vorne. Richtiger wäre daher, „Zukunft“ neben die „Bibel“ zu stellen, also: Bibel und Zukunft. Denn wenn wir setzen: „Das Alte ist das Richtige und Gute“, dann heben wir hierdurch das Evangelium als Evangelium auf, wir neutralisieren oder vernichten es, denn wie sollte es nun noch Neues bringen und (vielleicht noch bestehende) Sünde beseitigen können?
Der Terminus „Tradition“ ist auch deshalb schlecht, weil wir Sündentradition und Heilstradition nicht klar voneinander scheiden können. Was soll das denn sein – Heilstradition? Es ist das heilsgeschichtliche Sich-Herabsenken des Geistes in die irdische Wirklichkeit und insbesondere in die Kirchenwirklichkeit. Dieses Herunter-Kommen ist für uns eine Unbekannte, die nach und nach zu einer Bekannten erst werden soll und kann, weshalb die Bibel auch so vielfältig von „neuen Namen“ spricht. Die römisch-katholische Haltung scheint dahin zu gehen zu sagen: „Wir wissen schon, was das ist – Heil. Und deshalb können wir auch alles schon richtig beurteilen. Und deshalb kann auch berechtigterweise Zensur geübt werden, weil wir das Maß schon kennen und haben“ usw.
„Tradition und Bibel“ ist falsch, weil es in die falsche Richtung blickt. „Bibel und Zukunft“ ist prinzipiell richtig, weil es in die richtige Richtung blickt. Weil wir aber Ziel und Endgestalt noch nicht ausmachen und auch nicht die Veränderung unserer selbst absehen können, ist diese Begriffskombination auch noch unzureichend.
Setzen wir daher besser „Bibel und Gegenwart (gegenwärtige Kirchenwirklichkeit)“, aber inklusive des Reformations- oder Umwandlungs-Prinzips, das uns anmahnt, in uns selbst empfänglich und offen zu bleiben, offen für ein Neues und noch Unbekanntes. Dann haben wir die Möglichkeit, den sichtbaren Gang unserer Wirklichkeit kontinuierlich mit dem Bibelwort zu vergleichen, und also das Bibelwort in unsere Wirklichkeit hineinzulesen und gleichzeitig umgekehrt unsere Wirklichkeit aus dem Bibelwort herauszulesen. Dann bleibt uns - sozusagen hegelisch gesprochen - das reine Zusehen, wie das heilende Wort nach und nach rettende Wirklichkeitsgestalt annehmen kann und wird.
Dann müssen wir nicht mehr zwanghaft zurückblicken, um die Kirchenwirklichkeit (noch irgendwo in der Vergangenheit) finden zu können, weil die wahrhafte Kirchenwirklichkeit aus unserer modernen Wirklichkeit gar nicht aussteigen muss, sondern im Gegenteil ganz und gar in sie hineinsteigen und sie sodann sogar transzendieren kann. Der gläubige Christ muss sich nicht von der Welt zurückziehen, er ist nicht in der Defensive, sondern er kann – verstehend – die Welt durchdringen, egal welche Form sie auch annehmen mag. Denn sein (Glaubens-)Blick entspricht dem Heilsgeschichtsgang der Dinge, zumindest sollte er es.
***
Das Grundproblem des christlichen Glaubens überhaupt, auch in der Moderne, ist nicht der Glaube an sich, sondern unser Verstehen der Welt- und Wirklichkeitsentwicklung. Der Glaube beginnt dann zu schwinden oder sich aus der Welt und Wirklichkeit zurückzuziehen, wenn unser Verstehen nicht mehr ausreicht, so dass es die Welt und Wirklichkeit nicht mehr einholen und nicht mehr umfassen kann. Wenn aber der Glaube des Christen (an die Übereinstimmung von Wort und Wirklichkeit) feststeht, als Grundsatz-Konstante, dann kommt es nur darauf an, all seine Vernunftkräfte zusammenzunehmen, um die Geschichtsentwicklung, wie auch immer sie aussehen mag, als kontinuierliche Fortsetzung der heilsgeschichtlichen Wirksamkeit des Geistes zu verstehen und zu durchdringen. Denn im Glauben muss sich der Christ sagen: „Auch wenn es mir unglaublich erscheint, unsere Wirklichkeitsentwicklung muss im Sinne der Heilsgeschichte einen Sinn ergeben können. Der Sinn ist da, auch wenn es meinem Verstehvermögen schwerfällt, geistig zu folgen. Also muss ich, je nach Veränderung dieser unserer Wirklichkeit, mein Verstehen der Heilsgeschichte als solcher immer wieder neu anpassen. Und wenn eine „Reformation“ passiert, dann muss ich versuchen, sie im Sinne der Heilsgeschichte zu denken. Und wenn ein „Atheismus“ und „Materialismus“ passieren, dann muss ich versuchen, sie im Sinne der Heilsgeschichte zu denken“ und insbesondere nochmals neu in der Bibel nachsehen und nachlesen, ob sie nicht schon etwas Sinnvolles und Aufschlussreiches darüber, über die Gegenwartsentwicklung in sich enthält...
Dies genau habe ich mit diesem Gesamttext hier versucht: eine mögliche Denkrichtung im Groben aufzuzeigen, die selbst noch unsere desolate Gegenwart heilsgeschichtlich denkbar macht. Hierbei ist auch sichtbar geworden, dass diese Heilsgeschichte selbst womöglich wirklich Spitz auf Knopf steht – weil: die Menschen, speziell die Christen, es an der nötigen Sorgfalt, am nötigen Engagement, an der nötigen Vernunftentfaltung fehlen lassen, indem sie sich weiterhin für ganz und gar „ohnmächtig“ halten und einfach nicht begreifen wollen, dass ihnen „Macht“ gegeben ist, Macht zum Selbst-Machen-Können ihrer Wirklichkeit und Zukunft, freilich im Sinne der Heilsgeschichte, die den Menschen ja in seine Freiheit führen möchte.
Und so mag der Himmel hier und heute fürbass über eine Menschheit staunen, die ihren Handlungsspiel- und -freiraum im Nichts verpuffen lässt, weil sie in ihrer Hoch- und Hyperaktivität ein einziges versäumt und vergisst: Selbsterkenntnis. Und diejenige unter allen Forschungsrichtungen des Menschen, die es ihr würde oder hätte sagen können, die Philosophie, hat sie als unerheblich und unergiebig aus sich eliminiert…
***
Das Petrus-Felsen-Wort Jesu können wir als „janusköpfig“ bezeichnen, abgeleitet von Janus, dem (erst römischen, noch nicht griechischen) Gott „des Anfangs und des Endes, der Ein- und Ausgänge, der Türen und der Tore“ (vgl. Wikipedia „Janus (Mythologie)/Bedeutung“ s.u.
