Leseprobe 13

Wir leben heute in einer Hochverworrenheit, in einer großen Komplizierung der Dinge, die uns auch durch unser eigenes Reflexionsvermögen entstanden ist, das immer genauer und noch genauer hinsehen kann und will. Wir drehen und wenden die Dinge, sogar uns selbst, indem wir auf ein „Unbewusstes“ an uns gestoßen sind, das uns nun ernsthaft fragen lässt, ob Philosophie und Wissenschaft überhaupt möglich seien, oder ob der darin behauptete und verfolgte „Wille zur Wahrheit“ ein Selbstbetrug sei, eine tief im Innern verborgen liegende Unaufrichtigkeit unseres eigenen Willens, der „eigentlich“ etwas „anderes“ will, aber es aus irgendeinem Grund nicht zugeben will oder offenlegen kann?

Wie also erkennen wir, ob und wann wir uns selbst klarsehen und ob und wann wir uns selbst nur etwas vormachen? Setzen nicht Philosophie und Wissenschaft ein Herr sein des Menschen über sich selbst voraus, das wir aber – aufgrund der Entdeckung des Unbewussten – nun einmal gar nicht haben oder: noch nicht haben? Wenn wir aber nicht Herr unseres Erkennens und Wissenschaftens sind, wie kommen wir dann überhaupt zu Erkenntnis? Wie? Wodurch? Oder sollten wir in unserer Gottverlassenheit noch fragen können: Durch wen?

Als weiteres Beispiel unseres Reflexions-Verwirrungs-Desasters in der Moderne sei die Religion genannt, der in der Religionskritik der Kampf angesagt wurde, wobei es m.E. aber nicht primär darum geht, Religion zu vernichten, sondern sozusagen einen subjektiven Missbrauch von Religion freizulegen. Nur kam am Ende auch bei der Religionskritik etwas Anderes heraus, als vielleicht ursprünglich beabsichtigt: Religion kann missbraucht werden vom Menschen, um aus der Realität zu flüchten und diese nicht annehmen zu müssen. Nimmt man diesen Missbrauch aber weg - ist dann nicht die Religion selbst gänzlich mitbeseitigt und unmöglich gemacht geworden?

Wir nehmen dieses mögliche „Schlussfolgerungs-Ergebnis“ nicht als bare Münze, ersehen aber aus den genannten provisorischen Anwendungen der Vernunft, wie wir Menschen mit unserem Reflexionsvermögen letztlich auch uns selbst angreifen, antasten, mürbe und krank machen. Das Drehen und Wenden der Dinge fördert Lichtmomente, Wahrheiten zutage, aber zugleich besteht die Gefahr, dass solche Wahrheitsfünkchen, wenn sie absolut gesetzt werden, neue und vielleicht noch größere Irrtümer festzementieren. Dennoch wissen wir anderseits ganz genau, dass wir diesem Entwirrungsverfahren, welches zugleich zu einem schwerwiegenden Verwirrungsverfahren geworden ist, auch ein Stückweit echte Aufklärung zu verdanken haben. Nur haben wir nun das übergroße Problem, diese Wahrheitsstückchen als solche festzuhalten und die damit einhergehenden Unwahrheitsstückchen entweder von vornherein abzuwehren, damit sie sich nicht etwa unbewusst in unser Denken einschleichen, oder zumindest doch wieder aussondern zu können.

Wo ist Wahrheit gefunden? Wo ist Irrtum, wo Lüge, wo Selbstbetrug? Eine Richtschnur haben wir nicht, jeder Einzelne muss den rechten Maßstab in sich selbst finden, wobei er sich freilich die Erfahrungen und Ideen der Anderen zunutze machen kann. Selbst die Bibel ist als Wahrheitsnorm zweifelhaft geworden, so sehr, dass sie heute ohnehin vielfach als „ausgelesen“ angesehen wird oder „uninteressant“ geworden ist, scheint sie doch summarisch betrachtet nur eine alt gewordene Nachricht zu enthalten, eine Nachricht also, die gar keine mehr ist, weil zwischenzeitlich - jedenfalls aus unserer heutigen Sicht - einfach zu viel Zeit verstrichen ist, als sie noch ernst nehmen und für glaubwürdig halten zu können…

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Wir leben in einer Zeit, in der die Reflexion sehr weit fortgeschritten ist, so weit, dass wir uns fragen müssen, ob sie denn nun eigentlich noch eine Kunst oder eher eine Teufelskunst zu nennen sei? Wie weit ist zu drehen, um die Dinge zu entwirren, und wo beginnt das Überdrehen und Wiederverdrehen der Dinge? Gibt es eine rechte Stelle innerhalb des Reflexionsprozesses, an der die Reflexionsrichtung sozusagen wieder umzukehren ist, weil der Angel- und Drehpunkt des Ganzen des Seins gefunden ist?

Ein Beispiel: Als allergrößter Verdrehungskünstler gilt der „Teufel“ selbst, der „Diabolos“...

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...von dem wir heute wissen, dass es ihn gar nicht gibt. Gesetzt, es gäbe neben Gott (wenn es ihn gibt) auch höhere Widersacherkräfte, einen „Teufel“: Wäre es dann nicht ein genialer Geniestreich, wenn dieser „Genius malignus“ dem aufgeklärten Menschen seine eigene Nichtexistenz inspirierte, um an der menschlichen Vernunft vorbei unbehelligt und ungehindert sein Verwirrungs-, Desorientierungs-, Geist-Verleugnungs-Werk zu tun? – Wo liegt nun in diesem Beispiel die rechte Reflexions-Haltestelle:

a) „Der Widersacher existiert nicht“

oder

b) „Der Widersacher inspiriert seine eigene Nichtexistenz“?

Im Folgenden wollen wir ein Stückweit in diese unsere eigene Reflexions- und Aufklärungs-Misere hineinsehen, durch welche wir uns selbst zugrunde zu richten drohen, und wir müssen versuchen, einen Weg wieder heraus aus unserer gedanklichen Vertiefung und Verstrickung in die Dinge zu finden. Gelingt uns dies nicht, so werden wir ernsthaft fragen müssen, ob nicht ein animal rationale, wenn es erst einmal in die Jahre seines Denkens gekommen ist, notwendig dazu verurteilt sei, in elender reflexiver Selbstzerstörung zu enden, weil es „wahr“ und „falsch“ nicht mehr unterscheiden kann, insbesondere nicht mehr im eigenen Inneren, so dass im „Willen zur Wahrheit“ unweigerlich ein tiefenpsychologisches, heilloses, selbstmörderisches Schachspiel gegen sich selbst entbrannt ist, mit offenem, unkontrollierbarem Ausgang? Muss nicht durch die bloße Denkfähigkeit des Menschen notwendig oder unvermeidlich ein Reflexions-Kampf in und mit sich selbst seinen bitteren Anfang und unerbittlichen Fortgang nehmen, der nur in Selbstzerfleischung enden kann, wenn oder weil kein rettendes, haltendes, die herumwirbelnde reflexive Drehbewegung anhaltendes und damit regulierendes Über-Ich mehr gesetzt ist?

entnommen: 3. ABC-Versuch einer neuen Wahrnehmung des alten Seins, aus der angenommenen Misere-Situation unserer Gegenwart der Moderne heraus, dort unter E 7 c.

E. ANGENOMMENE MISERE-SITUATION


   7. Wir müssen unsere prekäre Geistessituation in der Gegenwart sehen wollen

      a) Einleitend: Gehen lernen im Geiste
      b) Warum denn „Misere“?
      c) Wir müssen unsere Misere „annehmen“, um sie „denken“ zu können