Leseprobe 19

                                                                            Erfüllt Johannes den Petrus-Auftrag?

Freilich hat er daneben auch noch den Auftrag der Nachfolge erhalten, den wir den Jünger-Regelauftrag nennen können:

  • Schafe weiden = Sonder-Auftrag
  • Nachfolgen = Regel-Auftrag.

Petrus hat also zwei Aufträge erhalten, und – wir schauen jetzt ganz genau hin - er erhält sie nicht gleichzeitig, sondern nacheinander, den Sonderauftrag zuerst. Und jetzt könnten wir – kirchen- und reformationsgeschichtlich kritisch oder auch argwöhnisch geworden – die Frage aufwerfen, ob Petrus vielleicht in den (später gegebenen) Regelauftrag zurückgesetzt wird, weil Jesus sieht, dass er den Sonderauftrag doch nicht leisten kann, weil er ihn ja nicht einmal versteht?

Und jetzt müssen wir uns erinnern, dass Petrus ja gar nicht der einzige Jünger ist, der von Jesus einen Sonderauftrag erhält (resp. erhalten soll resp. erhalten hat), sondern da ist auch noch der unscheinbare Johannes, der biblisch so „flüchtig“ gezeichnet ist, dass er einem beim Lesen der Bibel gleichsam beständig durch die Finger rinnt, beim Versuch, ihn zu greifen, immer auf dem Sprung, sich dem Leser zu entziehen oder besser gleich die ganze Welt zu verlassen, so dass man ihm in die biblischen Texte hinein schon ganz genau nachspüren muss, nicht nur mit Lupe, sondern mit Zeitlupe, soll heißen: mit höchstmöglicher Geisteskonzentration, wenn man ihm folgen will.

Und tatsächlich dringt man dann – durch die nötige Konzentration - in den Sinn dieser johanneisch-biblischen Texte ein…, und am Ende ergibt sich aber etwas Anderes, denn man stellt fest: Man ist in Wahrheit gar nicht Johannes gefolgt, in sein Evangelium hinein, sondern dem Geist selbst, um den es in seinem Evangelium wesenhaft geht und der in die Johannes-Texte gleichsam hineingegossen ist. Weil aber der Geist wiederum von Christus gesandt ist, ist man faktisch – nur vermittelt über Johannes - Christus gefolgt, der nach wie vor der einzige und authentische Lehrer der Christenheit ist, lediglich, bis zur Wiederkehr, in der Erkenntnisvermittlung über den Heiligen Geist.

Wenn wir versuchen, Johannes in der Bibel zu fassen, so ist er uns gezeichnet in der Wegbewegung, die wir aber richtig erkennen müssen, nicht als Weltflucht, sondern als den Weg der Nachfolge, der Nachfolge in die Geistigkeit oder Geistwelt hinein. Dies ist der tiefere und eigentliche Sinn der Nachfolge, nicht der Tod, sondern das, was danach kommt, das Leben (in der Geistigkeit des Daseins).
...

Johannes ist den Weg der Nachfolge in den Geist oder ins Leben prototypisch gegangen. Dies ist sein Sonderauftrag gewesen, den er auch tatsächlich ausgeführt hat.

Und somit stellt sich geistes- und heilsgeschichtlich heraus, dass Jesu Auftrag an Johannes doch kein Geheimnis bleibt, sondern – zu gegebener Zeit – als Nachfolgeweg in den Geist hinein erkennbar wird, den uns dieser Musterschüler Jesu zuerst vorausgegangen ist und den er uns dann biblisch-schriftlich erhalten und nachgezeichnet hat, vermutlich sowohl im Johannesevangelium als auch in der Offenbarung des Johannes. Und aus diesem Grund wohl hat er die Ehren-Prädikation „der Jünger, den Jesus liebte“, und wir können uns diese Formel ergänzen: Johannes ist der Jünger, den Jesus liebt, weil er den Nachfolge-Auftrag wesenhaft verstanden hat und tut.