Dieser Text basiert auf dem Artikel "Janus (Mythologie)" (externer Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Janus_(Mythologie) aus der freien Enzyklopädie "Wikipedia" (externer Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Hauptseite) und steht unter der Lizenz "Creative Commons CC-BY-SA 4.0"(externer Link: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/legalcode.de). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren des Artikels "Janus (Mythologie)" verfügbar, dort unter dem Reiter "Versionsgeschichte". Abrufdatum der Artikel: 25.03.2024.
Wir könnten auch sagen: Jesus gibt seiner Kirche in diesem seinem Grundsatz- oder Prinzipien-Wort (Mt. 16,18f) ein Spieglein-an-der-Wand oder auch ein Bildnis-des-Dorian-Gray (das auch nicht hält, was es verspricht).
Blickt die Kirche mit kirchengeschichtlich erstrahlendem Petrus-Bild hinein…
…so lautet es: „Du, Petrus, bist der Grundstein. Auf dich kann ich bauen. Du bist verlässlich.“ Dies ist der Blick der Petrus-Tradition, die Auslegung der römisch-katholischen Theologie, die innerlich-seelisch ist und doch, geistig gesehen, äußerlich bleibt, nicht richtig in den eigentlichen Gehalt hineingeht und nicht hineinkommt.
Sie lebt von der Vertrauenszusage, von der von dem Gott gewährten Seelenstärkung, sieht sich zum Hoffnungsträger gemacht und kann gar nicht anders, als zu der Empfindung kommen: „Niemals will ich dieses Vertrauen enttäuschen. Auf mich ist gesetzt. Und so will ich auch ans Handeln gehen und eisern, steinern, felsenfest dabeibleiben, komme da, was da wolle. Nein, niemals will ich das in mich gesetzte Vertrauen enttäuschen. Ich nicht. Nicht ich…ich…ich…“ Diese Theologie trägt eine seelische (Felsen-)Konstante in sich, und darüber vernachlässigt sie das Geistige, verliert es aus den Augen, obwohl es doch gerade dieses Geistige ist, das die christliche Kernsubstanz ist und den eigentlichen Auftragsinhalt ausmacht? Wir könnten auch sagen: Über der Beauftragung gelangt der Weide-Auftrag selbst ins Hintertreffen, verliert sich ins Nebensächliche und Unbewusste hinein…
Deshalb lebt gerade diese (Teil-)Kirche faktisch ein exzessives Sola-Scriptura-Prinzip, welches tendenziell sogar zum Sola-Sententia-Prinzip wird: „solus Tu-es-Petrus“. TU ES PETRUS – DAS IST DIE QUINTESSENZ! Der Rest ist Formsache, versteht sich von selbst, wird sich dann schon finden, kann abgewunken werden…
Zur Veranschaulichung können wir noch ein Hesse-Wort heranziehen:
„Es gibt nichts Erfolgloseres, als das Nachdenken über jemand, den man liebt. Solche Gedankengänge sind wie gewisse Volks- und Soldatenlieder, worin tausenderlei Dinge vorkommen, der Refrain aber hartnäckig wiederkehrt, auch wo er durchaus nicht passt.“
(Lektüre für Minuten, Nr. 524, S. 202, suhrkamp taschenbuch 7, 16. Auflage, Frankfurt am Main 1971)
Dieser Hesse-Satz mag schon richtig sein. Im Petrus-Fall ist es so, dass Petrus nicht über Jesus nachzudenken hätte, sondern darüber, ob seine vermeintliche Liebe zu Jesus denn wirklich eine solche sei?
Ein solches Nachdenken ist aber nicht vorhanden, und daher besteht der kirchengeschichtliche Refrain nicht in Petrus' Liebe zu Jesus, sondern in seiner Gemeinde-Beauftragung durch Jesus, im „Tu es Petrus“, und der Refrain wird zunehmend unstimmiger, je weiter Wirklichkeit und Kirchengeschichte voranschreiten. Und Ursache für die zunehmende Unstimmigkeit ist eine falsche Liebe zu Jesus, die sich partout weigert, sich als solche sehen und anerkennen zu wollen. Denn diese Liebe steht subjektiv in sich fest – felsen- oder zuzwick-fest und hat kein Augenmerk mehr für die Sache, um die es eigentlich geht.
Und jene Mehr-Liebe, die Jesus von Petrus erwartete und erhoffte, hätte sich kirchen- und geistesgeschichtlich erweisen und umsetzen müssen als Mehr-Glaube: nämlich mehr glauben zu können als alle anderen Gläubigen, dass Christus über den gesendeten Geist in der Welt wirksam ist und bleibt, egal, welches unansehnliche Aussehen diese Welt annehmen mag, - und zwar bis zu seinem Wiederkommen, welches dann erst den rechten Zeitpunkt des Weggehens von der Welt markieren wird.
Und einer wahrhaft christlichen Vernunft wird dieser Zusammenhang sichtbar sein und bleiben, zumindest über längere Zeiträume hinweg (mit vielleicht zwischenzeitlichen Durststrecken), so dass sie bis zum (Wieder-)Kommen Christi bestehen bleiben kann, so, wie "der Jünger, den Jesus liebte" und alle Jünger, die sich diese Mehr-Liebe oder diesen Mehr-Glauben bewahrt haben werden, um die Befreiungswirkung des Evangeliums mit unverminderter Kraft solange in die Welt hineinzutragen, bis von Höherer Hand her die Entscheidung fallen wird: "Jetzt ist es genug! Jetzt wird geerntet!"
***
Ist es nun Ironie der Kirchengeschichte (das ist: die Geschichte der Heraus-Gerufenen), dass der lateinische Satz „Tu es Petrus“ im Deutschen einen eigenen, aber anderen Sinn ergibt? Er steht innerhalb der Geschichte der Deutschen da wie eine kirchengeschichtlich uneingelöst bleibende Handlungsaufforderung an die Petrus-Nachfolger, die mindestens in ottonische Zeit zurückverweist, in eine beginnende Zeit machtpolitischer Rivalität zwischen Papst und Kaiser, zwischen "Geistlichkeit" und „Weltlichkeit“ (Stichwort "libertas ecclesiae", mit mutmaßlicher "Kreuzzugs"-Instrumentalisierung zu "christlichen" Zwecken)...
