Leseprobe 27

                                             "Die Gegenwart" entsteht aus der Reflexion auf unser geschichtliches Bewegt werden

Und nun fällt ein neues, spezifisches Licht auf das Wort „Gegenwart“, welches wir bedenkenlos und oft im Mund führen. „Gegenwart“ könnte für eine prinzipielle Entwicklungszeitstelle stehen, die der Mensch noch nicht ganz erreicht hat, die er aber geschichtlich erreichen soll, damit er vollumfänglich über sich selbst im Bilde sei, um erst im wahren Sinn ein animal rationale sein zu können.

Zuerst erkennt er sich in einer geschichtlichen Bewegung stehend, und nun erst kann er beginnen, sich dieser seiner eigenen Geschichte besonders zuzuwenden; weil er Aufschluss über sie und sich selbst in ihr haben will; und weil er nach Selbsterkenntnis strebt (zumindest streben kann), nicht, weil er das muss (Determination), sondern, weil er das will (Freiheit). Es ist wieder der Unterschied der Philosophie: Die einen betreiben sie, die andern halten sie für überflüssig, dies gilt auch für das Nachdenken der eigenen, menschheitlichen Geschichte.

Sein Geschichtsblick wird dadurch reflexiv, zugleich rückwärts- und vorwärtsgewandt, aber erst, nachdem sich der Mensch schon sehr lange in einer Geschichtsbewegung befunden hatte, in der er immer nur „nach vorne oder oben blickte“, weil er sie einstmals für ewig und statisch gehalten hatte, für eine bloße Abfolge in der Zeit (vgl. die alten, periodischen, zyklischen Zeitrechnungen), vor dem Hintergrund seines Eindrucks der immer gleichen Ewigkeit der Geistwelt und Unveränderlichkeit der Götter- oder Himmelswelt.

Wir finden uns heute also in einer Bewegung der Menschheitsgeschichte vor, die wir nicht selbst gemacht und nicht begonnen haben (Natur), und wenn wir uns nun unserer eigenen Geschichtsbefindlichkeit gegenüberstellen, sie gleichsam von außen betrachten, so sehen wir, dass wir die Möglichkeit haben und nutzen, uns unserer eigenen Geschichte ausdrücklich zuzuwenden (Vernunft). Wir müssen das nicht tun, aber wir können es tun und tun es auch. Und deshalb ergibt sich uns in zunehmendem Maße unser Reflexions-Geschichtsstau, weil unser derzeitiges Vernunftvermögen nicht auszureichen scheint, uns in unserer Naturbewegung zu durchdringen.

Und in diesem Rahmen ist es auch zulässig, aus der „Moderne“ eine „Postmoderne“ auszudifferenzieren. Nur muss man zugleich bedenken, dass uns diese Ausdifferenzierung nicht prinzipiell weiterbringt, weil sie die Besonderheit unserer reflexiven Eigenbewegung („-wärts) innerhalb unserer geschichtlich-natürlichen Fremdbewegung („entgegen“) lediglich wiederholt und nochmals unterstreicht, aber im Prinzip gleichförmig bleibt. Dieses Prinzip aber ist: Die „Gegenwart“ als Zeit- und Durchgangsstelle wahrzunehmen, wohl wissend, dass sie in die Zukunft hinein nicht dieselbe bleiben, sondern vermutlich ein ganz anderes, aus dem Hier und Jetzt nicht absehbares Aussehen annehmen wird (Stichwort: „Mondlandung“ als antiker Irrsinnsgedanke). – Das könnte nun der zweite, reflexive Wortbestandteil von „Gegenwart“ sein: Gegen-wart.

Man könnte demnach den altgriechischen Orakelspruch „Gnothi seauton“, der ziemlich am Anfang unserer Geistesgeschichte steht, als an die Gesamtmenschheit gerichtet betrachten, weniger auf das Individuum bezogen, und seine Erfüllung ergibt sich erst allgemein, historisch, philosophisch-wissenschaftlich, geistesgeschichtlich, indem Mensch und Menschheit zunehmend sich selbst ihre Aufmerksamkeit zuwenden, nicht mehr der umgebenden und das Lebens-Maß vorgebenden Götter- und Geistwelt, in welche sich der Mensch früher noch gut und fest eingebunden wusste oder glaubte.

Greifen wir nun unsere Bedenken auf, „Gegenwart“ sei eine konstante Lupe, die auf dem Zahlenstrahl der Geschichte beliebig hin- und her verschoben werden könne. Es könnte sich ja um ein Perspektiven- oder Dimensions-Versehen handeln, so sagten wir; also um einen historischen Übertragungs- oder geistesgeschichtlichen Übersetzungs-Fehler, aufgrund unserer stillschweigenden, unbedachten Voraussetzung, jegliches Jetztsein von Menschen, egal wann und wo, sei immer auch „Gegenwart“: Jetztsein = Gegenwart. Unsere Wortanalyse zeigt etwas anderes, weil die Reflexbewegung des „-wärts“, die sich auf die Geschichtsbewegung bezieht, selbst erst geistesgeschichtlich entstehen muss und inzwischen auch entstanden ist, wenngleich sie noch nicht abgeschlossen und noch nicht in einem Erkennen und Sich-selbst-Durchschauen des Menschen in seiner Geschichte erfüllt zu sein scheint.

