Leseprobe 25

                                                                    Zum Wissenschaftskriterium der Nachprüfbarkeit

Und zum Dritten frage ich mich: Steht denn „die Wissenschaft“ auf dem Standpunkt, sie selbst befinde sich auf der „Höhe der Zeit“, so dass es nichts und niemanden geben kann, der „über sie hinaus“ sein könnte? Dies trifft genau dann zu, wenn sich „unsere Besten“ oder sagen wir: alle, die etwas an Erkenntnis und Wissen beizusteuern haben, sich in diese unsere Wissenschaft versammelt haben. – Sollen wir dies annehmen von dieser "unserer" Wissenschaft: „Alle, die Erkenntnis gefunden haben, gehören zur Wissenschaft“? Setzt es nicht wiederum voraus, die Wissenschaft sei „das Beste, was wir haben“ – werde also allgemeinverbindlich so gesehen? - Sollen wir das auch allgemeinverbindlich annehmen: „Die Wissenschaft ist das Beste an Geist, was wir haben“?

Wer setzt denn das fest - die Wissenschaftsgemeinschaft selbst? Dann müsste man doch strenggenommen sagen: „Wenn unsere Besten in die Wissenschaft versammelt sind, dann ist sie auch das Beste, was wir haben.“ Zugleich gilt dann aber auch die Umkehrung: „Wenn nicht, dann nicht.“ Und dann wiederum könnte oder müsste man fragen: Warum denn sollte irgendein „Guter“ oder einer, der etwas an Erkenntnis und Wissen menschheitlich beizutragen hat, nicht dazugehören wollen? Welche Kriterien könnte er haben? Welche Vorbehalte gegenüber „unserem Besten“ und gegenüber „unseren Besten“…? Stillschweigend ist also schon das Selbstverständnis vorausgesetzt: „Es kann uns - der Wissenschaftsgemeinschaft gegenüber - keine geistigen Vorbehalte geben, die dazu führten, dass menschliche Geister sich von uns fernhielten und brauchbares menschliches Erkennen jenseits von uns und ohne unsere Kenntnisnahme realisierten und umsetzten.“

Die Frage, die ich hiermit aufwerfen möchte, betrifft die von mir nach wie vor verfolgte Möglichkeit eines Spiritualismus, der grundsätzlich einmal so zu verstehen ist, dass der Geist das Erste und Grundlegende ist, aus welcher sich dann eine entsprechende Verfassung des Seins oder Seinsstruktur ergibt, wonach die Geistwesen aufeinander hingeordnet sind bzw. ineinander bestehen, entsprechend den oben genannten Kategorien des Hinaufhörens und In-Seins. Und der Mensch muss dann als ein Sonderfall verstanden werden, weil sich für ihn – als leibliches Sinneswesen – sein Geistsein nicht von selbst versteht bzw. von ihm sogar geleugnet werden kann, was für alle anderen Geistwesen, die sich innerhalb der Geistwelt stehend und existierend wissen, eo ipso unmöglich ist.

Der Mensch bildet ja möglicheweise eine Übergangsstufe zum Geistsein, die gelingen kann, aber auch misslingen kann, und jeder Mensch muss sie sich selbst individuell erwerben. - Im Hintergrund dieser Auffassung steht freilich der christliche Glaube, inkl. der Überzeugung, Erkennen sei als "Sachangelegenheit" a priori falsch definiert, nämlich aus dem Atheismus und Materialismus heraus, der mehr ein geistesgeschichtliches Zufallsprodukt ist, welchem auch unsere Wissenschaftler "unterliegen" und weniger eine wissenschaftliche Prinzipiensetzung. Und im christlichen Glauben ist dieser Atheismus und Materialismus dialektisch erkannt und anerkannt als Defizitsituation des menschlichen Geistes.

Auf diese Weise ergeben sich vielfältige Unterschiede oder Grade im Fortgeschritten sein in Richtung Individualisierung des Geistes resp. Geistseins. Und es mag dann verschiedene allgemeine Geistniveaus geben, die beispielsweise einer bestimmten Zeit zuzuordnen sind, oder auch einer Lebensalterstufe (z.B. „allgemeine Hochschulreife“), aber es gibt nicht ein „oberstes Endniveau des Geistes“, weil dieser selbst im Fluss ist und bleibt, so dass man bestenfalls vom Durchlaufen der „Menschheitsstufe im Geistsein“ sprechen könnte (und eine entsprechende Terminologie findet sich tatsächlich auch in der Anthroposophie).