Muss man es nicht schallen und hallen hören durch die deutsche
Geschichte,
wenn nicht gar durch die europäisch-abendländische Geschichte?
"TU ES,
P E T R U S ! ! !
So tu es doch endlich, Petrus!
Warum nur tust du es denn nicht?
Warum weidest du meine Schafe nicht
und gibst ihnen nicht jene geistige Nahrung,
die sie so dringend brauchen auf ihrem
Geistes-Ge-
schichts-Weg und für diesen
Geistes-Geschichts-Weg,
damit sie für mein W i e d e r k o m m e n gerüstet sind,
allein schon, um mich w i e d e r erkennen zu
können,
und ich sie bereitet finden werde beim Wiederkommen,
so dass ich sie auch werde mit mir nehmen können
in das Reich Gottes oder des Geistes hinein,
dem i h r a l l e doch angehören
sollt,
M E I N E G E S A M
T E
M E N S C H -
H E I T?"
Erläuterung zur Textgestalt: Es handelt sich um ein sog. Wackelbild, dessen Wirkung durch Aufmerksamkeitsverlagerung zustande kommt - allerdings im geistigen Sinn. Die Petrus-Tradition wurde oben beschrieben als eine Schlussfolgerungs-Ouroboros-Schlange, die bislang die "christliche Mitte" vermissen lässt. Dieses "Christlichkeits-Loch" ist hier sichtbar gemacht als unsichtbare und vielleicht im Entstehen begriffene Johannes-Tradition des Geistes, die "die Mitte, die Kirche, den Geist" in sich fassen wird...
Blickt die Kirche aber mit kirchengeschichtlich erschüttertem, in sich fragwürdig gewordenem, ent-täuschtem Petrus-Bild hinein…
…so erscheint im Spiegel ein ganz anderer Petrus, der - so sieht man dann - allein schon in der Bibel in vielfältigen menschlichen Facetten erscheint, alles Mögliche an sich hat, aber keine Verlässlichkeit, Standfestigkeit, Zielstrebigkeit in seiner christlichen Geist-Genese, auch wenn er subjektiv von sich selbst glauben mag, sie zu haben, seinem Weide-Auftrag nachzukommen und die Kirche in heilsgeschichtlichem Sinne voranzutreiben, nun ja, zu verwalten...
Und deshalb muss man sich nicht wundern, wenn Christen kirchengeschichtlich entschieden haben, den petrinischen Narzissmus dieser Teilkirche nicht mehr länger mitzumachen und zu einer solchen Kirche nicht mehr dazugehören zu wollen, weil sie – so sagen sie sich aus ihrem zunehmenden verstehenden Durchdringen des Sinngehalts der Bibel heraus - unmöglich die richtige sein kann. Und deshalb ist die Kirche Jesu Christi aus dem eigenen Geist heraus zu suchen, immer wieder neu, immer besser, konkreter, wirklichkeitsnäher, solange, bis die Christen den "Brennpunkt ihrer selbst" in ihrem ICH selbst (IesusCHristus) gefunden haben werden.
***
Und wir müssen uns kirchengeschichtlich fragen, ob mit und in der Reformation die lange verborgene Johannes-Tradition angefangen hat, in die Sichtbarkeit zu treten und sich aus dem Himmlischen heraus im Irdischen zu formieren? Eine Entscheidung dieser Frage hängt davon ab, wie diese neben die römisch-katholische Kirche getretene Kirche sich weiter und in die Zukunft hinein verhalten wird; ob sie das reformatorische Prinzip als konstitutives Element in sich beibehält resp. erkennt und bewusst aufnimmt und eine Wandlung des Geistes in sich selbst, also ihre eigene Fort- und Weiterentwicklung im Sinne der Heilsgeschichte, in sich zulassen und umsetzen wird. – Ich sehe dies auch als eine allgemeinchristliche und kirchengeschichtliche Verantwortung, die eben - im Zweifelsfall - dann andere übernehmen müssen, wenn die einen es partout nicht tun.
Und umgekehrt bleibt abzuwarten und zu beobachten, ob eine petrinisch geführt bleibende Kirche sich immer tiefer in ein falsches Selbstbild und in einen objektiven Kirchen-Irrweg verstrickt, vielleicht in Protest-Abgrenzung zu der neu entstandenen Kirche, die sie innerlich nicht anerkennen kann, weil sie ja der Überzeugung ist, „nichts und niemand könne Petrus jemals den Rang ablaufen“ – so der (emotional-unbewusste) „Seelentenor“ in ihr, der jeglichen (rational-bewussten) „Geisttenor“ weit aus dem Felde schlägt.
Wird dieser (uneingestandene) Protest-Weg von ihr beibehalten, ohne Hinterfragung der Richtigkeit und anschließender Korrektur des eigenen Selbstbildes (eine Frage, die auch schon Petrus sich selbst nicht stellte – Stichwort "Störfaktor"), so führt dieser Weg in etwas hinein, was man – irgendwann - vielleicht wird nennen müssen: Erwählungs-Verstocktheit. Es ist der Weg in eine erneuerte Erbversündigung, nur dass sie diesmal nicht natürlich, sondern willentlich zustandegekommen sein wird, aus "petrinischer Besserwisserei", weil "Petrus" nicht einsieht, warum er sich selbst de-zentralisieren, de-egozentrieren solle, seine Vormachtstellung aufgeben innerhalb der römisch-katholischen Weidefläche bzw. Schafherde, die sich ihm schlicht zu fügen habe...
***
Angesichts solcher Äußerungen könnte man mir nun den Vorwurf des Zwietracht-Säens machen wollen. Und deshalb reiche ich nun noch nach, weshalb ich „Provokation“ (Hervorrufen) und Ekklesia (die Herausgerufene) in einem wesenhaften Zusammenhang stehen sehe.
Man kann aus der Bibel listen und einander gegenüberstellen Jesusworte der Eintracht und Sammlung und Jesusworte der Zwietracht und Trennung. Ich nenne nur jeweils ein Beispiel:
„Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich; und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut.“ (Mt. 12,30)
„Ich bin gekommen, Feuer auf die Erde zu werfen; was wollte ich lieber, als dass es schon brennte! … Meint ihr, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf Erden? Ich sage euch: Nein, sondern Zwietracht.“ (Lk. 12,49.51)
Lutherbibel,
revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft,
Stuttgart und Einheitsübersetzung ©
2016 Katholische Bibelanstalt GmbH, externer
Link: https://www.bibleserver.com/LUT.EU/Matth%C3%A4us12,
externer Link: https://www.bibleserver.com/LUT.EU/Lukas12,
beide abgerufen am 06.05.2024.