„Gegenwart“ muss also etwas sein, was für den Menschen keineswegs von Anfang an existierte, zu jeder Zeit gleich (und zugleich doch jeweils anders), nein. „Gegenwart“ ist etwas, was geistesgeschichtlich erst entstanden ist und im Grunde erst durch den (reflexiven) Menschen selbst hervorgebracht wurde: Ein Geistwesen findet sich in einer Bewegung stehend vor und wendet sich nun fragend diesem seinem eigenen Bewegt werden zu.

Und wenn wir auch zu Beginn dieses Abschnittes feststellten, Gegenwart sei – rein etymologisch gesehen - kein Ausschau halten, so müssen wir dies nun korrigieren, weil der Mensch, der in einer Geschichts- oder Entwicklungs-Bewegung steht und der sich mit seiner geistigen Eigen-Bewegung dieser seiner geschichtlichen Fremd-Bewegung zuwendet, genau dort herauskommen muss und herauskommt, nämlich in der Frage: „Wohin geht denn eigentlich meine und unsere Reise? Welches ist die Idee meiner und unserer selbst? An welcher Raum-Zeit-Stelle oder an welchem Entwicklungs-Zwischenstand unseres Wesens sind wir hier und heute herausgekommen?“ Diese Fragestellung ist die Zeitstelle, an der wir heute stehen, und sie ist: „die Gegenwart“ – weniger ein Wissen, mehr ein Nichtwissen, zugleich aber ein Wissen wollen, daher auch ein Fragen.

Und deshalb kann dieses Empfinden, in der „Gegenwart“ zu sein, durchaus als eine geistesgeschichtliche Qualifikation angesehen werden, als ein nun erreichtes Entwicklungsniveau des animal rationale. Und wir können sagen: Alle, die sich ihres geschichtlichen Bewegt werdens bewusst geworden sind, finden in diese fragende Geistes- oder Existenz-Grundhaltung „Gegenwart“ hinein und sammeln sich in sie, wobei wir keine zu starre Grenze und Festlegung auf die Jetzt-Generation vornehmen sollten, lieber eine gewisse zeitliche Sammlungs-Bandbreite einräumen wollen, so dass wir auch nochmals diese „Blick-Entstehung zur Gegenwarts-Sammlung“ reflektiv zurückverfolgen könnten.

Und vielleicht müssen wir hier sogar schon den Schreiber des Markusevangeliums miteinbeziehen, der dieser Sammelbewegung (intuitiv-inspirativ) bereits angehört und der Jesus knapp und klar sagen lässt:

                                                  „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,15)

Einheitsübersetzung © 2016 der Katholischen Bibelanstalt GmbH und Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart, externer Link: https://www.bibleserver.com/EU.LUT/Markus1, abgerufen am 18.06.2024.

Die „Gegenwart“ ist ein Sammelbecken, in welchem sich all diejenigen zusammenfinden, die sich dieser prinzipiellen Entwicklungszeitstelle annähern oder vielleicht auch schon in sie eingetreten sind.

Und wir wollen nun noch versuchen, in dieses neue Dasein des Menschen, das sich uns im Umbruch aus der alten Seins-Statik „Ewigkeit“ nun als Seins-Dynamik „Gegenwart“ ergeben hat, genauer hinein zu fragen, wobei wir dieses Fragen eher wahllos als systematisch ansetzen, weil wir erst ein Gespür entwickeln müssen für die große geistesgeschichtliche Umwälzung als solche, in die wir hineingeraten sind, um richtige Schlussfolgerungen daraus ziehen und auch um in unsere Zukunft hinein richtige, dem animal rationale hier und heute angemessene Verhaltensweisen finden zu können.

entnommen: 3. ABC-Versuch einer neuen Wahrnehmung des alten Seins, aus der angenommenen Misere-Situation unserer Gegenwart der Moderne heraus, dort unter D 5 f

D. GEGENWART

   5. „Gegenwart“ ist die Sammlung menschlicher Individuen in ihr gemeinsames, menschheitsgeschichtliches Wesen

      a) Terminologisch gesehen ist „Gegenwart“ kein Warten und kein Ausschau halten
      b) Der Geschichtsstau zeigt unsere historische Anthropozentrik und immer noch fehlende zeitliche Objektivität oder Selbstrelativierung an
      c) Das „Gegen“ der Gegenwart ist die Bewegung der Geschichte
      d) Liegen auch den Naturdingen Ideen zugrunde?
      e) Ist das Auffinden der „Idee unserer selbst“ ein Ereignis unserer Geistesgeschichte?
      f) Das „Wart“ der Gegenwart ist unser Gewahr werden unseres geschichtlichen Bewegt werdens