Und weil der Geist nur individuell errungen werden kann, werden auch die Fortschritte individuell - und somit ungleichzeitig - errungen, und innerhalb spiritualistischer Weltanschauungen gibt es auch einen Konsens darüber, dass es im Verlauf des geistigen Fortschreitens zu höheren Leiblichkeitserfahrungen kommt, die über sog. Energiezentren (Chakren) organisiert sind und dann auch wahrgenommen werden usw.

Und das Wissenschafts-Kriterium der Nachprüfbarkeit hätte sogar hier weiterhin seine Gültigkeit, nur dass es nicht mehr so einfach durch das bloße Denken oder die Ratio oder am Schreibtisch, Computer und im Vorlesungssaal oder Seminarraum gehandhabt werden kann, sondern: Der Wissenschaftler müsste sich in diesem „Wahrheitsfall des Spiritualismus“ dazu bequemen, eine innere Entwicklung über Jahre oder gar Jahrzehnte hinweg zu durchlaufen, vielleicht seine kompletten Lebensgewohnheiten aufgeben und umstellen, um jene menschliche und auch geistige Reife zu erlangen, auf welcher eine solche Leiblichkeitserfahrung überhaupt sich einstellen kann, um sie so und dann erst selbsteigen überprüfen zu können?

...wobei beim Anthroposophen als eine mögliche Ausnahme auch genannt ist, dass sich beim einen oder andern Menschen solche höheren Leiberfahrungen auch spontan einstellen können, ohne dass der Betreffende entsprechende langjährige Übungen gemacht hat. Sie sind dann eben Resultat früherer Leben, die ja in Summe auch als eine Art langjährige Übung betrachtet werden können...

Wie ist das also mit dem „Kriterium der Nachprüfbarkeit“? Wird nicht das Gros unserer Wissenschaftler in diesem "Fall des Spiritualismus" sagen: „Ah, nein, dies will ich dann doch lieber nicht selbst nachprüfen…“ – Und was sagt uns das dann über die „Wissbegier“ unserer eifrigen Wissenschaftler resp. über die „Gründlichkeit“ unserer Wissenschaft? Der (dem Zeitgeist gemäß bereits materialistisch infiltrierte) Herr Professor wird sich sagen: „Ich bin doch nicht blöd und forsche Jahrzehnte in eine Richtung, in der wahrscheinlich doch nichts herauskommen wird. Denn was hätte ich davon? Ich hätte „mein Leben“ und „meine Wissenschaftsexistenz“ in den Sand gesetzt! Das kommt überhaupt nicht in Frage. So wichtig ist mir das Ideal "die Wissenschaft" dann doch nicht, dass ich bereit wäre, mein Leben dafür zu vergeuden, damit sie alle Möglichkeitsrichtungen erschöpfend durchlaufen kann. Soll sich doch um die „Gründlichkeit“ unserer Wissenschaft (resp. um „unwahrscheinliche Ausläufer" der allgemeinen Wahrheitssuche) kümmern, wer immer will – ich jedenfalls nicht!“ (Stichwort: Erkenntnis-Nichterwartung).

So zeigt sich, dass dieses Kriterium der Nachprüfbarkeit nicht eindeutig ist, sondern sich verändert, je nachdem, unter welcher weltanschaulichen Voraussetzung es ins Auge gefasst wird: Im Materialismus-Fall kann man alles mit seinem bloßen Denken nachprüfen, im Spiritualismus-Fall müsste man, um die Nachprüfung durchführen zu können, womöglich mit seinem kompletten Leben ran (und hier gibt es dann auch keinen "Feierabend" und keinen "Urlaub", und auch kein "Forschungs-Freisemester", und nicht, und nicht, und nicht...). Ich will einmal behaupten, aus Sicht des Materialismus gilt die Ratio als der Gipfel des menschlichen Geistes, und hier hat dieses sog. Kriterium der Nachprüfbarkeit gegenwärtig seinen Sitz und seine Relevanz – gültig nur für eine Wissenschaftsgemeinschaft, die tief ins materialistische Denken gekommen ist und eine mögliche Alternative zu sich selbst nicht sehen kann oder auch nicht sehen will.