Wir müssen beides zusammenbringen, und die große Frage (insbesondere angesichts des Faktums der Reformation) ist: Wie bringt man diese diametralen Aussagen auf rechte Weise zusammen?
Wir können die Fragen zunächst einmal formal beantworten:
Hilft uns das weiter? Wir werden auch die Kontexte berücksichtigen müssen, in denen diese Äußerungen gegeben werden. Das kann ich hier systematisch-umfänglich nicht leisten, behelfe mir daher mit einer Annahme zur Lösungsfindung: Es geht um den Unterschied „fleischlich – geistig“.
Wir stellen uns die Folgesätze der obigen Zitate einander gegenüber:
„Darum sage ich euch: Alle Sünde und Lästerung wird den Menschen vergeben; aber die Lästerung gegen den Geist wird nicht vergeben.“ (Mt. 12,31)
„Denn von nun an werden fünf in einem Hause uneins sein, drei gegen zwei und zwei gegen drei. Es wird der Vater gegen den Sohn sein und der Sohn gegen den Vater, die Mutter gegen die Tochter und die Tochter gegen die Mutter, die Schwiegermutter gegen die Schwiegertochter und die Schwiegertochter gegen die Schwiegermutter.“ (Lk. 12,52f)
Lutherbibel,
revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft,
Stuttgart und Einheitsübersetzung ©
2016 Katholische Bibelanstalt GmbH, externer
Link: https://www.bibleserver.com/LUT.EU/Matth%C3%A4us12,
externer Link: https://www.bibleserver.com/LUT.EU/Lukas12,
beide abgerufen am 06.05.2024.
Die „Spaltung“ bezieht sich auf das „Zusammensein im Fleische“, auf die „Herkunft aus dem Fleisch“, wodurch die Menschen bestimmte, untereinander differierende Selbstverständnisse und Nahverhältnisse haben, von welchen sie sich lösen sollen.
Die „Sammlung“ bezieht sich auf den Geist, auf die „Zukunft im Geiste“, das Zusammenkommen und Nahverhältnis im Geiste, wodurch die differierenden Selbstverständnisse asymptotisch auf das einheitliche Selbstverständnis aller Geistwesen im Geistsein zulaufen, etwas näher und konkreter betrachtet: alle Menschen in Christus, soll heißen: in dem Geist der Menschlichkeit und Menschheitlichkeit, über welchen alle Menschen miteinander verbunden sein sollten.
Die „Sammlung im Geiste“ wird uns noch näher erläutert durch eine „Defizitform“ der Geistigkeit, die dieser Sammlung und Einung entgegensteht: Die Lästerung gegen den Geist oder Sünde wider den Heiligen Geist kann nicht vergeben werden, und sie steht in Zusammenhang mit der Aussage, wenn Jesus im Geist Gottes Dämonen austreibe, sei das Reich Gottes schon gekommen (Mt. 12,28). Also: Das (heils-)geschichtliche Wirken des Geistes in der Welt muss als solches anerkannt werden und darf nicht bestritten, nicht verleugnet werden. Diese Verleugnung (der Wirksamkeit des Geistes in der Welt) ist die Sünde wider den Geist, und dieser Weg führt nicht aus der Sünde heraus, sondern neu und noch fester in sie hinein.
Wenn nun die Reformation eine Erneuerung der Kirche gebracht hat, so ist sie als ein Wirken des Geistes anzusehen, und dann war diese Spaltung richtig und im Sinne der Heilsgeschichte. Und dann muss das Auftreten Luthers gesehen werden als eine Provokation der bestehenden Kirche, die sich selbstkritisch der Frage hätte stellen müssen: „Stimmt, was er – dieser Anonymus - (ggf. Neues) sagt?“ Damit ist der christliche Geist herausgefordert, sich Rechenschaft über sich selbst abzulegen und über die christlichen Dinge neu und ggf. nun anders zu denken. Und wenn sich im Zuge der Reformation die Kirche neuformiert hat (zumindest in einem Teil der Christenheit), so ist durch die „Provokation“ die „Ekklesia“ (die Herausgerufene) in sich fortgeschritten und eine neue geworden, die sich der „Wahrheit des Geistes“ ein Stück angenähert hat.
***
Das Gerufen-Werden der Kirche ist ja ein doppeltes: Sie wird aus der (sündhaften) Welt herausgerufen, und sie wird zugleich ins (sündfreie) Reich Gottes hineingerufen. Der Herausruf, als Anfang, liegt in Jesu Erdenwirksamkeit und der Evangeliumsverkündigung, der Hineinruf, als Ziel und Ende, liegt beim Geist (vgl. Offb. 22,17: „Und der Geist und die Braut sprechen: Komm!“; Lutherbibel 2017), den Jesus, oder auch der Vater im Namen Jesu, senden wird (vgl. Joh. 14,26; 16,7), oder näher noch: im kommenden neuen Jerusalem, das für eine Vergeistigung und ein Durchsichtig werden der Gesellschaftsverhältnisse steht.
Dazwischen liegt eine Aufmerksamkeitsverlagerung, weg von der fleischlichen Herkunft und hin zur geistigen Zukunft, eine Umkehrung, eine Umkehr, die den wesentlichen Gehalt der Kirchen- und Heilsgeschichte ausmacht. Und wer die Richtung auf den Geist und das Reich Gottes oder die Geistwelt gefunden hat, der wird in den Ruf des Geistes einstimmen (vgl. Offb. 22,17: „Und wer es hört, der spreche: Komm!“; Lutherbibel 2017), d.h. er wird die Sammlungs-Intention Jesu (und des Geistes und des Vaters) unterstützen und mitmachen.
Wir können damit die „Spaltung“ unserem Herkommen aus der Sünde und Sündengeschichte zuordnen, die „Sammlung“ hingegen dem Ziel unserer Vergeistigung im kommenden Reich Gottes, unserem Eingehen ins neue Jerusalem, das den neuen, geistigen, nicht sichtbaren oder übersinnlichen (und irgendwann: geistanschaulichen) Mittelpunkt der Menschheit bilden wird.
Wer also rechtmäßig spaltet, der löst alte, falsche Sündenverbindungen auf, und wer rechtmäßig sammelt, der unterstützt oder knüpft neue, richtige Heilsverbindungen.
