Leseprobe 12

                                                             Ein Schachmeister nimmt unsichtbare Strukturen wahr

Vielleicht also sollten wir den menschlichen Geist, den zwar prinzipiell alle haben, nicht über einen Kamm scheren, sondern innerhalb der menschlichen Vernunft einen analogen Qualitätsunterschied berücksichtigen lernen? Die einen üben ihre Vernunft tagtäglich, durch wissenschaftliche Begriffs-Schärfung an einem Gegenstand (vgl. EdM § 80: wetzen), was sich doch in der Ausbildung eines feineren Wahrnehmens irgendwann bemerkbar machen müsste? Die andern aber behalten lediglich jenen Vernunftgebrauch bei, den sie in ihrer Kindes- und Schülerzeit durch Erziehung und Bildung erlernt haben, und dieser reicht dann auch aus, um irgendwie durchs Leben kommen zu können, denn sie hatten und haben vielleicht auch nicht den Anspruch, dieses Leben selbst geistig durchsichtig zu bekommen?
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Und weshalb sollte es nun im Geistigen anders sein? Auch im Denken kann man sich einüben und Erfahrung sammeln. Und eine vorsätzliche, längerfristige, hartnäckige höhere Konzentration mag hier Dinge ermöglichen und zur Sichtbarkeit bringen, die einer Durchschnittskonzentration schlichtweg unsichtbar bleiben müssen?

Nehmen wir einen Schachmeister als Beispiel, der es in einer Blitzschachrunde vielleicht mit zehn Gegnern gleichzeitig aufnehmen kann, indem er – zugweise - von einem Gegner und Schachbrett zum nächsten wechselt, weil seinem geschärften Blick die Figurenkonstellation sogleich offen liegt, so dass ihm Handlungsmöglichkeiten gegeben sind, die dem Gegner einfach entgehen, weil dieser die Strukturen, die Ordnung in dem Figurengewirr nicht gleich gut und schnell überblicken kann. Der Meister sieht aber nicht nur seine eigene Ordnung, sondern er sieht auch die Unordnung des Anderen, d.h. er sieht dessen Fehler, dessen Irrtümer. Er registriert sie, hält sie aber vor seinem Gegenüber verborgen, um in Ruhe und Sicherheit das Schachmatt vorzubereiten, das den Gegner dann oft überrascht und unvorbereitet trifft. Oder der Gegner sieht sogar, wie sich die Schlinge um seinen König immer mehr zuzieht, kann aber nichts mehr dagegen tun, weil seine anfänglichen Stellungs- bzw. Handlungsfehler sich schon zu weit potenziert haben, so dass er durch sein „früheres“ unzulängliches Handeln sich selbst nun „in der Gegenwart“ reaktions- und handlungsunfähig gemacht hat? Daher lautet die Meister-Devise im Eröffnungsspiel: „Ich muss in meiner Bewegung Fehler vermeiden, um meine Stellung nicht schon anfänglich zu schwächen und dem Gegner Angriffsmöglichkeiten für sein Handeln in der Zukunft, d.h. im Mittel- und Endspiel zu eröffnen.“

Dieser im Schachspiel offenbar werdende geschärfte geistige Blick des Menschen mag womöglich im Leben so weit gehen können, dass ein regelrechtes „Leben im Denken“ daraus werden kann, wenn ein Mensch das will und sich vornimmt, und welches wir unterscheiden müssen vom zufälligen Gedanken-Sprudel, wie er den Lebensvollzug ständig begleitet, weil der Mensch sein Denken nicht abstellt oder auch nicht abstellen kann. Man kann sich daher gut vorstellen, dass in einer mittelalterlichen Mönchszelle ein intensiveres Denken ausgebildet werden konnte als im heutigen Informations-, Planungs- und Freizeit-Getriebe, das unserer geistigen Zerstreuung, Ablenkung und Nichtkonzentration mehr als förderlich ist, wobei wir uns durch unsere Terminlichkeit und Zeitknappheit („Wir wollen viel tun und erreichen in unserem kurzen Leben“) unsere „Erkenntnis-Zeit“ womöglich selbst arg beschneiden, indem unsere Lebens-Agenda prall gefüllt ist und für Nichtstun oder Muse (resp. Nachdenken des Vorgenommenen) wahrlich kaum Zeit bleibt. Thomas von Aquin soll vier oder fünf Schreibern gleichzeitig diktiert haben, zu verschiedenen Themen, und er wird hierbei auch seine Runden gedreht haben.