Aus Sicht eines Spiritualismus sieht das aber ganz anders aus. Und wenn der Spiritualismus wahr sein sollte, dann wird unsere (dem Materialismus verfallene) Wissenschaftsgemeinschaft fälschlich und vergeblich annehmen, das Höchste und Beste, was die Menschheit an Erkenntnis und Wahrheit aufzubieten habe, versammle sich in sie.

Und „die Wissenschaft selbst“ kann sich auch nicht „neutral“ geben, als spiele für sie diese Frage eines grundsätzlichen Materialismus oder Spiritualismus keine Rolle. Denn „Objektivität“ – die will sie ja auch! – wird im Falle des Materialismus genau dann erreicht, wenn man die Materie (oder Energie etc.) als Seinsprinzip ansetzt, im Falle des Spiritualismus aber genau dann, wenn der Geist als Seinsprinzip angesetzt wird. Und sollte es nun der „Geist“ sein, so betrifft die Geist-Werdung nicht nur das Denken, sondern das Leben selbst (inklusive des – wissenschaftlich nicht recht händelbaren - Unbewussten), und der Wissenschaftler wird hier an „sein Eingemachtes“ ranmüssen, an die Bequemlichkeiten und Lebensgewohnheiten seiner bloßen Ratio, falls er irgendetwas erkennen können wollen sollte, aber vermutlich lieber gar nicht will, weil sein „Steckenpferd Wissenschaft“ dann nicht mehr Spiel und Spaß bliebe, - Bezahlt werden fürs eigene Hobby -, sondern womöglich in Mühsal und Qual „ausarten“ würde, so dass eine "solche Wissenschaft" gar nicht mehr lebenswert und wohlgefällig wäre usw. usw.

Vielleicht also setzt man dann als „ernstzunehmender Wissenschaftler der Gegenwart“ doch lieber auf den Materialismus, der schön „lebensbequem“ ist, weil man ihn im bloßen Denken abhandeln kann, im „Überbau“, während man bei der (oder zur) Überprüfung des Spiritualismus womöglich sein komplettes Leben erst einmal umkrempeln müsste, um auch nur eine Chance zu haben, ihn in seinem – die Leiblichkeit des Menschen erfassenden und verändernden – tieferen Geistwesen auch nur ansatzweise zu Gesicht zu bekommen?

Wenn ich recht sehe, hat sich „die Wissenschaft“ bis heute nicht dazu geäußert, wie sie weltanschaulich an das Sein, den Kosmos, die Wirklichkeit herantrete, ob materialistisch oder spiritualistisch, wobei sie sich m.E. faktisch materialistisch gibt. Nur: Wie sollen „Eindeutigkeit“ und „Exaktheit“ jemals erreicht werden können, wenn man sich selbst weltanschaulich indifferent gibt und diese Indifferenzhaltung gegenüber dem Ganzen des Seins als Objektivität, also Sachangemessenheit betrachtet und ausgibt? Man kann nicht ohne eine Anschauung an die Wirklichkeit herantreten, so, wie man an einen Stuhl nicht angemessen, nicht objektiv herantreten kann, wenn man nicht weiß, dass er ein „Ding zum Sitzen“ ist. Diese Idee muss an das sinnliche Ding „Stuhl“ herangetragen werden, dann und nur dann ergibt sich eine „objektive Erkenntnis“. Analog muss entweder der Materialismus oder der Spiritualismus an das Ganze des Seins herangetragen werden, damit Hoffnung auf eine mögliche objektive Erkenntnis des Seins bestehe.

entnommen: 3. ABC-Versuch einer neuen Wahrnehmung des alten Seins, aus der angenommenen Misere-Situation unserer Gegenwart der Moderne heraus, dort unter G 16.

G. NEUE WAHRNEHMUNG
   14. Zu meiner Person
   15. Zu meinem Denken
   16. Zum Wissenschaftskriterium der Nachprüfbarkeit
   17. Rechenprobe „Geburtshoroskop“: Nachweis einer kontinuierlichen Verbindung des Unten mit dem Oben?
   18. Offene Frage