Jesus und die Bibel wissen darum, dass eine Kampfsituation stattfinden muss und wird, ein Kampf um den Geist, den Christen für die Gesamtmenschheit (mit-)ausfechten müssen. Und wir können sogleich eine Doppelfrage hierzu aufwerfen. Die eine resultiert aus unserer fleischlichen Herkunft, die wir noch nicht abgestreift haben, die andere aus unserem Geist-Verständnis, soweit wir uns ein solches zwischenzeitlich schon erworben haben:
a) Mit welchen Mitteln darf, kann, soll, muss gekämpft werden?
b) Muss nicht „Gewaltfreiheit“ ein methodischer Minimalkonsens unter Christen der Gegenwart sein?
Und wir können antworten: Insofern das Christentum heute nicht mehr physisch bedroht ist, sind auch physische Mittel auf keinen Fall mehr indiziert.
Wir werden unsere Frage aber noch tiefer ansetzen müssen. Wenn der christliche Geist ein kirchen- und heilsgeschichtlich Werdendes und Resultierendes ist, dann kann die Frage letztlich nicht kontroverstheologisch geklärt werden, weil die beiden „christlichen Lager“ selbst noch „unterwegs“ sind. Zugleich können sich diese Lager trotzdem die Frage stellen, ob sie beide auf gleicher (Zeit-)Höhe stehen oder ob sie ein „Gefälle“ aufweisen? Aber selbst hier ist keine klare Definition möglich, und der Fehler einer voreiligen „Zielfixierung“ würde sich hüben wie drüben fatal und selbstvernichtend auswirken.
Die tiefere Frage lautet daher:
c) Wie soll denn überhaupt gekämpft werden, solange der heilsgeschichtlich erst zu erreichende „Standpunkt christlichen Geistes“ noch nicht erreicht resp. nicht bekannt ist?
Und damit wird sichtbar, dass unser eigentlicher Gegner in diesem Kampf um den Geist keine „Anderen“ sind, sondern wir selbst. Das Christentum kämpft nicht nur mit der Welt, sondern es hat auch mit und in sich selbst zu kämpfen. Die Kirche Jesu Christi muss den Sieg in sich selbst erringen, und der Sieg als solcher ist uns auch geoffenbart, nur leider nicht auch die Sieger und die Verlierer, die nur als Leerstellen oder mathematische Unbekannten hingestellt sind.
***
Und so scheint es, als käme das Christentum zuletzt wieder zurück zur Kampfsituation der Philosophen, die erkannt haben, dass sie selbst ihre allergrößten, schwierigsten, erbittertsten und subtilsten Gegner sind (zumindest sein müssten), allerdings nun mit dem gravierenden Unterschied, dass der Christ an der Bibel auch einen Kampfleitfaden erhalten hat.
Und so bleibt uns also nichts anderes übrig, als uns durch die Bibel hindurch und in ihren tieferen Sinn hinein zu kämpfen – dies ist der Kampf des Geistes mit sich selbst. Und das vielleicht Überraschende daran ist, dass unser eigentliches Kampfmittel, unser (zugleich kritisches und selbstkritisches) Erkenntnisstreben, unsere Verstehens- und Geist-Bemühung, zugleich das ist, was als Sieg und Resultat hierbei herauskommen soll: unsere dauerhafte Existenzausrichtung auf den Geist, im Erlernen des rechten Hinaufhörens und In-Seins. Unser Ziel ist unsere rechte Existenzausrichtung, nicht etwa eine dogmatische Fixierung ins Wort, die ja immer nur Methode und Weg festschreiben kann. Wir (und auch "Petrus") sollen ihn aber doch gehen, den Weg des Geistes, ihn nicht nur sagen?
Entsprechend formuliert die Bibel klipp und klar: Die Liebe zur Wahrheit wird den Menschen retten. Sie wird ihn schnurstracks ins Ziel hineinführen! Wer also den Kampf richtig führen will, der muss zuvor seinen Gegner als solchen auch richtig identifiziert haben – den eigenen Geist, der zugleich Kampfursache, Kampfmittel und Kampfziel ist; ansonsten führt er sinnlose Windmühlen-Kämpfe mit (anderswo vermuteten) Gegnern, die gar keine sind, und erringt Siege (außerhalb seiner selbst), die gar keiner ist.
Und wir können uns daraus nochmals eine (philosophisch-theologische) Definition unseres Wesens und Daseins ableiten: Der Mensch ist ein Geistwesen, das sich selbst als Gegenstand begreifen und sich selbst zum Gegenstand machen muss, um den Kampf mit und in sich selbst aufzunehmen, in der subjektiven Hoffnung und objektiven, höheren Erwartung, er werde daraus - mit höherer Unterstützung - als Überwindender/Sieger hervorgehen können.
***
Und geistesgeschichtlich zeigt sich nun folgendes Kuriosum unseres Daseins als animal rationale:
Setzen wir einmal die „geistliche Petrus-Tradition“ als religiös repräsentativ und federführend in der Gegenwart (so ihr Selbstverständnis), so haben wir hier: Leute, die führen wollen, aber nicht können. Und stellen wir ihr gegenüber Platon als Repräsentanten der weltlich auf der Höhe der Zeit stehenden „geistigen Forschungs- und Such-Tradition“ des Abendlandes (so das Selbstverständnis der Wissenschaft, na ja, sagen wir: zusammen mit der Philosophie); er hatte behauptet, niemand könne ein Gemeinwesen besser führen als die Philosophen, nur dass diese Sache leider einen Haken habe: Die Philosophen wollen nicht führen, obwohl sie es können, weshalb man sie ins politische Amt gleichsam hineinprügeln müsse.
So gesehen befindet sich unsere Menschheit, was ihren Geist betrifft, grundsätzlich in folgendem Dilemma: Es gibt Leute, die führen wollen, aber nicht können, und es gibt Leute, die führen können, aber nicht wollen.
Hinzu kommt, dass diese Leute, die sich ihrer Führungsaufgabe verweigern, wir wollen sie kurzerhand „die Philosophen“ nennen; hinzu kommt, dass die Philosophen durch ihre Praxis-Verweigerungs-Haltung in ein Prügel-Dilemma hineingeraten, nämlich zwischen denjenigen, denen sie – aus sozialen, zwischenmenschlichen Gründen - ihre „Theorie“ als Hilfe offerieren möchten, um gemeinsam mit ihnen aus der Höhle resp. der Wirklichkeits-Falsch-Wahrnehmung herauszukommen, die diese aber zurückweisen, gleichsam unter Prügelandrohung; und denjenigen, denen diese ihre „Theorie“ nicht genügt, sondern die darüber hinaus auch noch ihre „Praxis“ haben wollen, auch wiederum unter Prügelandrohung.