Dieser Regelauftrag der Nachfolge kann also unterschiedlich aufgefasst werden. Einmal im Sinne eines Martyriums, dann lautet er „Folge mir in den Tod.“ Er besagt dann, dass das Christentum nur durch irdische Widerstände hindurch erfolgreich sein und durchgesetzt werden kann, weil sich ihm die bestehenden Selbstverständnisse (und Gesellschaftsverhältnisse) noch widersetzen, noch zu weit entfernt von ihm stehen. Man muss daher das richtige Selbstverständnis vorleben und entschlossen entgegensetzen, auch auf die Gefahr hin, dabei das Leben lassen zu müssen. Dies ist, scheint mir, das übliche Verständnis der „Nachfolge“.

Man kann den Regelauftrag aber auch noch gewaltfrei verstehen, und dann bekommt er ein anderes Aussehen und einen anderen Inhalt: „Folge mir ins Leben.“ Er besagt dann: „Folge mir in den Geist, in die Geistigkeit und Geistwelt hinein, denn erst der Geist ist das Leben selbst.“ Dieser Sinn ist im Johannesevangelium auch beschrieben, wenn Jesus sagt, er müsse fortgehen, um den Geist zu senden und über den Geist die Christenheit zu sich zu holen, in die Geistwelt oder das Reich Gottes hinein.

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Beide „Nachfolge“-Arten sind richtig. Aber vielleicht können wir sie näher verorten resp. zeitlich einordnen? Solange das Christentum ein „Fremdkörper“ in der Welt ist, steht die „Nachfolge in den Tod“ im Vordergrund. Und wir können hier die anfängliche Katakomben-Situation des Christentums assoziieren und ihr entspricht auch, wie Christen in der römischen Arena zu Tode kamen. Wenn aber das Christentum kein Fremdkörper mehr in der Welt ist, weil es gesellschaftlich und kulturell adaptiert ist, dann ist die Zeit der „Nachfolge ins Leben“ gekommen, weil nun andere Lebensprioritäten und Aufmerksamkeiten in Betracht kommen bzw. möglich geworden sind.

Und nun fällt wiederum Licht auf den Weide-Auftrag, den wir inhaltlich bestimmt haben als Sicherung der Nahrungsaufnahme, wobei die aufzunehmende Nahrung der christliche Geist ist. Wird der christliche Geist irgendwann voll und ganz aufgenommen sein, d.h. zum eigenen Selbstverständnis, ja, zum Selbst des Menschen geworden, so ist der „Christ“ quasi „fertig“, und seine Existenz ist gekennzeichnet durch die (johanneischen) Kategorien und Kriterien des „Hinaufhörens“ und „In-Seins“, denn der Geist ist und bleibt von nun an im Christen im Fluss. Dann erst ist das Ziel der Heilsgeschichte erreicht, und der Mensch hat wieder ein intaktes, sein schöpfungskonstitutives „Stehen im Sein“ zurückerlangt, wie es auch die himmlischen Heerscharen haben.

entnommen: 3. ABC-Versuch einer neuen Wahrnehmung des alten Seins, aus der angenommenen Misere-Situation unserer Gegenwart der Moderne heraus, dort unter I 35.

I. SCHLUSS - Teil 1

   27. Im Ende liegt der Anfang
   28. Das Rufen des Geistes - hindurch durch seinen Verruf
   29. Verschlingung des Anfangs ins Ende – Bogen-Technik und Lagen-Wechsel der Bibel
   30. Die Musik ertönt, indem das Instrument „verschwindet“
   31. Das Soziale muss zum Chorgesang werden
   32. Warum ich mein Buch nicht mehr „ordnungsgemäß“ zu Ende schreiben kann
   33. Das letzte Buch unseres Buches enthält unseren Geschichtsweg

I. SCHLUSS - Teil 2

   34. Die Schlüsselgewalt liegt im Erkennen
   35. Warum verweigert Jesus seinem „Felsen Petrus“ die Kommunikation?
   36. Wird die Petrus-Tradition von den Pforten der Unterwelt überwältigt werden?