Leseprobe 22

                                                          Kants schmackhafte Zubereitung seines Wissenschafts-Abfalls

Deswegen klotzt Lessing nicht mit einem die gebildete Welt seiner Zeit aufhorchen lassenden Wissens-Glaubens-Slogan wie Kant,

„Ich musste also    das Wissen aufheben    um zum Glauben    Platz zu bekommen.“ (Vorrede zur zweiten Auflage der KrV 1787)

Externer Link zum Text: Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft - Vorrede zur zweiten Auflage, Textstelle siehe ab 14. Zeile von unten, Projekt Gutenberg-DE - https://www.projekt-gutenberg.org/kant/krvb/krvb001b.html, abgerufen am 20.03.2024

der nicht einmal der wahren Intention Kants entspricht, der nämlich mit dem Glauben nichts am Hut hatte. Der Schlagspruch verrät vertriebliche oder Public Relations-Absichten, nachdem die Erstauflage der KrV (1781) von den Zeitgenossen offenbar noch nicht als „kopernikanische Wende“ – so Kants Selbsteinschätzung - gewürdigt worden war. Näher besehen bietet Kant hier der Theologie und Glaubensgesellschaft seiner Zeit sogar seinen eigenen „Wissenschafts-Abfall“ als geistig wertvolles Produkt an, denn der „Platz“, von welchem er spricht, resultiert zwar aus seinem Denken, aber weder ein „Platzschaffen für den Glauben“ noch ein „Aufheben des Wissens“ waren seine ausdrückliche Wissenschaftsabsicht, aufheben wollte er vielmehr nur das metaphysische Pseudowissen, auf gar keinen Fall aber das Wissen an sich, dessen Sicherung in Wahrheit sein tiefstes Wissenschaftsanliegen war und blieb.

Und der „Platz für den Glauben“ ergibt sich schlicht aus Kants Idee einer „Erkenntnisgrenze“, die m.E. auf einem sinnlichen Missverstehen der Metaphysik beruht, als könne nämlich die menschliche Vernunft das Nahe und Nächste besser und richtiger beurteilen als das Weite und entfernt Liegende. Daher auch sein Missverständnis der Philosophie / Metaphysik als Versuch einer Erkenntniserweiterung, quasi vom noch gut erkennbaren Menschlich-Diesseitigen hinaus ins verschwommen werdende Göttlich-Jenseitige. In Wahrheit betrifft ein falsches Urteil zugleich das Nahe und das Ferne, umgekehrt ebenso ein richtiges Urteil. Und ziehen wir jetzt Lessing bzw. die Bibel im Vergleich heran, so können wir sagen: Im Glauben ist der menschlichen Vernunft im vorab eine Schärfe in der Fernsicht (höheres, fernkünftiges Wissen) gegeben, die sie aus sich selbst heraus schlicht nicht haben kann. Und wenn Kant die Bibel in seinem Vernunft-Denken unberücksichtigt lässt (anders Lessing), dann kann er freilich auch zu keiner Fernsicht (und keiner "Erkenntniserweiterung") kommen, und so resultiert seine ...ja,  unchristliche, heidnische „Erkenntnisgrenze“.

Streng besehen finden wir also in Kants Wissens-Glaubens-Slogan eine bewusst leger-unwissenschaftliche, über den Daumen gepeilte Formulierung vor; böse geäußert oder kritisch besehen, einen verkaufsstrategischen Werbesatz, der einer „Händler- und Schwindler-Mentalität“ entspricht, die es mit der Wahrheit nicht unbedingt so genau nimmt, weil ihr Ziel das Feilbieten einer Ware ist, hier vorgenommen von einem Philosophen, der sein Haupt-Denk-Werk endlich an den Mann bzw. die Gesellschaft bringen möchte. Der Werbespruch öffnet dem Missverstehen Tür und Tor, aber das ist Kant hier egal, weil er hier als Händler spricht, der eine Ware anbieten will, oder als ein Sophist, der mit seinem Wissen quasi Handel treibt, zwar nicht, um seinen Lebensunterhalt damit zu bestreiten, aber, um philosophischen Ruhm zu erwerben, bezeichnet er doch in derselben Vorrede die Metaphysik als einen

„Kampfplatz …, der ganz eigentlich dazu bestimmt zu sein scheint, seine Kräfte im Spielgefechte zu üben, auf dem noch niemals irgendein Fechter sich auch den kleinsten Platz hat erkämpfen und auf seinen Sieg einen dauerhaften Besitz gründen können.“ (Vorrede zur zweiten Auflage der KrV 1787)

Externer Link zum Text: Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft - Vorrede zur zweiten Auflage, Textstelle im 9. Absatz, beginnend mit "Der Metaphysik, einer ganz isolierten spekulativen Vernunfterkenntnis...", Projekt Gutenberg-DE - https://www.projekt-gutenberg.org/kant/krvb/krvb001.html, abgerufen am 20.03.2024

Kant möchte sich also mit seiner KrV „seinen Platz“ in der Philosophiegeschichte „erkämpfen“, was aber ein völlig falsches Bild des Erkennens und Verstehens ergibt, als käme es hier darauf an, andere aus dem Felde zu schlagen oder sie in ihrem Denken zu widerlegen, anstatt mit ihnen zusammenzuwirken, sie in ihrem Denken zu bestätigen und auf ihren Früchten und Reflexionen aufzubauen, so dass Wissenschaft, Philosophie und Erkenntnisstreben allgemein als das sichtbar werden, was sie – bei richtiger Auffassung - sein können und sollen: sowohl ein menschheitliches Gesamtanliegen als auch eine gesellschaftsübergreifende Gemeinschaftsleistung, bei welcher die Individuen sich besser hübsch zurücknehmen, anstatt hervorstechen und sich profilieren zu wollen, denn ihr komplettes Denken wäre ohne die Vorleistung der Anderen überhaupt nicht möglich gewesen, so dass sie sich einen „Ruhm“ zugeschrieben wissen wollen würden, der „ihnen“ gar nicht zukommt.

Der „Geist“ ist keine Plattform, auf der ein „Kampf ums Dasein“ auszutragen wäre. Und wenn in der Philosophie „gekämpft“ werden muss, dann findet dieser Kampf „in sich selbst“ statt. Der Philosoph muss sich selbst als seinen größten und im Grund sogar einzigen Gegner erkennen, nicht die Anderen, die auch nur diesen selben „Kampf in sich selbst“ ein Stückweit fortzuführen bemüht waren. - Interessanterweise schimmert hier auch Lessings Übungs-Verständnis der Spekulation durch („seine Kräfte im Spielgefechte zu üben“), aber das mag Zufall sein, ich weiß es nicht.

entnommen: 3. ABC-Versuch einer neuen Wahrnehmung des alten Seins, aus der angenommenen Misere-Situation unserer Gegenwart der Moderne heraus, dort unter E 8 c.

E. ANGENOMMENE MISERE-SITUATION
   8. Beruht unsere Isolationssituation auf einer kosmischen Interaktion mit uns?
      a) Wir haben zwei kosmische Denkmodelle, wobei unsere Aufzählung falsch ist
      b) Zur methodischen Erinnerung
      c) Kann eine Verkehrung des Seins spiritualistisch gesehen Sinn machen?