Dies wäre dann der miserable, desolate, scheinbar
unlösbare Schiefstand in der Moderne,
die bisherige Quintessenz unseres menschheitlichen
Geistes:
Die führungsbegabten Philosophen sind musisch-unsozial,
vielleicht spielerisch, der Betrachtung des Seins
hingegeben,
und sie überlassen die Geschicke des Gemeinwesens
weniger führungsbegabten Anderen,
als sei beides zweierlei: das „Sein im
Ganzen“, welchem die Theoretiker (Wissenschaftler)
zugewandt sind,
und die „Wirklichkeit unserer gesellschaftlichen
Existenz“, welcher die Praktiker (Politiker) zugewandt
sind.
Und ein Ausweg aus dieser Aporie wäre m.E. nur dann möglich, wenn die Philosophen im Verlaufe ihres Erkenntnisweges herausfinden würden, dass sie durch ihr Betrachten des Seins („Theorie“) ganz „von selbst“ ins Wirken der Wirklichkeit hineingeraten („Praxis“), und zwar deshalb, weil der Betrachter des Seins sich bereits im wesenhaften Bezug zur Wirklichkeit befindet, und zwar deshalb, weil das „Betrachten an sich“ schon die wesenhafte Tätigkeit des Geistes ist, der Geist aber die wesenhafte Seite der Wirklichkeit, und zwar genau dann, wenn der Spiritualismus wahr ist, keine bloße Theorie, sondern das Tun des Geistes selbst, die Praxis des Seins, der Seinsvollzug schlechthin.
Dann aber müssten wir sagen, dass sogar die Philosophen demjenigen unterliegen, was Hegel die „List der Vernunft“ nannte, die wir nun auch alternativ benennen können als das „Geheimnis des Geistes“: Wenn der einzelne, individuelle Geist in der Theorie tief genug ins Sein vordringt, muss er - logisch folgerichtig und zwangsläufig - in der Praxis seiner selbst herauskommen. Und da die kosmische Geistpraxis eine allgemeine ist, wird er also gleichzeitig bei sich selbst und auch in der kosmosozialen Geistwelt herauskommen. Er ist dann aus der Höhle des Irdischen geistig weggegangen, auch wenn er sich physisch noch darin befinden sollte.
Und dies ist nicht nur der Weg des platonischen Philosophen, sondern auch der Weg des sich verchristlichenden Menschen, nur dass die zu übertretende Schwelle philosophisch „Höhlenausgang“ heißt, christlich-theologisch „Himmelspforte“, was dann auch die Blickrichtung des Geistes hierbei umkehrt, denn der "(Höhlen-)Ausgang" definiert sich durch den "Blick zurück", die (Himmels-)Pforte durch den "Blick nach vorne", weg vom Alten und Vergangenen und Sündhaften hin zu einem Neuen und Zukünftigen und Sündfreien, vom Ursprung weg und zum Ziel hin.
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Und wir wollen uns noch den Widerspruch auflösen, dass Platon die Philosophen (und Wissenschaftler) zumindest als Halbegoisten dastehen lässt. Denn sie sind zwar darin sozial, ihre Erkenntnis gesellschaftlich teilen zu wollen, sie sind aber unsozial darin, das gesellschaftliche Leben einfach sich selbst zu überlassen.
Und zur Aufklärung ziehen wir heran, was wir oben feststellten: Hesses Satz „Die Praxis sollte das Ergebnis des Nachdenkens sein, nicht umgekehrt“ ist lebens- und gesellschaftsungerecht. Denn die Gesellschaft kann ja mit dem Leben nicht warten, bis die von ihr weggegangenen Philosophen erleuchtet zu ihr zurückgekommen sein werden. Und zugleich sehen wir jetzt auch, warum die Philosophen von der Gesellschaft zunächst einmal weggehen. Denn das Nachdenken hat ja den Sinn und Zweck, die Praxis zu verbessern. Und das tut es auch, immer wieder, mehr und mehr (sofern die Dinge gesellschaftlich richtig laufen). Und wir könnten nun unterscheiden zwischen einem Nah- und Kurz-Nachdenken der Politiker, z.B. auf ihren Parteitagen, aber auch in der Regierung und Opposition, was allerdings keine Beleidigung sein soll, sondern lediglich darauf Bezug nimmt, dass die Politiker unmittelbar im verantwortungsvollen Praxisprozess der Gesellschaft stehen (und deshalb Sofortlösungen anbieten können müssen); und zwischen dem Fern- und Lang-Nachdenken der Philosophen (und Wissenschaftler), welches vielleicht doch eine Art „Klausur“ erfordert, um einfach tiefer ins theoretische, betrachtende Denken hineinzukommen und nicht beständig durch Lebensnotwendigkeiten unterbrochen, abgelenkt und gehindert zu werden.
Und wenn es spiritualistisch gesehen richtig läuft (was aus christlicher Sicht unter der Wirksamkeit des Geistes möglich sein sollte resp. zu erwarten ist), dann kommen die Philosophen (resp. Wissenschaftenden) auch tatsächlich in eine tiefere Seins- und Wirklichkeitswahrnehmung hinein, was wir – äußerlich beschreibend – uns so verständlich gemacht haben, dass sie sich auf diese Weise im geistigen Differenzieren und Unterscheiden einüben und dadurch eine überdurchschnittliche Übungspraxis bzgl. geistiger Gegenstände ausbilden können. Und die Folge sollte und müsste sein, dass sie nun genauer wissen als die anderen, wie die Wirklichkeit selbst „funktioniert“, und folglich auch, wie die (erfolgreiche) Praxis anzusetzen sei. Vor allem aber – und das ist die „List der Vernunft“ oder das „Geheimnis des Geistes“ - muss man sie dann nicht mehr zur gesellschaftlichen Praxis prügeln, weil sie nun vielmehr von sich aus in die „Praxis“, ins Tun und Handeln und Wirken des Geistes und Seins mit hineingehen wollen, indem ihre „Theorie“ sie ins lebendig pulsierende Zentrum des Seins selbst hineinführt.
