Leseprobe 26 Hören und Verstehen

                                                        Hören des Wortes Gottes versus Verstehen des Wortes Gottes

Ist man nun zu der Überzeugung gekommen, die Bibel sei geistreich (im Sinne von gedankenreich), indem sie auf Schritt und Tritt das Denken dazu anregt, Buch und Text zu verlassen, man könnte auch sagen: vom Buchstaben zum Geist zu wechseln, dann muss man einzelnen Formulierungen einfach fragend nachgehen, anstatt sie schlicht und gedankenlos einfach hinzunehmen und leiernd herunterzubeten, so z.B. im Gleichnis vom Sämann:

"Zu jedem Menschen, der das Wort vom Reich hört und es nicht versteht, kommt der Böse und nimmt weg, was diesem Menschen ins Herz gesät wurde; bei diesem ist der Samen auf den Weg gefallen. ...  Auf guten Boden ist der Samen bei dem gesät, der das Wort hört und es auch versteht; er bringt Frucht" (Mt. 13,19.23; Herv. v. Verf.)

Einheitsübersetzung © 2016 der Katholischen Bibelanstalt GmbH, externer Link: https://www.bibleserver.com/EU/Matth%C3%A4us13, abgerufen am 18.06.2024.

Ich las diese Sätze, diese Formulierungen und fragte mich: Warum sagt die Bibel denn so etwas? Wenn jemand an mich heranträte, um mir etwas zu sagen und einleitend spräche "Hör mir gut zu und versteh bitte auch, was ich dir sagen will", so würde ich ihm antworten: "Willst du mich beleidigen? Wenn du ordentlich zu mir sprichst, werde ich doch selbstverständlich das von dir Gehörte auch verstehen können! Warum also machst du solche überflüssigen Worte? Etwa, weil du mit andern schon die Erfahrung gemacht hast, dass du selbst schwer verständlich bist, dich also selbst unklar und missverständlich ausdrückst?" In Bezug auf die Bibel wäre eine solche Antwort und Reaktion sicherlich unangebracht, und so bleibt die Frage: Warum formuliert sie so? Und dann muss man eigentlich annehmen, dass ein "biblisches Höher-Wissen" zugrundeliegt, das zwischen einem "Hören des Wortes Gottes" und einem "Verstehen des Wortes Gottes" unterscheidet - eine "Auslegung", die sich mir aus meiner römisch-katholischen Herkunft heraus unmittelbar nahelegte, genauer: wie von selbst verstand. - An dieser Bibelstelle, der Wendung des "Hörens und Verstehens", machte ich für mich selbst die Entdeckung, dass es Sinn mache, in der Bibel zu "schürfen", indem sie mir so zu verstehen gab: "Du bist nicht außergewöhnlich dumm oder ungelehrig, wenn du Biblisches zwar hörst, aber (zunächst) nicht verstehen kannst, sondern diese Möglichkeit und Gefahr besteht ganz allgemein!"

Nach der Bibel sollten die Christen demnach damit rechnen, dass es nicht nur ein "verstehendes Hören" gibt, sondern auch noch ein "nichtverstehendes Hören"!? Und setzt man nun diese in der Bibel gemachte Beobachtung als eine Erkenntnis an, z.B. als "Bibelerkenntnis 1", so kann und muss man weiterfragen: Was sagt sie denn sonst noch? Und so kann man dann anfangen, 1 und 1 zusammenzuzählen und zuzusehen, was dabei am Ende als "Bibelsinn" herauskommen mag...

Speziell für mich legte sich solches biblische Nachfragen nahe, indem ich aus meiner römisch-katholischen Herkunft zu der Auffassung gekommen war, im Glauben sei kein rechtes Verstehen enthalten, vieles sei unverständlich, nur sei es eben als Dogma zu glauben. Und es sträuben sich mir auch heute noch die Haare, wenn ich (auch) in einem (evangelischen) Gottesdienst mitbeten soll: "Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, sei mit euch" etc., selbst wenn diese Formulierung aus dem Philipperbrief stammt (Phil. 4,7) und Martin der Übersetzer sich mit Paulus dem Schreiber hier einig war. - Es macht für mich gar keinen Sinn, an die Bibel heranzutreten mit der Auffassung, das, was an Geist in ihr liege, sei im Grunde unverstehbar!? Wenn ich so sprechen (oder auch bitten und predigen) höre, denke ich mir immer: "Lieber Mensch, bevor du dein dir von Gott gegebenes Vernunftvermögen vor dir und vor Gott und seiner Schöpfung derart erniedrigst (und damit gleichsam verschmähst, also für unvollkommen oder auch misslungen erklärst, als habe Gott bei der Schöpfung der Geistigkeit des Menschen gepfuscht) - sieh doch erst einmal gründlich zu, wie weit diese deine Vernunft denn überhaupt reichen kann? Vielleicht reicht dieses menschliche Vernunftvermögen ja prinzipiell viel, viel weiter, als in dem subjektiv von dir bisher praktizierten Gebrauch? Und nur weil deine Momentan-Reichweite eingeschränkt ist, soll nun prinzipiell alle menschliche Reichweite eingeschränkt sein? Sie trifft doch vielleicht nur auf dich zu, nicht aber auf den Menschen überhaupt? Und weiter: Die "Feststellung" scheint mir auch nicht dadurch wahrer zu werden, dass 99 von 100 Menschen sie teilen, auch nicht 999 von 1000, und auch nicht 999 999 von 1 000 000? Und wenn ich mir nun einmal vornehmen will, die menschliche Vernunft (besser: Verstehfähigkeit) ermessen zu können, dann kann ich mich nicht auf irgendeine bloße Wahrscheinlichkeitsrechnung verlassen, als habe unsere Geschichte und Geistesgeschichte bereits die Unzulänglichkeit der menschlichen Vernunft hinreichend gut erwiesen!? Zeigt nicht auch dieselbe Geistesgeschichte, dass in ihr überall Stellen zu finden sind, wo einer - scheinbar urplötzlich - etwas erkannte, was allen anderen bislang schlicht entgangen war? Und war nicht auch einer davon - Martin Luther? Also ist doch auch die obige Wahrscheinlichkeits-Annahme bereits etliche Male widerlegt worden!? Und trotzdem wird sie von einer Generation zur nächsten doch immer wieder aufgestellt und behauptet und als wahr weitergegeben? Ist denn der Mensch unfähig, Erfahrung resp. Neuerfahrung zu machen?

