Der Mensch findet alle Erkenntnis aus sich selbst
heraus
Dies ist es, was wir aus unserer eigenen Geistesgeschichte
hätten lernen können, bereits in ihren Anfängen bei Sokrates:
Nichts und niemand kann den erkenntnissuchenden
Menschen daran hindern, Erkenntnis zu finden, denn sie
wird im Grunde aus sich selbst heraus
gewonnen.
Das heißt: Jeder einzelne Mensch muss die Erkenntnis, das
Wissen potenziell schon in sich tragen, und wenn man nun den
festen Willen fasst, diese verborgen oder latent vorhandene
Erkenntnis auch zu erlangen, ins Licht des Bewusstseins
herüberzuholen, so wird man immer tiefer ins Nachdenken und
Reflektieren hineinkommen. Man wird dann mehr Aspekte einer
Sache, mehr Argumente und Gegenargumente als die Anderen sehen
und berücksichtigen lernen, wird versierter im Denken und wird
nach und nach ein umfassenderes Denk-Betätigungsfeld finden und
eine größere Denkroutine entwickeln, wir könnten auch sagen:
Man wird freier in seiner Denk-Bewegung, gewinnt an geistigem
Bewegungsspielraum, findet sozusagen „Lösungs-Weite“ im eigenen
Geiste.
Prinzipiell gefasst: Jeder
einzelne Mensch ist Schüler und Lehrer (Selbst-Belehrer)
zugleich, je nachdem, wie viele
und wie umfängliche Überlegungen über das Sein er schon
angestellt hat bzw. wo im Universum er mit seinem Denken schon
überall gewesen ist oder was an Erfahrung des Seins er schon in
sich aufgenommen und verarbeitet hat. Je mehr man verarbeitet
hat, desto mehr kann man dann auch
vermitteln.
Auf dem universalen Gebiet
menschlichen Denkens gilt also: Jeder ist Jedem
voraus, und: Jeder hinkt Jedem hinterher, einfach
deshalb, weil nicht alle Individuen an ein und derselben Stelle
in Raum und Zeit stehen können und weil von jeder
Raum-Zeit-Stelle aus das Sein ein je anderes Ansehen und
Aussehen hat, folglich auch andere Erfahrungen gesammelt werden
und andere An-Sichten oder Stand-Punkte entstehen können. Und
deshalb müssen wir uns über eine bestehende Meinungsvielfalt
nicht wundern, es wäre eher seltsam, wenn sie nicht
bestünde.
Das Denken hat aber nun
die Besonderheit an sich, dass wir uns mit ihm -
zumindest versuchsweise - an die Stellen der Anderen
setzen können, um deren Seinserfahrung zu unserer
eigenen noch zusätzlich hinzuzunehmen und dadurch
ein Mehr an Denk- und Seinserfahrung zu
erwerben, als unser eigenes Leben aus sich
selbst heraus freigibt.
Und gelingen kann dies nur in dem Maße, als man „Grenzen seiner
selbst“ wahrzunehmen und zu übersteigen vermag, indem man die
Erfahrung macht, das Denken sei bei Allen nicht gleich, sondern
unterschiedlich. Oder wir können auch sagen: Man macht sich
empfänglich für ein mögliches Anderssein als solches
und lernt dabei, sich selbst in dieses (existenzielle)
Anders-Sein nicht fälschlich hineinzumischen und
hineinzutragen, lernt also, in den real existierenden Seins-
und Denk-Verhältnissen auch realitätsgemäß zu
differenzieren. Und dies gilt nicht nur sozial, sondern auch
geschichtlich.
Und insbesondere in der Betrachtung unserer Geistesgeschichte
besteht eine enorme Gefahr, Zeiteigenes in andere Zeiten
hineinzutragen und deren „Echtwahrnehmung“ zu überlagern und zu
verfälschen, ohne diesen Übertragungs-Fehler als solchen
überhaupt zu realisieren.
entnommen: 2. Das Streben
nach Erkenntnis, 4. Geistesgeschichtliches Lernen führt zu
Erkenntnis-Potenzierung und Bildung.
2. Das Streben nach
Erkenntnis
1. Thema dieses Menüpunktes: Das Streben nach Erkenntnis
2. Schülersein (Lernen) und Lehrersein (Lehren) fallen in
eins
3. Ist Fragenstellen eine Kunst?
4. Geistesgeschichtliches Lernen
führt zu Erkenntnis-Potenzierung und Bildung
5. Hängt die Qualität einer Forschung an der Qualität ihres
Fragens?
6. Geistesgeschichtliche Veränderung unserer
Blickrichtung
7. Eine große geistesgeschichtliche Umwälzung liegt hinter
uns
8. Enge unserer Erkenntniserwartung trotz Weite unserer
Wissenschaft?
9. Haben wir die platonische Höhle verlassen oder sind wir
jetzt erst richtig in ihr drinnen?
10. Ist unsere Art,
wissenschaftlich zu denken, geozentrisch
geblieben?
11. Muss unsere Wissenschaft fürchten, überholt zu
werden?
12. Vorläufiger Schluss und Ausblick