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Platonisch-akademisch schön und gut gedacht. Doch bleibt ihnen – den Philosophen - nun noch die „Kleinigkeit“ zu erledigen, zur Gesellschaft, die während dieser langen Zeit ihrer Abwesenheit durchwegs aktiv und handelnd war und mit den unsteten Wirklichkeitsverhältnissen nicht zu knapp zu kämpfen hatte und die daher geistesgeschichtlich tief enttäuscht worden ist von den musischen Philosophen in ihrem Müßiggang; nun bleibt den Philosophen nur noch die Kleinigkeit zu tun zurückzukehren und der im Stich gelassenen Gesellschaft beizubringen, dass ausgerechnet sie – die abwesend Gewesenen und praktisch Erfahrungslosen; dass ausgerechnet sie prinzipiell die besseren Praktiker seien, weil sie in ihrer Abwesenheit das Sein in der Theorie bis zum Ende durchlaufen konnten und daher – über die gesellschaftliche Nah-Praxis hinaus - nun auch wissen, was „fernkosmisch Sache“ ist, von welcher her die gesellschaftliche Nah-Praxis erst rechtmäßig geordnet und eingerichtet werden kann.
Und irgendwie scheint mir, kommt man, wenn man Platons verstreute Ideen zu einer möglichen „Geistesgeschichte der Philosophie und Menschheit“ spekulativ zusammennimmt, menschheitsgeschichtlich im biblischen Gleichnis vom verlorenen Sohn heraus, welches ja auch eine familiäre oder soziale Geistesgeschichte beschreibt (Sondergut Lk. 15)…
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Ich breche meine Ausführungen oder spekulativen Tastversuche im Lessingschen Sinn hier ab. Entweder sind es (christlich gesehen) „Irrlehren“, die ich aus mir selbst habe (bzw. von falscher Seite empfangen), oder es sind „Lehren“, die ich nicht aus mir selbst habe (bzw. von richtiger Seite empfangen), fein gewebte Fäden geistigen Seins, die uns in die Zukunft der Menschheit hinein weiterführen können.
Gerne möchten wir sehen können, dass einer, der von sich behauptet, unsere christliche Tradition zu repräsentieren, die Bibel auf unsere Wirklichkeit und Gegenwart zur Anwendung bringen kann, und außerdem imstande ist, auch mit "unseren" sonstigen menschheitlichen Traditionen, die ja auch dem Geist gehören, umzugehen und sich darin zurecht zu finden. Wir möchten von ihm den Eindruck gewinnen können, dass er „Tradition“ und „Traditionen“ lebendig in sich trägt, auch die Sündentraditionen versteht (vielleicht auch an ihnen teilhat, wie das Gros von uns oder auch alle ohne Ausnahme), und erst dadurch auch die Heilstradition als solche überhaupt erkennbar machen kann, um unserer Gegenwart einen glaubwürdigen, hoffnungsvollen, gangbaren Weg in eine (oder auch: die) Zukunft der Menschheit hinein in Aussicht zu stellen.
Dem Bruder Papst - Franziskus dem Lehrer der Christenheit - werde ich mit diesem Text hier wohl nichts Neues gesagt haben. Weil er doch mit dem Heiligen Geist so ganz eng steht, so sehr, dass er sein Zuhause nicht einmal verlassen muss, um ihn zu finden, ihn sogar auf das eigene Haus oder die eigene Wohnung festgelegt hat, um auf diese Weise die Eingebungen des Geistes ex cathedra vernehmen zu können, also sozusagen bequem im Sitzenbleiben erwartet, oder, na ja, eben halt abwartet und aussitzt…
…während ich selbst – Franz der Schüler des Geistes - mühselig in alle Welt hinaus muss, zumindest seelisch-geistig, ich – ein Niemand, wie einstmals Odysseus auf seiner Irrfahrt, bevor er nach Hause zurückkehren durfte -; in alle Welt hinein muss, um jeden Stein und jedes Wort, das ich finde, umzudrehen, und nicht nur einmal, besser mehrmals, um der tief verborgenen oder auch okkulten Tradition des Geistes in der Welt auf die Spur zu kommen, sie vielleicht ausfindig und auch allgemein zugänglich zu machen.
Der Singular ist schneller und flexibler als der Plural, zumal der Pluralis Majestatis, der an so Vielem so schwer trägt, dass er mehr und mehr in sich selbst unbeweglich werden muss. Doch hat er dieses Geschick sich selbst zuzuschreiben, wenn und weil er die helfen wollende und helfen könnende Geist-Kompetenz der Individuen in den Wind schreibt. Wie sagt Lessing:
„Und wie? wenn es nun gar so gut als ausgemacht wäre, daß das große langsame Rad, welches das Geschlecht seiner Vollkommenheit näher bringt, nur durch kleinere schnellere Räder in Bewegung gesetzt würde, deren jedes sein Einzelnes eben dahin liefert?“ (EdM § 92)
Externer Link zum Text: G.E. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, §92, Projekt Gutenberg-DE - https://www.projekt-gutenberg.org/lessing/erziehng/erziehn2.html, abgerufen am 25.03.2024
Es werden sich viele Singulare in Bewegung gesetzt haben müssen, wenn der wahre Plural, unsere Menschheit, in Bewegung kommen soll – diese Menschheit, die einfach nur passiv und hilflos zusehen kann, was immer mit ihr passiert, solange sich nicht ausreichend Menschen finden, Individuen, die sich – im Blick auf die Gesamtmenschheit - sagen: „Das bin ich“. Sie finden sich (noch) nicht, grenzen sich stattdessen von dieser ihrer Menschheit ab und wollen sagen und sagen auch: "Das bin ich nicht - ich bin etwas Besseres und Wertvolleres und Erhabeneres und rage doch wohl aus dem bloß Allgemeinen als ein Besonderes heraus". Wir könnten wohl anfangen, sie - diese Menschheit - als unser Eigenes mitzutragen und sie in uns selbst in Vorwärtsbewegung zu setzen. Wenn wir nur endlich unser Stiefkind "Menschheit" als "unser Eigen" annehmen wollten.
Halten wir - zusammenfassend und abschließend - den alles entscheidenden Unterschied, den Jesus im Jünger sein des Petrus und des Johannes erkennt, nochmals fest. Jesus spricht ihn in der „Liebesfrage“ als einen „Störfaktor“, den er in Petrus wahrnimmt, dreimal an. Er spricht ihn nur an, aber er spricht ihn nicht aus, denn dieses Aussprechen muss im Denken und Geiste des Petrus selbst erfolgen, so, wie man denn das Nachdenken auch ein Selbstgespräch oder Sprechen mit sich selbst nennen kann. Und wenn dieses „Selbstgespräch“ in der richtigen Weise erfolgt und lange und intensiv genug währt, so werden darin vermutlich früher oder später auch „Selbst“ und „Selbst“ auseinandertreten, werden also „in sich“ (in ihren Ichen) unterscheidbar, und das uns geläufige Denk-Verständnis als „innerliches Erkenntnis-Sprechen“ wird von selbst zum „Heruntergesprochen-Bekommen von Erkenntnis“, welches wir faktisch dann ein „Hinaufhören“ nennen können, auch wenn der Zeitpunkt der Wahrnehmung des heruntersprechenden Subjektes als solchen erst in der fernen Zukunft liegt, sobald der menschliche Geist sich ausreichend verdichtet und eine entsprechend subtile Wahrnehmungs- oder Unterscheidungsfähigkeit in sich selbst gefunden und erlernt haben wird.