Und so kann man zu der Vermutung, Annahme, Auffassung, Auslegung kommen: In der Bibel liegt ein Höheres Vernunftvermögen, das einer gründlichen, sich mehr und mehr vertiefenden Bibellektüre grundsätzlich zugänglich sein muss. Und man kann dann die Schlussfolgerung ziehen: Die Bibel ist dazu da, unsere Vernunft anzuleiten und ihr zu einem höheren Verstehen zu verhelfen - sagt sie doch selbst, der Geist helfe unserer (auch Vernunft-)Schwäche auf (vgl. die Bach-Motette: Der Geist hilft unserer Schwachheit auf). Und man kann dann auch "Glaubensaussagen" in solchen Auslegungs-Grundsatz einzeichnen, z.B.: Die Bibel ist gegeben, damit aus unserer sündigen, gefallenen, nichtverstehenden Vernunft eine wiederhergestellte, natürliche, kosmisch verstehende Vernunft werde. Und man kann immer noch weiter schlussfolgern: Das (uns mitgeteilte) Höhere Vernunftvermögen macht in der (uns gegebenen) Bibel Aussagen, die unserer sündigen Vernunft zunächst unplausibel erscheinen und nicht sofort oder noch nicht einleuchten. Und dann kann man den christlichen Glauben insgesamt - die Bibel als gegebenes Hilfsmittel nun punktgenau treffend - definieren: "Der Glaube ist ein uns vorweg genommenes Höheres Wissen, das ein solches gerade nicht bleiben soll, sondern das zu unserem eigenen sicheren Wissen werden kann und soll" - und zu diesem (hochvernünftigen) Zweck ist nicht nur über Christus das Evangelium persönlich gekommen (denn niemand kann alles Wichtige, das ihm persönlich irgendwann einmal gesagt wurde, beim ersten Hören sofort aufnehmen und dauerhaft exakt im einmalig ausgesprochenen bzw. gehörten Sinn behalten), sondern auch noch schriftlich über die Bibel, die somit als Verstehens-Gradmesser in der Zeit fungiert, in der christlichen oder kirchen- und heilsgeschichtlichen Zeit.

Und dann zeigt sich doch die Zweischneidigkeit einer Formulierung wie "höher als alle Vernunft", denn danach müsste man nicht all seine Vernunftkräfte aufwenden und einsetzen, um zum Verstehen zu kommen, indem man voraussetzt: "Meine Vernunftkraft reicht ja doch nicht aus, und so kann oder muss ich ja wohl in meinem Nichtverstehen verbleiben." Aber indem der Philipperbrief-Satz zum festen Bestandteil aller christlichen Liturgie geworden ist, habe ich den Eindruck, dass unser gegenwärtiges Christsein einen gravierenden - schwer und schwerstwiegenden - Fehler macht, den es aber nicht sieht, indem es von einer falschen Voraussetzung ausgeht! Und dann kann ich erwidern: "Du Unglücklicher und Fruchtloser! Merkst du denn nicht, dass du das Gleichnis vom Säen und sein Sprechen vom Nichtverstehen nicht verstanden hast? Es fordert keine "guten Taten" von dir, sondern ein "gutes Verstehen", was du ignorierst oder sogar als unmöglich ausgeben willst. Und so bringst du keine geistige Frucht, keine Frucht im Verstehen, keine Frucht des Geistes. Und - so leid es mir tut - ich sehe dich momentan auf der Unkrautseite stehen. Das Entscheidende ist dir nicht aufgegangen, und so kannst du selbst nicht aufgehen... ins Himmelreich...

