Leben wir in einer Verkehrung unserer
selbst?
Warum sollte man über ein solch lapidares Allerweltswort –
„unser“ - nachdenken? Das Possessivpronomen „unser“ leitet sich
ab vom Personalpronomen „wir“, welches das Personalpronomen
„ich“ in sich enthält und zwar in einer transzendierenden Form.
Das Wort „Ich“ ist festgelegt und eindeutig - sobald es von
jemandem benutzt wird. Das „Wir“ hingegen ist offen, in Umfang
oder Reichweite nicht eindeutig, jedes Ich kennt mehrere Wir,
und zwei Menschengruppen können es gleichermaßen für sich
selbst gebrauchen und sich hierdurch dem Wir der Anderen
entgegensetzen.
Hinter diesem Wörtchen „wir“ verbirgt sich ein sehr großes,
vielleicht unser größtes, dringlichstes und aktuellstes
Problem, weil wir seinen rechten Gebrauch noch nicht
erlernt haben und noch nicht praktizieren, indem wir ohne
weiteres Nachdenken, stillschweigend voraussetzen, es könne und
dürfe beliebig benutzt werden, als habe dieses Wort keine
ontologisch festgelegte, unser Wesen als Menschen betreffende
Bedeutung.
Sollte es sich aber für Menschen nicht von selbst
verstehen, sich selbst als Teil der Menschheit zu
betrachten und auch danach zu leben? Sollte das Leben und
Handeln von uns Menschen nicht von Natur aus bestimmt
und tief geprägt sein von den Verhaltensweisen der
„Menschlichkeit“ und „Menschheitlichkeit“, soll heißen der
Menschlichkeit im Kleinen und Nahen und der Menschheitlichkeit
im Großen und Fernen, weil diese natürlicherweise
unserem uns allen gemeinsamen Menschenwesen
entsprechen?
So ist es aber nicht. Vielmehr sehen wir von Natur aus
(d.h. jetzt: von Geburt her) nur auf einen Teil der
Gesellschaft und Menschheit, die wir als näher zugehörig
zu „uns selbst“ betrachten und die wir daher – nun ja -
bevorzugen, während wir die Menschheit im Ganzen – nun ja -
hierbei übervorteilen, zumindest übergehen?
Wir haben hier ein Defizit der Menschheit zu
konstatieren, das vielleicht die eine oder andere Nation aus
gewissen Gründen empfindlicher, deutlicher und früher erkennt
als die Anderen. Wir kennen und haben ein kleines Wir, das ist
unsere eigene Familie, und wir kennen und haben ein großes Wir,
das ist unsere eigene Nation. Warum erscheint uns solches
teilbezogene Handeln als richtig,
natürlich, vernünftig, zumindest im
Handlungs-Zweifelsfall, wenn es darum geht, das „Eigene“ zu
bewahren und speziell die „Eigenen“ zu schützen, beispielsweise
vor dem Zugriff oder der Übergriffigkeit Anderer?
Warum haben und sind wir bis heute kein richtiges Wir, kein
„Wir - die Menschheit“? Wie kann es sein, dass uns unser
„wahres Selbstverständnis“ erst von außen, außerirdisch,
„christlich“ angetragen werden muss!?
Was ist denn los mit dieser „unserer Vernunft“? Ist irgendwo in
urferner Vergangenheit die Menschheit korrumpiert worden, so
dass eine „irrende Vernünftigkeit“ anfing, ihren Lauf zu
nehmen, welche dann auf uns (d.h. jetzt: auf die Völker und
Nationen) überkommen ist, so dass uns heute Verkehrtes als
Natürlichkeit und Normalität erscheint?
...
Als Beleg faktisch gewordener
Vernunft-Verkehrung will ich den Terminus
„Wirtschaftlichkeit“ betrachten. Früher war die
Versorgung der Menschen mit Waren und dem
Lebensnotwendigen wirtschaftlich, heute ist diese
Versorgungstätigkeit bloßes Mittel zu einem
anderen Zweck geworden, nämlich der
Erwirtschaftung eines Gewinnes. Wenn ein
Unternehmen heute rote Zahlen schreibt, ist es selbst
unwirtschaftlich geworden, und es ist plausibel und
konsequent, wenn es Konkurs anmeldet und eingestellt oder aber
aufgekauft und reorganisiert wird. Dies gilt - prinzipiell -
auch dann, falls dieses Unternehmen sog. Dritte-Welt-Länder mit
Brot und Wasser versorgt haben sollte: Auch dann ist es richtig
und konsequent, das Unternehmen einzustellen, weil es
schließlich rote Zahlen schreibt, und so ist es also auch in
diesem Fall vernünftig geworden, die Menschen
nicht länger mit Brot und Wasser zu versorgen, und
folglich ist es auch vernünftig, dieses… falsche… Handeln…
einzustellen…?
