Ein Schachmeister nimmt unsichtbare Strukturen
wahr
Vielleicht also sollten wir den menschlichen Geist, den zwar
prinzipiell alle haben, nicht über einen Kamm scheren, sondern
innerhalb der menschlichen Vernunft einen analogen
Qualitätsunterschied berücksichtigen lernen? Die einen
üben ihre Vernunft tagtäglich, durch wissenschaftliche
Begriffs-Schärfung an einem Gegenstand (vgl. EdM § 80: wetzen),
was sich doch in der Ausbildung eines feineren
Wahrnehmens irgendwann bemerkbar machen müsste? Die andern
aber behalten lediglich jenen Vernunftgebrauch bei, den sie in
ihrer Kindes- und Schülerzeit durch Erziehung und Bildung
erlernt haben, und dieser reicht dann auch aus, um
irgendwie durchs Leben kommen zu können, denn sie
hatten und haben vielleicht auch nicht den Anspruch, dieses
Leben selbst geistig durchsichtig zu
bekommen?
...
Und weshalb sollte es nun im Geistigen anders sein?
Auch im Denken kann man sich einüben und Erfahrung sammeln. Und
eine vorsätzliche, längerfristige, hartnäckige höhere
Konzentration mag hier Dinge ermöglichen und zur
Sichtbarkeit bringen, die einer
Durchschnittskonzentration schlichtweg
unsichtbar bleiben müssen?
Nehmen wir einen Schachmeister
als Beispiel, der es in einer Blitzschachrunde vielleicht mit
zehn Gegnern gleichzeitig aufnehmen kann, indem er – zugweise -
von einem Gegner und Schachbrett zum nächsten wechselt, weil
seinem geschärften Blick die Figurenkonstellation sogleich
offen liegt, so dass ihm Handlungsmöglichkeiten gegeben sind,
die dem Gegner einfach entgehen, weil dieser die Strukturen,
die Ordnung in dem Figurengewirr nicht gleich gut und schnell
überblicken kann. Der Meister sieht aber nicht nur seine
eigene Ordnung, sondern er sieht auch die
Unordnung des Anderen, d.h. er sieht dessen Fehler,
dessen Irrtümer. Er registriert sie, hält sie aber vor
seinem Gegenüber verborgen, um in Ruhe und Sicherheit das
Schachmatt vorzubereiten, das den Gegner dann oft überrascht
und unvorbereitet trifft. Oder der Gegner sieht sogar, wie sich
die Schlinge um seinen König immer mehr zuzieht, kann aber
nichts mehr dagegen tun, weil seine anfänglichen Stellungs-
bzw. Handlungsfehler sich schon zu weit potenziert haben, so
dass er durch sein „früheres“ unzulängliches Handeln sich
selbst nun „in der Gegenwart“ reaktions- und handlungsunfähig
gemacht hat? Daher lautet die Meister-Devise im
Eröffnungsspiel: „Ich muss in meiner Bewegung Fehler vermeiden,
um meine Stellung nicht schon anfänglich zu schwächen und dem
Gegner Angriffsmöglichkeiten für sein Handeln in der Zukunft,
d.h. im Mittel- und Endspiel zu eröffnen.“
Dieser im Schachspiel offenbar werdende geschärfte geistige
Blick des Menschen mag womöglich im Leben so weit gehen
können, dass ein regelrechtes „Leben im Denken“ daraus werden
kann, wenn ein Mensch das will und sich vornimmt, und welches
wir unterscheiden müssen vom zufälligen Gedanken-Sprudel, wie
er den Lebensvollzug ständig begleitet, weil der Mensch sein
Denken nicht abstellt oder auch nicht abstellen kann. Man kann
sich daher gut vorstellen, dass in einer mittelalterlichen
Mönchszelle ein intensiveres Denken ausgebildet werden konnte
als im heutigen Informations-, Planungs- und Freizeit-Getriebe,
das unserer geistigen Zerstreuung, Ablenkung und
Nichtkonzentration mehr als förderlich ist, wobei wir uns durch
unsere Terminlichkeit und Zeitknappheit („Wir wollen viel
tun und erreichen in unserem kurzen Leben“)
unsere „Erkenntnis-Zeit“ womöglich selbst arg beschneiden,
indem unsere Lebens-Agenda prall gefüllt ist und für Nichtstun
oder Muse (resp. Nachdenken des
Vorgenommenen) wahrlich kaum Zeit bleibt. Thomas von
Aquin soll vier oder fünf Schreibern gleichzeitig diktiert
haben, zu verschiedenen Themen, und er wird hierbei auch seine
Runden gedreht haben.
