Lässt unsere Wissenschaft ihre eigenen Erkenntnisse verkommen?
Denken wir uns - anschaulich vereinfacht - „die Wissenschaft“ als bestehend aus 100 Forschern resp. Forschungsrichtungen. Dann gibt es auch klare Erkenntnis-Zuordnungen, wir könnten auch sagen: Zuständigkeits-Abgrenzungen innerhalb dieser 100 Wissenschaftszweige.
Nun ist es wissenschaftsgeschichtlich passiert, dass ein Sigmund Freud „das Unbewusste“ entdeckt hat, und weil dieses ..."Unbewusste" offensichtlich zum seelischen Bereich des Menschen gehört, also zur Psychologie, ist es also nun am Psychologen, dieses näher zu erforschen, und so kommt die Tiefenpsychologie als neue Untersparte zur Psychologie dazu. Also handelt unsere Wissenschaft hier nach der Maxime: „Du, Tiefenpsychologe, untersuchst stellvertretend für uns alle das Unbewusste, und…“ - jetzt kommt die Crux des Arbeitsteilungsprinzips – „…wir anderen 99 machen einfach so weiter wie bisher, so nämlich, als gäbe es kein Unbewusstes als blinden Fleck unserer selbst und wir alle hätten eine souveräne, herrschaftliche Ratio.“ Die „Erkenntnis des Unbewussten“ wirkt somit - wissenschaftsorganisatorisch - nur innerhalb der Psychologie weiter, alle anderen Wissenschaften bleiben hiervon unberührt und in sich unverändert.
Dies ist unsere moderne Wissenschaftspraxis? Wenn ein Wissenschaftszweig einen gravierenden Fortschritt tut, so greifen die anderen Wissenschaftszweige ihn nicht auf, um ihn in sich zu integrieren und auf dieser neu gewonnenen, verbesserten gemeinsamen Wissensgrundlage dann neu weiterzumachen. Jeder bleibt bei seiner Forschung und Fragestellung, und sie wird durch die gefundenen Antworten der anderen nicht tangiert und nicht verändert. Also haben wir streng genommen nicht eine Wissenschaft, sondern viele Wissenschaften, die mit den andern nichts zu tun haben und auf ihrem eigenen Teile-Blick beharren.
Drehen wir das Rad der Wissenschaftsgeschichte ein paar Jahrhunderte zurück. So ist es wissenschaftsgeschichtlich auch passiert, dass ein Nikolaus Kopernikus konstatierte, dass sich die Erde um die Sonne drehe, nicht umgekehrt. Und wenn wir nun unser gegenwärtiges, arbeitsteiliges Wissenschaftshandeln damals schon praktiziert hätten (indem die Gelehrten damals schon keinen allgemeineren, fachübergreifenden Bildungshorizont mehr gesucht hätten), so wäre folgender Handlungsgrundsatz herausgekommen: „Du, Astronom, erforscht uns die Heliozentrik weiter, und wir anderen 99 bleiben zwischenzeitlich bei der Geozentrik als dem Wahren“…?
Wir sehen daran, dass das Delegations- oder Arbeitsteilungs-Prinzip in der Wissenschaft eigentlich gar nicht funktionieren kann: Eine Erkenntnis hier hat Auswirkungen auf das Erkennen dort, und so muss sie von allen Einzelwissenschaften rezipiert und ins eigene fachspezifische Erkenntnisstreben mit hereingenommen werden. Keine Einzelwissenschaft kann sagen, die Erkenntnisse der anderen interessierten sie nicht, berührten sie nicht, gingen sie nichts an.
Und so können wir als einen weiteren, wichtigen Punkt in unserer Sichtung des Erkenntnisstrebens selbst festhalten: Dieses Erkenntnisstreben bleibt nicht sich selbst gleich, sondern entwickelt sich in sich selbst weiter (sollte es jedenfalls), und zwar durch sein eigenes Tun, durch sein Auffinden von Erkenntnissen.
Und vermutlich sagen dies unsere Forscher und Wissenschaftler auch nicht einmal, dass sie die Forschung der Anderen nichts anginge, aber sie stehen trotzdem auf dem Standpunkt: „Meine Sache ist mein Einzelgegenstand. Die Wissens-Zusammenführung ist meine Sache nicht. Das sollen Andere tun. Ich habe dafür keine Zeit oder will mir dafür keine Zeit nehmen, denn mein (hochinteressanter) Gegenstand absorbiert schon meine Erkenntniskräfte ganz und gar.“
In unserem Ameisen-Vergleich würde dies bedeuten, dass die einzelne Ameise sagt: Meine Suche für uns alle absorbiert so sehr meine Kräfte, dass niemand von mir verlangen kann, dass ich irgendwann zu den Anderen zurückgehe, um sie über meine Schätze zu informieren, denn ich könnte dadurch wertvolle Zeit für meine eigene Forschung und Schatz-Sichtung verlieren. Daher sollen Andere diese Rückinformation geben, irgendwann später, ich jedenfalls nicht - womit dann das Suchen als solches tatsächlich ad absurdum geführt ist, indem das gemeinsame Erkenntnis-Ziel aus dem Auge verloren wäre.
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Und wenn wir nun bedenken, dass ausgerechnet diejenige „Forschungsrichtung“, die das Große und Ganze definitiv und konstitutiv im Auge behalten will, die Philosophie, aus dem Erkenntnis- oder Wissenschaftsverband mehr oder weniger herausgefallen ist, so können wir fragen, ob nicht auf diese Weise sozusagen das existenzielle Forscher-Selbst aus unserer Wissenschaft eliminiert wurde, so dass die Menschheit heute eine Unmenge an Erkenntnissen aufstaut, die niemand mehr organisch-lebendig in die Existenz des Menschen hinein- und zu einer Bildung im Sein zusammenführt?
entnommen: 2. Das Streben
nach Erkenntnis, 11. Muss unsere Wissenschaft fürchten,
überholt zu werden?
2. Das Streben nach
Erkenntnis
1. Thema dieses Menüpunktes: Das Streben nach Erkenntnis
2. Schülersein (Lernen) und Lehrersein (Lehren) fallen in
eins
3. Ist Fragenstellen eine Kunst?
4. Geistesgeschichtliches Lernen führt zu
Erkenntnis-Potenzierung und Bildung
5. Hängt die Qualität einer Forschung an der Qualität ihres
Fragens?
6. Geistesgeschichtliche Veränderung unserer
Blickrichtung
7. Eine große geistesgeschichtliche Umwälzung liegt hinter
uns
8. Enge unserer Erkenntniserwartung trotz Weite unserer
Wissenschaft?
9. Haben wir die platonische Höhle verlassen oder sind wir
jetzt erst richtig in ihr drinnen?
10. Ist unsere Art,
wissenschaftlich zu denken, geozentrisch
geblieben?
11. Muss unsere Wissenschaft
fürchten, überholt zu werden?
12. Vorläufiger Schluss und Ausblick