Und so tritt der Beistands-Geist in den Geist des Menschen ein, und auf diesem unsichtbaren, überirdischen Wege, der seinen Anfang im Denken und Geiste des Individuums nehmen muss, ist dann auch die Wiederkunft Christi zu erwarten, das Türöffnen und Eintreten, nicht anders.
Das ist dann keine Schizophrenie und keine dissoziative Persönlichkeitsstörung, scheint mir, sondern in Wahrheit ein Fortschreiten des menschlichen Denkens und Geistes in seiner natürlichen (resp. heilsgeschichtlichen) Entwicklung. Denn dieses Denken hat zunächst einmal von sich selbst den Eindruck, es sei ein Eines, ein reines Sprechen des Denkenden ganz allein mit sich selbst, als könnten dann plötzlich und zufällig irgendwelche „Erkenntnisblitze“ in seine Einsamkeit hereintreten gleichsam aus dem Nichts heraus, und die man - aus gegenwärtiger, materialistischer Sicht - in keinster Weise kausal irgendwohin zurückverfolgen könne, es sei denn in Zufalls-Materieprozesse des Blubberns oder Blasenbildens.
Aber: Das Erkennen der Zweiheit im Denk- oder Geist-Gespräch, wobei ein Geist dem anderen Geist mitteilt, gehört wohl einer späteren, höheren Wahrnehmungsstufe an, wenn sich der menschliche Geist entsprechend in sich verdichtet haben wird, durch eine lange, reichliche Denk-Übung, so dass ihm Wahrnehmungen und Differenzierungen auch in sich selbst möglich werden, die zuvor schlicht „unsichtbar“ sind, nicht unterscheidbar und daher - offensichtlich - ratiowissenschaftlich abzulehnen, als sei das Wissen unserer Wissenschaft bereits rund und in sich fertig, so dass es durch "Neues" nicht mehr überrascht werden könne.
Wer freilich - mit Kant - ein mögliches Denk-Training verwirft, indem er meint, den Selbstauslotungs-Maßstab a priori zu besitzen, der wird ein Gehen-lernen-im-Geiste niemals zuwege bringen, und er wird glauben, es sei schlechterdings unerreichbar, spekulativ, antinomisch, wie das eigene momentane Herumstolpern im Geiste doch einwandfrei beweist, oder etwa nicht? Würde so aber nicht jeder Instrumental-Virtuose in seiner Anfangszeit "feststellen müssen", dass er sein Instrument "gar nicht spielen kann"? Und müsste er dann nicht später heilfroh darüber sein, wenn er zur rechten Zeit einen rechten Lehrer an die Seite bekommen haben würde, der ihm immer wieder Mut machte und ihn zum Üben und Weiterüben animierte und ihm sagte "Dein augenblickliches Nichtkönnen wird so nicht bleiben. Ich habe es selbst schon vor dir durchlaufen. Du kannst meiner Höher- und Voraus-Erfahrung trauen. Und den Beweis für die Richtigkeit meiner Aussage wirst du zu gegebener Zeit aus dir selbst heraus erbringen - wenn du nur schön weiter deine Etüden übst, solange, bis sich die Geläufigkeit, Fingerfertigkeit, Handlungsfähigkeit wie von selbst einstellt"?
Was also, wenn das, was das Universum äußerlich und scheinbar mechanisch zeigt, Verdichtungsprozesse, innerlich gesehen Dichtungsprozesse wären, so dass es überhaupt nur einen wahren Zugang zum Kosmos gibt und geben kann, nämlich den in sein Innerstes hinein, das womöglich musisch-künstlerischer Art ist, von welcher wir - die Menschheit - auch ursprünglich genommen worden sind?
Ein jeder Geist tariert sich selbst
Und Gott und Welt gleich mit.
Und so sollte man wohl möglichst intensiv ins Innen des Seins hineinzuhören versuchen, das zugleich überall im Außen der Welt ausgebreitet liegt, sowie in uns selbst, um herausfinden zu können, wo man denn nun hingehöre... eigentlich...
Je klarer der Blick, desto schärfer das Wort. Dennoch gilt: Die reine Klarheit des geistigen Blickens, der theoria, liegt weit über uns, und sie wird irgendwann auf uns Irdische zukommen, als Scharfrichter-Wort unserer Wirklichkeit, die wir einfach nicht im Griff haben; die nicht wir im ein-fachen Be-Griff haben; jedenfalls noch nicht.
Nun kann die Leserschaft und Zeitgenossenschaft und Gesellschaft darüber urteilen, ob ich komplett verrückt geworden sei.
Oder ob ich mich lediglich irrte, als ich vorgeburtlich
annahm,
ich würde das nicht können, was ich auf Erden leisten solle.
Von der Peripherie
ins Zentrum
zu weisen.
Quasi-Salvatorische Klausel
Wenn ein Gedanke falsch sein sollte, folgt nicht, dass auch
alle anderen Gedanken falsch sein müssen.
Und wenn eine Idee als wahr angenommen werden kann, folgt
nicht, dass auch alle anderen Ideen als wahr angenommen werden
können müssen.
Ich versuche einen erkenntnisheuristischen Ansatz, wirble also Staub auf, der sich längst gesetzt hatte, in der Hoffnung, aus scheinbar Altem könne doch noch wertvolles Neues hervorblitzen.
Alles in allem führe ich ein Maulwurfs-Dasein:
Ich arbeite im Finstern und grabe andrer Leute Boden um.
Sofern Jemand aus meinen Ge-danken und Ideen Anregung für sein
Eigendenken finden kann,
ist ein wesentlicher Zweck erreicht.
Mein
eigentliches Ziel
aber ist, unsere atheistisch
und materialistisch gewordene Ge-
genwart als sphärenmusikalischen Trug-
schluss erkennbar zu machen, so dass
wir heute nicht nur an einem En-
de stehen, sondern auch vor
einem möglichen mensch-
heitlichen Neuan-
fang. Wir.