Leseprobe 15

                                                                 Leben wir in einer Verkehrung unserer selbst?

Warum sollte man über ein solch lapidares Allerweltswort – „unser“ - nachdenken? Das Possessivpronomen „unser“ leitet sich ab vom Personalpronomen „wir“, welches das Personalpronomen „ich“ in sich enthält und zwar in einer transzendierenden Form. Das Wort „Ich“ ist festgelegt und eindeutig - sobald es von jemandem benutzt wird. Das „Wir“ hingegen ist offen, in Umfang oder Reichweite nicht eindeutig, jedes Ich kennt mehrere Wir, und zwei Menschengruppen können es gleichermaßen für sich selbst gebrauchen und sich hierdurch dem Wir der Anderen entgegensetzen.

Hinter diesem Wörtchen „wir“ verbirgt sich ein sehr großes, vielleicht unser größtes, dringlichstes und aktuellstes Problem, weil wir seinen rechten Gebrauch noch nicht erlernt haben und noch nicht praktizieren, indem wir ohne weiteres Nachdenken, stillschweigend voraussetzen, es könne und dürfe beliebig benutzt werden, als habe dieses Wort keine ontologisch festgelegte, unser Wesen als Menschen betreffende Bedeutung.

Sollte es sich aber für Menschen nicht von selbst verstehen, sich selbst als Teil der Menschheit zu betrachten und auch danach zu leben? Sollte das Leben und Handeln von uns Menschen nicht von Natur aus bestimmt und tief geprägt sein von den Verhaltensweisen der „Menschlichkeit“ und „Menschheitlichkeit“, soll heißen der Menschlichkeit im Kleinen und Nahen und der Menschheitlichkeit im Großen und Fernen, weil diese natürlicherweise unserem uns allen gemeinsamen Menschenwesen entsprechen?

So ist es aber nicht. Vielmehr sehen wir von Natur aus (d.h. jetzt: von Geburt her) nur auf einen Teil der Gesellschaft und Menschheit, die wir als näher zugehörig zu „uns selbst“ betrachten und die wir daher – nun ja - bevorzugen, während wir die Menschheit im Ganzen – nun ja - hierbei übervorteilen, zumindest übergehen?

Wir haben hier ein Defizit der Menschheit zu konstatieren, das vielleicht die eine oder andere Nation aus gewissen Gründen empfindlicher, deutlicher und früher erkennt als die Anderen. Wir kennen und haben ein kleines Wir, das ist unsere eigene Familie, und wir kennen und haben ein großes Wir, das ist unsere eigene Nation. Warum erscheint uns solches teilbezogene Handeln als richtig, natürlich, vernünftig, zumindest im Handlungs-Zweifelsfall, wenn es darum geht, das „Eigene“ zu bewahren und speziell die „Eigenen“ zu schützen, beispielsweise vor dem Zugriff oder der Übergriffigkeit Anderer?

Warum haben und sind wir bis heute kein richtiges Wir, kein „Wir - die Menschheit“? Wie kann es sein, dass uns unser „wahres Selbstverständnis“ erst von außen, außerirdisch, „christlich“ angetragen werden muss!?

Was ist denn los mit dieser „unserer Vernunft“? Ist irgendwo in urferner Vergangenheit die Menschheit korrumpiert worden, so dass eine „irrende Vernünftigkeit“ anfing, ihren Lauf zu nehmen, welche dann auf uns (d.h. jetzt: auf die Völker und Nationen) überkommen ist, so dass uns heute Verkehrtes als Natürlichkeit und Normalität erscheint?

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Als Beleg faktisch gewordener Vernunft-Verkehrung will ich den Terminus „Wirtschaftlichkeit“ betrachten. Früher war die Versorgung der Menschen mit Waren und dem Lebensnotwendigen wirtschaftlich, heute ist diese Versorgungstätigkeit bloßes Mittel zu einem anderen Zweck geworden, nämlich der Erwirtschaftung eines Gewinnes. Wenn ein Unternehmen heute rote Zahlen schreibt, ist es selbst unwirtschaftlich geworden, und es ist plausibel und konsequent, wenn es Konkurs anmeldet und eingestellt oder aber aufgekauft und reorganisiert wird. Dies gilt - prinzipiell - auch dann, falls dieses Unternehmen sog. Dritte-Welt-Länder mit Brot und Wasser versorgt haben sollte: Auch dann ist es richtig und konsequent, das Unternehmen einzustellen, weil es schließlich rote Zahlen schreibt, und so ist es also auch in diesem Fall vernünftig geworden, die Menschen nicht länger mit Brot und Wasser zu versorgen, und folglich ist es auch vernünftig, dieses… falsche… Handeln… einzustellen…?