Mein Herantreten an die Bibel ist geleitet von der Frage: Wie weit kann der Mensch in seinem Bibelverstehen (und dann auch Verstehen unserer Wirklichkeit durch die Bibel) kommen? Speziell im christlichen Glauben, der doch - zumindest dem Wort nach - einen Beistands-Geist in sich bekennt, was doch im Grunde aussagt: Die menschliche Vernunft ist kein Vermögen, das ein für allemal feststünde, sondern das als in sich entwicklungsfähig angesehen werden muss, wenn man - glaubensgemäß - den Beistands-Geist als solchen anerkennt und einfach wirken und in sich einfallen lässt? Oder kann man - als ordentlicher Christ - sich sagen: "Ich glaube zwar prinzipiell an den Heiligen Geist, glaube aber auch, dass er in meinem konkreten Fall unwirksam bleibt?" Glauben wir Christen das, vielleicht unbewusst und uneingestanden? Und ist dieser Satz dann aussagekräftig über die Wirksamkeit des Heilenden Geistes, oder nur aussagekräftig über uns als - angebliche - Christen?

Und über das obige Beispiel vom "Hören und Verstehen" kann einem dann auffallen, dass es gewisse Worte, Termini gibt, die in der Bibel einen größeren Facettenreichtum aufweisen, wie z.B. "hören". Und man kann das Wort sprachlich durchspielen nach seinen Verwendungsarten und kann dann das "Nichtverstehen" auslegen als "Überhören", soll heißen, am eigentlichen biblischen Aussagegehalt "vorbeihören", was in der Offenbarung des Johannes in der Formulierung "Wer Ohren hat, der höre" begegnet und womit dann wieder ein Rückschluss gezogen werden kann auf das "Verstehen", weil eine Entwicklungsmöglichkeit und -notwendigkeit des Hörens angezeigt wird. Und zugleich ist indirekt wieder ausgesagt, dass nicht alle diese Verstehens-Entwicklung durchlaufen werden, nicht einmal alle Christen....

entnommen: 2. Das Streben nach Erkenntnis, 10. Ist unsere Art, wissenschaftlich zu denken, geozentrisch geblieben?, gerahmter Einschub "Ich und die Einheitsübersetzung - grundsätzliche Anmerkungen zum Übersetzungsvergleich", C. Vom Lesen zum Durchdenken der Bibel.

2. Das Streben nach Erkenntnis
1. Thema dieses Menüpunktes: Das Streben nach Erkenntnis
2. Schülersein (Lernen) und Lehrersein (Lehren) fallen in eins
3. Ist Fragenstellen eine Kunst?
4. Geistesgeschichtliches Lernen führt zu Erkenntnis-Potenzierung und Bildung
5. Hängt die Qualität einer Forschung an der Qualität ihres Fragens?
6. Geistesgeschichtliche Veränderung unserer Blickrichtung
7. Eine große geistesgeschichtliche Umwälzung liegt hinter uns
8. Enge unserer Erkenntniserwartung trotz Weite unserer Wissenschaft?
9. Haben wir die platonische Höhle verlassen oder sind wir jetzt erst richtig in ihr drinnen?
10. Ist unsere Art, wissenschaftlich zu denken, geozentrisch geblieben?

          Gerahmter Einschub "Ich und die Einheitsübersetzung - grundsätzliche Anmerkungen zm Übersetzungsvergleich"
               A. Kirchenmusikalische Vorgeschichte
               B. Entstehung der Einheitsübersetzung, erste Bibellektüre und Theologiestudium
               C. Vom Lesen zum Durchdenken der Bibel
              
D. Mein Hürdenlauf zur Online-Nutzung der Einheitsübersetzung
                   
a) Antragsformular
                    b) Einmaleins des Bibelverses
                    c) Einheitsübersetzung von 1980 nicht online?
               E. Schlüsselstellen der Einheitsübersetzung von 1980
               F. Ein Beispiel meiner Bevorzugung der Einheitsübersetzung von 1980
                    a) Joh. 21,22f: "bis zu meinem Kommen"
                    b) Erst-Begründung
                    c) Der komplexe biblische Kontext
                    d) Das Kommen - näher betrachtet: Wiederkunft Christi – Parusie – Zweite Ankunft des Herrn
                    e) Frage nach dem Sinn des Weggehens Christi
                    f) Ist Christi Ausbleiben Parusie-Verzögerung oder vielmehr Parusie-Ermöglichung?
                    g) Vorläufiges Überlegungs-Ende und Resümee
               G. Zum weiteren Prozedere im Umgang mit den benutzten Bibelübersetzungen
               H. Die Papst-Frage und der Schafe-Weide-Auftrag
                I. Die Schlüssel-Frage und das Wirken des Geistes
               K. Das merkwürdige Auftrags-Splitting Jesu und die Frage nach Aufgabe und Kompetenz der Schafe
               L. Wettstreit der Konfessionen um den Schlüssel-Besitz?

11. Muss unsere Wissenschaft fürchten, überholt zu werden?
12. Vorläufiger Schluss und Ausblick