Ist uns die Beweglichkeit im Geiste abhanden
gekommen?
Die Christen wollen sich reden, beten, selbst erkennen - in
die Wirklichkeit hinein, was von außen betrachtet wie ein
hoffnungsloses Sich verstricken im Irrtum oder Stranden in
einer fixen Idee aussehen mag. Aber es braucht eben seine Zeit,
Zeit der Klärung und Aufklärung desjenigen Geistes, der erst
einmal sich selbst verstehen lernen muss. Und das ist derjenige
"Geist" im Aggregatszustand des „Mensch seins“.
Und vielleicht ist deshalb auch die Anordnung der Bücher des
Neuen Testaments genau die richtige gewesen, indem mit dem
Elementaren begonnen wurde, z.B. mit der Bergpredigt,
alles in allem mit den vier Evangelien, wobei es hier
den Schüler und Zögling des Geistes bereits von Anfang an hätte
stutzig machen können: „Warum denn vier Evangelien,
warum nicht nur eines?“ Und so hätte er von Anfang an
auch auf die Idee kommen können, dass die Bibel verschiedene
Geistniveaus gleichsam nebeneinander ausbreitet, ausgeworfen
wie ein großes Netz, um möglichst allen Menschen zu allen
Zeiten etwas bieten zu können? Um Jeder und Jedem einen
Ansatzpunkt seiner Existenz zu offerieren, allen nach
ihrer Façon, Ausrichtung und Herkunft?
Und erst, wenn die Zöglinge in ihrem biblisch gegründeten
Gehen-lernen-im-Geiste weit genug fortgeschritten sein werden,
werden sie beginnen können, das Neue Testament im
Zusammenhang zu erblicken, dann auch die Bibel
insgesamt, in ihrer Verschlingung des Anfangs ins
Ende, so dass sie sich jetzt auch Text- und
Gedankensprünge erlauben dürfen und also nicht mehr mühselig
immer wieder dasselbe von Anfang bis Ende endlos durchkauen
müssen, in den Gottesdiensten, Lesungen und Predigten, wie eine
alte Leier, die man irgendwann nicht mehr hören kann, so dass
man nach und nach lernt wegzuhören...
Und ganz allmählich sollten sie beginnen können, im Text
„kunstvoll umherzuspringen“, vom Anfang zum Ende, und vom Ende
zum Anfang, mal hierhin, mal dorthin, vergleichbar einem
Violinvirtuosen, der mit der Leichtigkeit des Meisters den
Lagenwechsel auf seinem Instrument beherrscht, vom
tiefen, satten G-Leerton bis hinauf zu den allerhöchsten Lagen
der Ober- und Flageolett-Töne der E-Saite?
Und dieser Fingerfertigkeit und Treffsicherheit seiner
linken Hand muss eine Bogentechnik seiner
rechten Hand unbedingt zur Seite getreten sein, wenn
das Ganze nicht nur rein, sondern zugleich auch gut und
kraftvoll klingen soll, über alle vier Saiten seines
Instrumentes hinweg, G – D – A – E, oder „Geh
du alter
Esel“ ...
Vielleicht hätte man die Einübung
der artes liberales im Universitätsbetrieb niemals
aufgeben und ersetzen dürfen durch diese
neumodisch-neuzeitliche Betonung des Fachspezifischen, unter
Preisgabe des Fächerübergreifenden, das uns auch kein noch so
ausgefeiltes Studium generale jemals wird wieder
zurückbringen können? Wo soll denn der heute in der Schule
vielbeschworene und hochgelobte Transfer jemals
herkommen können, da wir ihn doch selbst, aus unserem
Wissenschaftsprinzip heraus, abgeschafft haben!? Wie wollen wir
jetzt noch Grenzen überschreiten?
Machten nicht einst die
Sieben Freien Künste den Menschen und sein Denken
frei beweglich? Indem unsere „wahren“ Gedanken
zugleich auch „gut“ und „schön“ gefasst sein sollten,
eingefasst wie Brillanten, und sei es „nur“, um sie
ansprechend weiterzureichen? Anders als die
heutige Wissenschaftsliteratur, die so zahlreich geworden ist
wie der Sand am Meer, den niemand mehr auflesen, nur noch
wegschaufeln kann, weil es eine Heidenarbeit geworden ist? Frei
beweglich – so war einmal das menschliche Wissen. Es
war einmal…
…durch dieses Trivium, bestehend aus Grammatik, Rhetorik und
Dialektik resp. Logik, und darauf aufbauend das Quadrivium,
bestehend aus Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie resp.
Astrologie… Ich habe in diesem Text hier ein wenig versucht,
ihre Luft zu schnuppern, ein wenig in ihre Atmo-Sphären
hineinzuriechen…
Damals war der Mensch noch kommunikativ und geistig, heute ist
er nur noch produktiv und wissenschaftlich erkennend, ohne
innerliche Verbindung zum Ganzen des Seins und Beteiligung an
ihm. Heute wird keine Erkenntnis mehr weitergereicht,
vielmehr sprießt und sprosst sie wie das Gras einfach vor sich
hin. Und weil wir unterscheiden verlernt haben, zwischen
erlesenen Kräutern und wild wachsendem Unkraut, heißen wir
alles gut und willkommen in unserem Urwald und Dickicht des
Wissens. Und das ist schon alles, das ist die jämmerliche
Quintessenz unseres Expertentums, unserer Wissenschaften. Die
Menschheit wird zugrunde gehen, zusammen mit einem ganzen
Haufen an Experten. Auch das ist eine Leistung. Das schafft
wohl nicht jede Menschheit im Universum, nicht jedes animal
rationale. Wir aber schaffen das, trotz Evangelium, oder: dem
Evangelium zum Trotz?
entnommen: 3. ABC-Versuch einer neuen
Wahrnehmung des alten Seins, aus der angenommenen
Misere-Situation unserer Gegenwart der Moderne heraus, dort
unter I 29.
I. SCHLUSS
(Teil 1)
27. Im Ende liegt der
Anfang
28. Das Rufen des
Geistes - hindurch durch seinen
Verruf
29. Verschlingung des Anfangs ins Ende –
Bogen-Technik und Lagen-Wechsel der
Bibel
30. Die Musik ertönt,
indem das Instrument
„verschwindet“
31. Das Soziale muss
zum Chorgesang werden
32. Warum ich mein Buch
nicht mehr „ordnungsgemäß“ zu Ende schreiben
kann
33. Das letzte Buch
unseres Buches enthält unseren Geschichtsweg