"Die Gegenwart" entsteht aus der Reflexion auf unser
geschichtliches Bewegt werden
Und nun fällt ein neues, spezifisches Licht auf das Wort
„Gegenwart“, welches wir bedenkenlos und oft im Mund führen.
„Gegenwart“ könnte für eine prinzipielle
Entwicklungszeitstelle stehen, die der Mensch noch nicht
ganz erreicht hat, die er aber geschichtlich erreichen
soll, damit er vollumfänglich über sich selbst im Bilde
sei, um erst im wahren Sinn ein animal rationale sein zu
können.
Zuerst erkennt er sich in einer geschichtlichen Bewegung
stehend, und nun erst kann er beginnen, sich dieser seiner
eigenen Geschichte besonders zuzuwenden; weil er Aufschluss
über sie und sich selbst in ihr haben will; und weil er nach
Selbsterkenntnis strebt (zumindest streben kann), nicht, weil
er das muss (Determination), sondern, weil er das
will (Freiheit). Es ist wieder der Unterschied der
Philosophie: Die einen betreiben sie, die andern halten sie für
überflüssig, dies gilt auch für das Nachdenken der
eigenen, menschheitlichen Geschichte.
Sein Geschichtsblick wird dadurch reflexiv, zugleich rückwärts-
und vorwärtsgewandt, aber erst, nachdem sich der
Mensch schon sehr lange in einer Geschichtsbewegung befunden
hatte, in der er immer nur „nach vorne oder oben blickte“, weil
er sie einstmals für ewig und statisch gehalten hatte, für eine
bloße Abfolge in der Zeit (vgl. die alten, periodischen,
zyklischen Zeitrechnungen), vor dem Hintergrund seines
Eindrucks der immer gleichen Ewigkeit der Geistwelt und
Unveränderlichkeit der Götter- oder Himmelswelt.
Wir finden uns heute also in einer Bewegung der
Menschheitsgeschichte vor, die wir nicht selbst gemacht
und nicht begonnen haben (Natur), und wenn wir uns nun unserer
eigenen Geschichtsbefindlichkeit gegenüberstellen, sie
gleichsam von außen betrachten, so sehen wir, dass wir die
Möglichkeit haben und nutzen, uns unserer eigenen Geschichte
ausdrücklich zuzuwenden (Vernunft). Wir müssen das
nicht tun, aber wir können es tun und tun es auch. Und
deshalb ergibt sich uns in zunehmendem Maße unser
Reflexions-Geschichtsstau, weil unser derzeitiges
Vernunftvermögen nicht auszureichen scheint, uns in unserer
Naturbewegung zu durchdringen.
Und in diesem Rahmen ist es auch zulässig, aus der „Moderne“
eine „Postmoderne“ auszudifferenzieren. Nur muss man zugleich
bedenken, dass uns diese Ausdifferenzierung nicht
prinzipiell weiterbringt, weil sie die Besonderheit
unserer reflexiven Eigenbewegung („-wärts)
innerhalb unserer geschichtlich-natürlichen
Fremdbewegung („entgegen“) lediglich wiederholt und
nochmals unterstreicht, aber im Prinzip gleichförmig bleibt.
Dieses Prinzip aber ist: Die „Gegenwart“ als Zeit- und
Durchgangsstelle wahrzunehmen, wohl wissend, dass sie in
die Zukunft hinein nicht dieselbe bleiben, sondern vermutlich
ein ganz anderes, aus dem Hier und Jetzt nicht absehbares
Aussehen annehmen wird (Stichwort: „Mondlandung“ als antiker
Irrsinnsgedanke). – Das könnte nun der zweite,
reflexive Wortbestandteil von „Gegenwart“ sein:
Gegen-wart.
Man könnte demnach den altgriechischen Orakelspruch „Gnothi
seauton“, der ziemlich am Anfang unserer Geistesgeschichte
steht, als an die Gesamtmenschheit gerichtet
betrachten, weniger auf das Individuum bezogen, und seine
Erfüllung ergibt sich erst allgemein, historisch,
philosophisch-wissenschaftlich, geistesgeschichtlich, indem
Mensch und Menschheit zunehmend sich selbst ihre
Aufmerksamkeit zuwenden, nicht mehr der umgebenden und das
Lebens-Maß vorgebenden Götter- und Geistwelt, in welche sich
der Mensch früher noch gut und fest eingebunden wusste oder
glaubte.
Greifen wir nun unsere Bedenken
auf, „Gegenwart“ sei eine konstante Lupe, die auf dem
Zahlenstrahl der Geschichte beliebig hin- und her verschoben
werden könne. Es könnte sich ja um ein Perspektiven- oder
Dimensions-Versehen handeln, so sagten wir; also um einen
historischen Übertragungs- oder geistesgeschichtlichen
Übersetzungs-Fehler, aufgrund unserer stillschweigenden,
unbedachten Voraussetzung, jegliches Jetztsein von Menschen,
egal wann und wo, sei immer auch „Gegenwart“: Jetztsein =
Gegenwart. Unsere Wortanalyse zeigt etwas anderes, weil die
Reflexbewegung des „-wärts“, die sich auf die
Geschichtsbewegung bezieht, selbst erst
geistesgeschichtlich entstehen muss und inzwischen auch
entstanden ist, wenngleich sie noch nicht abgeschlossen und
noch nicht in einem Erkennen und Sich-selbst-Durchschauen
des Menschen in seiner Geschichte erfüllt zu sein
scheint.
