Leseprobe 16

                                                          Ist uns die Beweglichkeit im Geiste abhanden gekommen?

Die Christen wollen sich reden, beten, selbst erkennen - in die Wirklichkeit hinein, was von außen betrachtet wie ein hoffnungsloses Sich verstricken im Irrtum oder Stranden in einer fixen Idee aussehen mag. Aber es braucht eben seine Zeit, Zeit der Klärung und Aufklärung desjenigen Geistes, der erst einmal sich selbst verstehen lernen muss. Und das ist derjenige "Geist" im Aggregatszustand des „Mensch seins“.

Und vielleicht ist deshalb auch die Anordnung der Bücher des Neuen Testaments genau die richtige gewesen, indem mit dem Elementaren begonnen wurde, z.B. mit der Bergpredigt, alles in allem mit den vier Evangelien, wobei es hier den Schüler und Zögling des Geistes bereits von Anfang an hätte stutzig machen können: „Warum denn vier Evangelien, warum nicht nur eines?“ Und so hätte er von Anfang an auch auf die Idee kommen können, dass die Bibel verschiedene Geistniveaus gleichsam nebeneinander ausbreitet, ausgeworfen wie ein großes Netz, um möglichst allen Menschen zu allen Zeiten etwas bieten zu können? Um Jeder und Jedem einen Ansatzpunkt seiner Existenz zu offerieren, allen nach ihrer Façon, Ausrichtung und Herkunft?

Und erst, wenn die Zöglinge in ihrem biblisch gegründeten Gehen-lernen-im-Geiste weit genug fortgeschritten sein werden, werden sie beginnen können, das Neue Testament im Zusammenhang zu erblicken, dann auch die Bibel insgesamt, in ihrer Verschlingung des Anfangs ins Ende, so dass sie sich jetzt auch Text- und Gedankensprünge erlauben dürfen und also nicht mehr mühselig immer wieder dasselbe von Anfang bis Ende endlos durchkauen müssen, in den Gottesdiensten, Lesungen und Predigten, wie eine alte Leier, die man irgendwann nicht mehr hören kann, so dass man nach und nach lernt wegzuhören...

Und ganz allmählich sollten sie beginnen können, im Text „kunstvoll umherzuspringen“, vom Anfang zum Ende, und vom Ende zum Anfang, mal hierhin, mal dorthin, vergleichbar einem Violinvirtuosen, der mit der Leichtigkeit des Meisters den Lagenwechsel auf seinem Instrument beherrscht, vom tiefen, satten G-Leerton bis hinauf zu den allerhöchsten Lagen der Ober- und Flageolett-Töne der E-Saite?

Und dieser Fingerfertigkeit und Treffsicherheit seiner linken Hand muss eine Bogentechnik seiner rechten Hand unbedingt zur Seite getreten sein, wenn das Ganze nicht nur rein, sondern zugleich auch gut und kraftvoll klingen soll, über alle vier Saiten seines Instrumentes hinweg, G – D – A – E, oder „Geh du alter Esel“ ...

Vielleicht hätte man die Einübung der artes liberales im Universitätsbetrieb niemals aufgeben und ersetzen dürfen durch diese neumodisch-neuzeitliche Betonung des Fachspezifischen, unter Preisgabe des Fächerübergreifenden, das uns auch kein noch so ausgefeiltes Studium generale jemals wird wieder zurückbringen können? Wo soll denn der heute in der Schule vielbeschworene und hochgelobte Transfer jemals herkommen können, da wir ihn doch selbst, aus unserem Wissenschaftsprinzip heraus, abgeschafft haben!? Wie wollen wir jetzt noch Grenzen überschreiten?

Machten nicht einst die Sieben Freien Künste den Menschen und sein Denken frei beweglich? Indem unsere „wahren“ Gedanken zugleich auch „gut“ und „schön“ gefasst sein sollten, eingefasst wie Brillanten, und sei es „nur“, um sie ansprechend weiterzureichen? Anders als die heutige Wissenschaftsliteratur, die so zahlreich geworden ist wie der Sand am Meer, den niemand mehr auflesen, nur noch wegschaufeln kann, weil es eine Heidenarbeit geworden ist? Frei beweglich – so war einmal das menschliche Wissen. Es war einmal…

…durch dieses Trivium, bestehend aus Grammatik, Rhetorik und Dialektik resp. Logik, und darauf aufbauend das Quadrivium, bestehend aus Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie resp. Astrologie… Ich habe in diesem Text hier ein wenig versucht, ihre Luft zu schnuppern, ein wenig in ihre Atmo-Sphären hineinzuriechen…

Damals war der Mensch noch kommunikativ und geistig, heute ist er nur noch produktiv und wissenschaftlich erkennend, ohne innerliche Verbindung zum Ganzen des Seins und Beteiligung an ihm. Heute wird keine Erkenntnis mehr weitergereicht, vielmehr sprießt und sprosst sie wie das Gras einfach vor sich hin. Und weil wir unterscheiden verlernt haben, zwischen erlesenen Kräutern und wild wachsendem Unkraut, heißen wir alles gut und willkommen in unserem Urwald und Dickicht des Wissens. Und das ist schon alles, das ist die jämmerliche Quintessenz unseres Expertentums, unserer Wissenschaften. Die Menschheit wird zugrunde gehen, zusammen mit einem ganzen Haufen an Experten. Auch das ist eine Leistung. Das schafft wohl nicht jede Menschheit im Universum, nicht jedes animal rationale. Wir aber schaffen das, trotz Evangelium, oder: dem Evangelium zum Trotz?

entnommen: 3. ABC-Versuch einer neuen Wahrnehmung des alten Seins, aus der angenommenen Misere-Situation unserer Gegenwart der Moderne heraus, dort unter I 29.

I. SCHLUSS (Teil 1)
   27. Im Ende liegt der Anfang
   28. Das Rufen des Geistes - hindurch durch seinen Verruf
   29. Verschlingung des Anfangs ins Ende – Bogen-Technik und Lagen-Wechsel der Bibel
   30. Die Musik ertönt, indem das Instrument „verschwindet“
   31. Das Soziale muss zum Chorgesang werden
   32. Warum ich mein Buch nicht mehr „ordnungsgemäß“ zu Ende schreiben kann
   33. Das letzte Buch unseres Buches enthält unseren Geschichtsweg