Leseprobe 23

Hat unser modernes Ich noch Luft nach oben?

Parallel dazu sollten wir mit unserem Denken (d.h. mit unserer uns allen gemeinsamen Denkfähigkeit) auch einen prüfenden Blick in das Ich-Gott-Verhältnis hineinwerfen, das wir heute geneigt sind, als neuzeitlich gewordene Konstante zu betrachten, die nun einen Endzustand oder ein Ausgereift sein des Menschseins markiere, wobei die einen den Gott-Pol ganz fallen gelassen haben, die andern hingegen aufrechterhalten wollen. Aber: Handelt es sich denn um eine Konstante? Musste nicht erst eine längere Geschichtszeit vergehen, ehe der (monotheistische, nun ja, trinitarische) Gott-Pol überhaupt als solcher gebildet war? Und dauerte es nicht nochmals eine längere Geschichtszeit, ehe der Ich-Pol ausgebildet war (was man allzu leicht übersieht)? Und wer im Universum könnte uns nun verraten, ob unser heutiges Ich-Bewusstsein tatsächlich ein Endzustand sei?

Möglicherweise mancher Theologe und Pfarrer, der wohlwollend zum Common Sense hinüberblickt und ihn - sprachlich und „sachlich“ korrekt - als seinen Mitmenschen, als Schwester und Bruder im Blick hat und der auf diese Weise sieht, wie viele Gläubige sich in ihrem heutigen Verhältnis zu Gott sozusagen in sich stabilisiert haben, woraus der Schluss naheliegt, das Ich-Sein des Menschen müsse wohl doch schon fertig sein.

Der Tiefenpsychologe eher nicht, er würde stattdessen uns gegenüber anmahnen: Unser Ich muss seine beiden Problematiken erst noch lösen – das Unbewusste und das Über-Ich. Sie sind ungelöst, sie sitzen fest, starr und steif in sich, „fundamentalistisch“, gerade auch bei den Gläubigen. Wir müssen sie erst noch lockern und lösen…

…wenn anders wir uns in unserer Zukunft im Sein wahrhaft binden können wollen, so wäre vielleicht philosophisch noch zu ergänzen.

Alle drei müssen keine Konstanten sein, nur weil sie bei ihrer Entdeckung durch Sigmund Freud – gleichsam fotografisch – als diese Momentan-Dreiheit erstmals in den Blick kamen.

Liegt also womöglich noch Veränderungs- bzw. Entwicklungspotenzial im gegenwärtigen Ich-Gott-Verhältnis? Warum sollte die darin jetzt sichtbar gewordene Dynamik ausgerechnet hier und heute am Ende sein? Weil wir hier stehen, zusammen mit unserem (schwärmerischen) Wunsch, schon fertig zu sein oder uns selbst schon voll überblicken zu können…?

Niemand soll unseren scharfstsichtigen Wissensstand von heute jemals überholen können! Unser kritisches Reflexionsniveau ist derart hoch und scharf geworden, dass wir schlechterdings „unüberholbar“ geworden sind! Dieser unser "aufgeklärter Grundsatz" gilt nicht nur für unsere Vorfahren, sondern auch für alle, für jedwede Nachkommen…

Möglicherweise also haben wir ja – irgendwo versteckt in uns – noch… Luft nach oben? Und weil es momentan „Luft“ ist, - sozusagen ein Leerraum, eine Aussparung unserer selbst, die wir noch nicht selbst geworden sind -, meinen wir, da sei nichts – nicht nur jetzt, sondern dauerhaft, prinzipiell?

Und wenn es mit uns so stünde, wie wir es jetzt – vorauslaufend im Gedanken – vor uns hingestellt haben, dann müssten wir nur noch das Münchhausen-Prinzip des Geistes zur Anwendung bringen können, um aus unserem momentanen „Jenseits unserer selbst“ (in der genannten Innen-Ich-Dreiheit: Es – Ich - Über-Ich und Außen-Ich-Zweiheit: Ich - Gott) ins… „Diesseits unserer selbst“ hinübergelangen zu können…?

…z.B. indem ein noch unbekanntes und noch nichtexistierendes Ich, also ein noch moderneres Ich, als wir es schon haben und sind,

…welch ein Frevel an unserem aufgeklärten Selbstverständnis…

…gelernt haben wird, seine beiden Wurmfortsätze in sich auf- und hinein-, vielleicht auch zurückzunehmen?

Aber selbst die Gläubigen und Theologen unter uns denken den Menschen ja immer noch nicht ernsthaft als ein Geistwesen…

entnommen: 2. Das Streben nach Erkenntnis, 10. Ist unsere Art, wissenschaftlich zu denken, geozentrisch geblieben?

2. Das Streben nach Erkenntnis
1. Thema dieses Menüpunktes: Das Streben nach Erkenntnis
2. Schülersein (Lernen) und Lehrersein (Lehren) fallen in eins
3. Ist Fragenstellen eine Kunst?
4. Geistesgeschichtliches Lernen führt zu Erkenntnis-Potenzierung und Bildung
5. Hängt die Qualität einer Forschung an der Qualität ihres Fragens?
6. Geistesgeschichtliche Veränderung unserer Blickrichtung
7. Eine große geistesgeschichtliche Umwälzung liegt hinter uns
8. Enge unserer Erkenntniserwartung trotz Weite unserer Wissenschaft?
9. Haben wir die platonische Höhle verlassen oder sind wir jetzt erst richtig in ihr drinnen?
10. Ist unsere Art, wissenschaftlich zu denken, geozentrisch geblieben?
11. Muss unsere Wissenschaft fürchten, überholt zu werden?
12. Vorläufiger Schluss und Ausblick