„Gegenwart“ muss also etwas sein,
was für den Menschen keineswegs von Anfang an existierte, zu
jeder Zeit gleich (und zugleich doch jeweils anders), nein.
„Gegenwart“ ist etwas, was geistesgeschichtlich erst
entstanden ist und im Grunde erst durch den (reflexiven)
Menschen selbst hervorgebracht wurde: Ein Geistwesen
findet sich in einer Bewegung stehend vor und wendet sich nun
fragend diesem seinem eigenen Bewegt werden zu.
Und wenn wir auch zu Beginn dieses Abschnittes feststellten,
Gegenwart sei – rein etymologisch gesehen - kein Ausschau
halten, so müssen wir dies nun korrigieren, weil der Mensch,
der in einer Geschichts- oder Entwicklungs-Bewegung steht und
der sich mit seiner geistigen Eigen-Bewegung dieser seiner
geschichtlichen Fremd-Bewegung zuwendet, genau dort
herauskommen muss und herauskommt, nämlich in der Frage:
„Wohin geht denn eigentlich meine und unsere Reise?
Welches ist die Idee meiner und unserer selbst? An welcher
Raum-Zeit-Stelle oder an welchem Entwicklungs-Zwischenstand
unseres Wesens sind wir hier und heute herausgekommen?“ Diese
Fragestellung ist die Zeitstelle, an der wir heute stehen, und
sie ist: „die Gegenwart“ – weniger ein Wissen, mehr
ein Nichtwissen, zugleich aber ein Wissen wollen, daher auch
ein Fragen.
Und deshalb kann dieses Empfinden, in der „Gegenwart“ zu sein,
durchaus als eine geistesgeschichtliche Qualifikation
angesehen werden, als ein nun erreichtes
Entwicklungsniveau des animal rationale. Und wir können
sagen: Alle, die sich ihres geschichtlichen Bewegt werdens
bewusst geworden sind, finden in diese fragende Geistes-
oder Existenz-Grundhaltung „Gegenwart“ hinein und sammeln
sich in sie, wobei wir keine zu starre Grenze und Festlegung
auf die Jetzt-Generation vornehmen sollten, lieber eine gewisse
zeitliche Sammlungs-Bandbreite einräumen wollen, so dass wir
auch nochmals diese „Blick-Entstehung zur
Gegenwarts-Sammlung“ reflektiv zurückverfolgen
könnten.
Und vielleicht müssen wir hier sogar schon den Schreiber des
Markusevangeliums miteinbeziehen, der dieser Sammelbewegung
(intuitiv-inspirativ) bereits angehört und der Jesus knapp und
klar sagen lässt:
„Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und
glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,15)
Einheitsübersetzung ©
2016 der Katholischen Bibelanstalt GmbH und
Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016
Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart,
externer Link: https://www.bibleserver.com/EU.LUT/Markus1,
abgerufen am 18.06.2024.
Die „Gegenwart“ ist ein Sammelbecken, in welchem sich all
diejenigen zusammenfinden, die sich dieser prinzipiellen
Entwicklungszeitstelle annähern oder vielleicht auch schon
in sie eingetreten sind.
Und wir wollen nun noch versuchen, in dieses neue Dasein
des Menschen, das sich uns im Umbruch aus der alten
Seins-Statik „Ewigkeit“ nun als Seins-Dynamik
„Gegenwart“ ergeben hat, genauer hinein zu fragen, wobei
wir dieses Fragen eher wahllos als systematisch ansetzen, weil
wir erst ein Gespür entwickeln müssen für die große
geistesgeschichtliche Umwälzung als solche, in die wir
hineingeraten sind, um richtige Schlussfolgerungen daraus
ziehen und auch um in unsere Zukunft hinein richtige, dem
animal rationale hier und heute angemessene Verhaltensweisen
finden zu können.
entnommen: 3. ABC-Versuch
einer neuen Wahrnehmung des alten Seins, aus der angenommenen
Misere-Situation unserer Gegenwart der Moderne heraus, dort
unter D 5 f
D.
GEGENWART
5.
„Gegenwart“ ist die Sammlung menschlicher Individuen in ihr
gemeinsames, menschheitsgeschichtliches Wesen
a) Terminologisch
gesehen ist „Gegenwart“ kein Warten und kein Ausschau
halten
b) Der
Geschichtsstau zeigt unsere historische Anthropozentrik und
immer noch fehlende zeitliche Objektivität oder
Selbstrelativierung
an
c) Das „Gegen“
der Gegenwart ist die Bewegung der
Geschichte
d)
Liegen auch den Naturdingen Ideen
zugrunde?
e) Ist
das Auffinden der „Idee unserer selbst“ ein Ereignis unserer
Geistesgeschichte?
f) Das „Wart“ der Gegenwart ist
unser Gewahr werden unseres geschichtlichen Bewegt
werdens