An diesem Beispiel sehen wir die von uns praktizierte Wirtschafts-Verkehrung, und so wird die faktische, von uns gelebte Vernunft-Verkehrung sichtbar, die wir aber gar nicht als Verkehrung wahrnehmen, sondern als Vernünftigkeit, und zwar dadurch, dass wir diese unsere eigene „Vernünftigkeit“ einfach nicht konsequent zu Ende denken.

Da wir diese unsere „Un- oder Pseudo-Wirtschaft“ wollen, zumindest gewohnheitsmäßig leben, ist die eigentliche Wirtschaft und Versorgung der Menschen mit dem Lebensnotwendigen heute an „humanitäre Hilfsorganisationen“ abgegeben, denn „unsere Wirtschaft“ hat wahrlich andere Sorgen als die Versorgung von Menschen mit dem Lebensnotwendigen (?). Unsere Unternehmen (faktisch juristische Gespenster-Personen) sind mit ihrer eigenen Überlebenssicherung (?) beschäftigt, haben keinen Nerv mehr dafür, sich um das Überleben von Menschen zu kümmern (es sei denn, es geht um Unternehmensmitarbeiter, die das Unternehmen selbst am Leben erhalten - ?), haben andere Interessen, nämlich Zahlen, denn da sind Leute, Aktionäre, die den Unternehmensverantwortlichen als kleines, aber finanzstarkes AG-Wir im Nacken sitzen und etwas haben wollen für „ihr“ Geld usw.

Also: Unvernünftiges ist heute vernünftig geworden. Wäre es in dieser Situation nicht gut und richtig, wenn wir uns unsere „verkehrte Vernunft“ zumindest einmal eingestehen würden, anstatt die Augen zu verschließen und weiterzumachen wie bisher? Ja, es wäre vernünftig, uns unsere verkehrte Vernunft einzugestehen, und: Das Vorhaben wird an uns scheitern, soll heißen: Das Vorhaben scheitert am Uns, an Wirs nämlich, die „kleiner“ als „die Menschheit“ sind und Eigeninteressen verfolgen. Diese vielen derzeit realen und fleißig agierenden Nicht- oder Pseudo-Wirs (nicht nur in der Wirtschaft) potenzieren sich, und so stehen „wir“ heute vor einer Klimakatastrophe und vielleicht vor dem Ruin oder Untergang „unserer selbst“, weil „wir“ „uns selbst“ gar nicht zu sehen gewillt sind!?

Das menschheitliche Wir hat noch keine Realität, und es sieht ganz danach aus, als würden wir daran zugrunde gehen, dass ein solches Wir nicht allgemein gewünscht ist.

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Haben „wir“ vielleicht anfängliche, mythisch-geschichtlich nicht mehr verifizierbare „gesellschaftliche Stellungsfehler“ gemacht, weshalb sich nun die Schlinge unserer Scheinvernunft um uns herum zuzieht und wir nichts mehr dagegen tun können, weil unser Geschichts- und Gesellschaftsprozess auf ein in sich verkehrtes menschliches Vernehmen zugelaufen ist, das als solches partout nicht erkannt werden will und niemand bei sich selbst mit einem korrigierenden Umdenken beginnen will und daher nun irreversibel geworden ist? Wenn es so ist, dann spielt es jetzt auch gar keine Rolle mehr, ob uns unser eigenes Handeln nun noch als „vernünftig“ oder schon als „unvernünftig“ erscheint, denn: „Wir“ haben „uns“ durch „unser eigenes“ Handeln bereits handlungsunfähig gemacht, und es bleibt uns lediglich noch, unserem eigenen Untergang zuzusehen, vielleicht unter gegenseitigen Schuldzuweisungen und Abschieben von Verantwortlichkeiten der Pseudo-Wirs untereinander.

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Nur: Das „Meine“ und das „Ich“ können wir nicht einfach neu definieren, damit ein ordentliches „Wir“ entstehe, denn sie bestehen als „geistige Substanzen“ in sich selbst, als gelebte Selbstverständnisse, so dass wir schon wieder eine Aufgabe der Philosophie und Wissenschaft gefunden haben, wobei wir jetzt zugleich sehen können, wie „die Philosophie“ zunehmend aufdringlich, impertinent, unerträglich wird, als könne oder wolle sie vor Nichts und Niemandem Halt machen und zuletzt auch noch physisch-reale, rechtlich und staatlich abgesicherte Eigentumsverhältnisse antasten, also uns in unserer Substanz auf den Leib rücken…?

Lapidar zusammengefasst können wir feststellen: Die Menschheit krankt an ihrem Wir.

entnommen: 3. ABC-Versuch einer neuen Wahrnehmung des alten Seins, aus der angenommenen Misere-Situation unserer Gegenwart der Moderne heraus, dort unter F 9 a.

F. UNSER

   9. Warum lebt die Menschheit nicht in ihrer Idee?

      a) Wir sind noch gar kein Wir geworden
      b) Ist „die Menschheit“ eine Idee, die die Individuen aus sich heraus erst noch zu gebären haben?