An diesem Beispiel sehen wir
die von uns praktizierte Wirtschafts-Verkehrung, und
so wird die faktische, von uns gelebte
Vernunft-Verkehrung sichtbar, die wir aber gar nicht als
Verkehrung wahrnehmen, sondern als Vernünftigkeit, und zwar
dadurch, dass wir diese unsere eigene „Vernünftigkeit“ einfach
nicht konsequent zu Ende denken.
Da wir diese unsere „Un- oder Pseudo-Wirtschaft“
wollen, zumindest gewohnheitsmäßig leben, ist
die eigentliche Wirtschaft und Versorgung der Menschen
mit dem Lebensnotwendigen heute an „humanitäre
Hilfsorganisationen“ abgegeben, denn „unsere Wirtschaft“
hat wahrlich andere Sorgen als die Versorgung von
Menschen mit dem Lebensnotwendigen (?). Unsere Unternehmen
(faktisch juristische Gespenster-Personen) sind mit
ihrer eigenen Überlebenssicherung (?)
beschäftigt, haben keinen Nerv mehr dafür, sich um das
Überleben von Menschen zu kümmern (es sei denn, es geht um
Unternehmensmitarbeiter, die das Unternehmen selbst am
Leben erhalten - ?), haben andere Interessen, nämlich
Zahlen, denn da sind Leute, Aktionäre, die den
Unternehmensverantwortlichen als kleines, aber
finanzstarkes AG-Wir im Nacken sitzen und etwas haben
wollen für „ihr“ Geld usw.
Also: Unvernünftiges ist heute vernünftig geworden. Wäre es in
dieser Situation nicht gut und richtig, wenn wir uns unsere
„verkehrte Vernunft“ zumindest einmal eingestehen würden,
anstatt die Augen zu verschließen und weiterzumachen wie
bisher? Ja, es wäre vernünftig, uns unsere verkehrte
Vernunft einzugestehen, und: Das Vorhaben wird an uns
scheitern, soll heißen: Das Vorhaben scheitert am Uns, an Wirs
nämlich, die „kleiner“ als „die Menschheit“ sind und
Eigeninteressen verfolgen. Diese vielen derzeit realen
und fleißig agierenden Nicht- oder Pseudo-Wirs (nicht
nur in der Wirtschaft) potenzieren sich, und so stehen „wir“
heute vor einer Klimakatastrophe und vielleicht vor dem Ruin
oder Untergang „unserer selbst“, weil „wir“ „uns selbst“ gar
nicht zu sehen gewillt sind!?
Das menschheitliche Wir hat noch keine Realität, und
es sieht ganz danach aus, als würden wir daran zugrunde gehen,
dass ein solches Wir nicht allgemein gewünscht ist.
...
Haben „wir“ vielleicht anfängliche, mythisch-geschichtlich
nicht mehr verifizierbare „gesellschaftliche Stellungsfehler“
gemacht, weshalb sich nun die Schlinge unserer Scheinvernunft
um uns herum zuzieht und wir nichts mehr dagegen tun können,
weil unser Geschichts- und Gesellschaftsprozess auf ein in
sich verkehrtes menschliches Vernehmen zugelaufen ist, das
als solches partout nicht erkannt werden will und niemand bei
sich selbst mit einem korrigierenden Umdenken beginnen will und
daher nun irreversibel geworden ist? Wenn es so ist, dann
spielt es jetzt auch gar keine Rolle mehr, ob uns unser eigenes
Handeln nun noch als „vernünftig“ oder schon als „unvernünftig“
erscheint, denn: „Wir“ haben „uns“ durch „unser eigenes“
Handeln bereits handlungsunfähig gemacht, und es bleibt uns
lediglich noch, unserem eigenen Untergang zuzusehen, vielleicht
unter gegenseitigen Schuldzuweisungen und Abschieben von
Verantwortlichkeiten der Pseudo-Wirs untereinander.
...
Nur: Das „Meine“ und das „Ich“ können wir nicht einfach neu
definieren, damit ein ordentliches „Wir“ entstehe, denn sie
bestehen als „geistige Substanzen“ in sich selbst, als
gelebte Selbstverständnisse, so dass wir schon wieder
eine Aufgabe der Philosophie und Wissenschaft gefunden haben,
wobei wir jetzt zugleich sehen können, wie „die Philosophie“
zunehmend aufdringlich, impertinent, unerträglich wird, als
könne oder wolle sie vor Nichts und Niemandem Halt machen und
zuletzt auch noch physisch-reale, rechtlich und staatlich
abgesicherte Eigentumsverhältnisse antasten, also uns
in unserer Substanz auf den Leib rücken…?
Lapidar zusammengefasst können wir feststellen: Die Menschheit
krankt an ihrem Wir.
entnommen: 3. ABC-Versuch einer neuen
Wahrnehmung des alten Seins, aus der angenommenen
Misere-Situation unserer Gegenwart der Moderne heraus, dort
unter F 9 a.
F. UNSER
9. Warum lebt die Menschheit nicht in ihrer
Idee?
a) Wir sind noch gar kein Wir
geworden
b)
Ist „die Menschheit“ eine Idee, die die Individuen aus sich
heraus erst noch zu gebären haben?