Analog versucht die Philosophie
die Strukturen der Wirklichkeit, die Ordnung des Seins zu
erkennen. Und insofern dies den Philosophen gelingt, finden und
sehen diese dann Zusammenhänge oder Verbindungslinien, die den
Nichtphilosophen verborgen bleiben, und so tun sich ihnen
vielleicht auch Wege und Handlungsmöglichkeiten auf, womöglich
in die Zukunft der Menschheit hinein, die für die Anderen
schlicht unsichtbar sind und nichtexistent bleiben,
sogar dann, wenn sich die „Schlinge der Gegenwart“ zuziehen und
ein „Kultur-Schnitt“ passieren wird, der die einen in die
Zukunft ihres unsichtbaren, geistigen Wesens hinein mitnehmen
wird, während die andern zurückgelassen bleiben, in einer
Endlos-Zeitschleife materialistischer Virtualität und sinnloser
Frei-Zeit – analog zum (bereits emanzipatorisch gestalteten)
Bibelwort:
„… Dann werden zwei auf dem
Felde sein; der eine wird angenommen, der andere wird
preisgegeben. Zwei Frauen werden mahlen mit der Mühle; die eine
wird angenommen, die andere wird preisgegeben. Darum wachet; …“
(Mt. 24,40-42)
Lutherbibel, revidiert
2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft,
Stuttgart, und Einheitsübersetzung ©
2016 der Katholischen Bibelanstalt GmbH,
externer Link: https://www.bibleserver.com/LUT.EU/Matth%C3%A4us24,
abgerufen am 31.03.2024.
Vielleicht also sind wir in unserem Denkvollzug gar nicht
so ungebunden und vogelfrei, wie wir zu sein glauben,
sondern stehen – in Wahrheit, aber unbewusst - unter einem
enormen „geistes- und lebensgeschichtlichen Zeitdruck“
unserer Reflexion, die ein „Höherer Schnitter“ minutiös
mitverfolgt, um zu „unserer Reifezeit“ (von der wir nicht
ahnen, dass es eine solche überhaupt geben könnte) ein
kosmisches Münchhausen-Kunststück an der Menschheit zu
vollziehen: „…uuund Schnitt!!“? - Dann
werden wir sagen wollen: „Halt! Stopp! Das ging doch jetzt viel
zu schnell! Wir sind nicht mitgekommen! Wir brauchen
noch etwas Zeit zur Reflexion!“ Und die Höhere Antwort könnte
dann lauten: „Mensch, du hast Jahrtausende Zeit bekommen,
um dich in deinem Vernunftwesen zu entfalten. Du bist aber in
deinem Geiste nicht angemessen fortgeschritten, sondern hinter
dir selbst zurückgeblieben, ebenso hinter unseren Erwartungen,
obgleich die rechte Potenz in dich gelegt war…“ – „Aber
wir wussten doch nicht, dass wir von uns überlegenen
Geistwesen beobachtet werden und dass wir also nur
eine gewisse Frist Zeit hatten für unser Nachdenken.
Ja, wenn wir das gewusst hätten, dann hätten
wir uns doch ganz anders angestrengt, in
unserem Nachdenken, weil wir dann gewusst hätten, dass dieses
unser Denken gar nicht „vogelfrei“ und „musisch“ ist, wie es
aus Sicht des Materialismus aber erscheint, der uns für das
Denken eine ganze Menge Zeit lässt, um nicht zu sagen die volle
Ewigkeit. Ja, wir sind auf die „Gottlosigkeit der Moderne“
hereingefallen!!...“ – „…uuund
Schnitt!!“…
entnommen: 3. ABC-Versuch einer neuen
Wahrnehmung des alten Seins, aus der angenommenen
Misere-Situation unserer Gegenwart der Moderne heraus, dort
unter E 7 a.
E. ANGENOMMENE MISERE-SITUATION
7. Wir
müssen unsere prekäre Geistessituation in der Gegenwart sehen
wollen
a) Einleitend:
Gehen lernen im
Geiste
b)
Warum denn „Misere“?
c) Wir
müssen unsere Misere „annehmen“, um sie „denken“ zu
können