Analog versucht die Philosophie die Strukturen der Wirklichkeit, die Ordnung des Seins zu erkennen. Und insofern dies den Philosophen gelingt, finden und sehen diese dann Zusammenhänge oder Verbindungslinien, die den Nichtphilosophen verborgen bleiben, und so tun sich ihnen vielleicht auch Wege und Handlungsmöglichkeiten auf, womöglich in die Zukunft der Menschheit hinein, die für die Anderen schlicht unsichtbar sind und nichtexistent bleiben, sogar dann, wenn sich die „Schlinge der Gegenwart“ zuziehen und ein „Kultur-Schnitt“ passieren wird, der die einen in die Zukunft ihres unsichtbaren, geistigen Wesens hinein mitnehmen wird, während die andern zurückgelassen bleiben, in einer Endlos-Zeitschleife materialistischer Virtualität und sinnloser Frei-Zeit – analog zum (bereits emanzipatorisch gestalteten) Bibelwort:

„… Dann werden zwei auf dem Felde sein; der eine wird angenommen, der andere wird preisgegeben. Zwei Frauen werden mahlen mit der Mühle; die eine wird angenommen, die andere wird preisgegeben. Darum wachet; …“ (Mt. 24,40-42)

Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart, und Einheitsübersetzung © 2016 der Katholischen Bibelanstalt GmbH, externer Link: https://www.bibleserver.com/LUT.EU/Matth%C3%A4us24, abgerufen am 31.03.2024.

Vielleicht also sind wir in unserem Denkvollzug gar nicht so ungebunden und vogelfrei, wie wir zu sein glauben, sondern stehen – in Wahrheit, aber unbewusst - unter einem enormen „geistes- und lebensgeschichtlichen Zeitdruck“ unserer Reflexion, die ein „Höherer Schnitter“ minutiös mitverfolgt, um zu „unserer Reifezeit“ (von der wir nicht ahnen, dass es eine solche überhaupt geben könnte) ein kosmisches Münchhausen-Kunststück an der Menschheit zu vollziehen: „…uuund Schnitt!!“? - Dann werden wir sagen wollen: „Halt! Stopp! Das ging doch jetzt viel zu schnell! Wir sind nicht mitgekommen! Wir brauchen noch etwas Zeit zur Reflexion!“ Und die Höhere Antwort könnte dann lauten: „Mensch, du hast Jahrtausende Zeit bekommen, um dich in deinem Vernunftwesen zu entfalten. Du bist aber in deinem Geiste nicht angemessen fortgeschritten, sondern hinter dir selbst zurückgeblieben, ebenso hinter unseren Erwartungen, obgleich die rechte Potenz in dich gelegt war…“ – „Aber wir wussten doch nicht, dass wir von uns überlegenen Geistwesen beobachtet werden und dass wir also nur eine gewisse Frist Zeit hatten für unser Nachdenken. Ja, wenn wir das gewusst hätten, dann hätten wir uns doch ganz anders angestrengt, in unserem Nachdenken, weil wir dann gewusst hätten, dass dieses unser Denken gar nicht „vogelfrei“ und „musisch“ ist, wie es aus Sicht des Materialismus aber erscheint, der uns für das Denken eine ganze Menge Zeit lässt, um nicht zu sagen die volle Ewigkeit. Ja, wir sind auf die „Gottlosigkeit der Moderne“ hereingefallen!!...“ – …uuund Schnitt!!“…

entnommen: 3. ABC-Versuch einer neuen Wahrnehmung des alten Seins, aus der angenommenen Misere-Situation unserer Gegenwart der Moderne heraus, dort unter E 7 a.

E. ANGENOMMENE MISERE-SITUATION


   7. Wir müssen unsere prekäre Geistessituation in der Gegenwart sehen wollen

      a) Einleitend: Gehen lernen im Geiste
      b) Warum denn „Misere“?
      c) Wir müssen unsere Misere „annehmen“, um sie „denken“ zu können