Leseprobe 28

                                                                Der Mensch findet alle Erkenntnis aus sich selbst heraus

Dies ist es, was wir aus unserer eigenen Geistesgeschichte hätten lernen können, bereits in ihren Anfängen bei Sokrates: Nichts und niemand kann den erkenntnissuchenden Menschen daran hindern, Erkenntnis zu finden, denn sie wird im Grunde aus sich selbst heraus gewonnen.


Das heißt: Jeder einzelne Mensch muss die Erkenntnis, das Wissen potenziell schon in sich tragen, und wenn man nun den festen Willen fasst, diese verborgen oder latent vorhandene Erkenntnis auch zu erlangen, ins Licht des Bewusstseins herüberzuholen, so wird man immer tiefer ins Nachdenken und Reflektieren hineinkommen. Man wird dann mehr Aspekte einer Sache, mehr Argumente und Gegenargumente als die Anderen sehen und berücksichtigen lernen, wird versierter im Denken und wird nach und nach ein umfassenderes Denk-Betätigungsfeld finden und eine größere Denkroutine entwickeln, wir könnten auch sagen: Man wird freier in seiner Denk-Bewegung, gewinnt an geistigem Bewegungsspielraum, findet sozusagen „Lösungs-Weite“ im eigenen Geiste.

Prinzipiell gefasst: Jeder einzelne Mensch ist Schüler und Lehrer (Selbst-Belehrer) zugleich, je nachdem, wie viele und wie umfängliche Überlegungen über das Sein er schon angestellt hat bzw. wo im Universum er mit seinem Denken schon überall gewesen ist oder was an Erfahrung des Seins er schon in sich aufgenommen und verarbeitet hat. Je mehr man verarbeitet hat, desto mehr kann man dann auch vermitteln.

Auf dem universalen Gebiet menschlichen Denkens gilt also: Jeder ist Jedem voraus, und: Jeder hinkt Jedem hinterher, einfach deshalb, weil nicht alle Individuen an ein und derselben Stelle in Raum und Zeit stehen können und weil von jeder Raum-Zeit-Stelle aus das Sein ein je anderes Ansehen und Aussehen hat, folglich auch andere Erfahrungen gesammelt werden und andere An-Sichten oder Stand-Punkte entstehen können. Und deshalb müssen wir uns über eine bestehende Meinungsvielfalt nicht wundern, es wäre eher seltsam, wenn sie nicht bestünde.

Das Denken hat aber nun die Besonderheit an sich, dass wir uns mit ihm - zumindest versuchsweise - an die Stellen der Anderen setzen können, um deren Seinserfahrung zu unserer eigenen noch zusätzlich hinzuzunehmen und dadurch ein Mehr an Denk- und Seinserfahrung zu erwerben, als unser eigenes Leben aus sich selbst heraus freigibt.

Und gelingen kann dies nur in dem Maße, als man „Grenzen seiner selbst“ wahrzunehmen und zu übersteigen vermag, indem man die Erfahrung macht, das Denken sei bei Allen nicht gleich, sondern unterschiedlich. Oder wir können auch sagen: Man macht sich empfänglich für ein mögliches Anderssein als solches und lernt dabei, sich selbst in dieses (existenzielle) Anders-Sein nicht fälschlich hineinzumischen und hineinzutragen, lernt also, in den real existierenden Seins- und Denk-Verhältnissen auch realitätsgemäß zu differenzieren. Und dies gilt nicht nur sozial, sondern auch geschichtlich.

Und insbesondere in der Betrachtung unserer Geistesgeschichte besteht eine enorme Gefahr, Zeiteigenes in andere Zeiten hineinzutragen und deren „Echtwahrnehmung“ zu überlagern und zu verfälschen, ohne diesen Übertragungs-Fehler als solchen überhaupt zu realisieren.

entnommen: 2. Das Streben nach Erkenntnis, 4. Geistesgeschichtliches Lernen führt zu Erkenntnis-Potenzierung und Bildung.

2. Das Streben nach Erkenntnis
1. Thema dieses Menüpunktes: Das Streben nach Erkenntnis
2. Schülersein (Lernen) und Lehrersein (Lehren) fallen in eins
3. Ist Fragenstellen eine Kunst?
4. Geistesgeschichtliches Lernen führt zu Erkenntnis-Potenzierung und Bildung
5. Hängt die Qualität einer Forschung an der Qualität ihres Fragens?
6. Geistesgeschichtliche Veränderung unserer Blickrichtung
7. Eine große geistesgeschichtliche Umwälzung liegt hinter uns
8. Enge unserer Erkenntniserwartung trotz Weite unserer Wissenschaft?
9. Haben wir die platonische Höhle verlassen oder sind wir jetzt erst richtig in ihr drinnen?
10. Ist unsere Art, wissenschaftlich zu denken, geozentrisch geblieben?
11. Muss unsere Wissenschaft fürchten, überholt zu werden?
12. Vorläufiger Schluss und Ausblick