Leseprobe 29

                                                             Die Musik ertönt, indem das Instrument "verschwindet"

Aber auch Geigenspielen habe ich nie gemocht, bis in den „Leistungskurs“ der „Kollegstufe“ hinein. Jeder Zögling musste, außer im Chor zu singen, auch noch ein Instrument erlernen, Geige oder Klavier, aber für Letzteres waren meine Finger zu klein, und so begann ich auch mit einer „halben Geige“. Von Anfang an war mir das ohnehin ungewohnte Instrument zusätzlich durch einen strengen Geigenlehrer verleidet. Ich fürchtete ihn, auch wenn er meiner Erinnerung nach nie handgreiflich wurde. Und so sagte er mir einmal - einem Acht- oder Neunjährigen - auf den Kopf zu: „Gell, Franz, du magst mich nicht!?“ Und als er sah, dass mich seine Offenheit und Direktheit überforderte und er mich mit seinem bloßen Wort in die (Antwort-)Bredouille gebracht hatte, veranlasste er mich, meine Geige beiseite zu legen und ihm gegenüber am Tisch Platz zu nehmen, mit Blick seitwärts aus dem Fenster. Dann holte er einen kartonartigen Drittel-Papierbogen hervor, nahm einen Bleistift zur Hand, und die „Lehrstunde“ wurde zur "Malstunde", mit gelegentlichem Wortwechsel, denn er zeichnete ein Profilporträt von mir, über welches er dann „Franzl“ schrieb und mir aushändigte. Hierbei führten wir wohl ein bisschen Gespräch, ganz ruhig, nur den Inhalt habe ich vergessen, vielleicht, weil der Strenge-Eindruck seiner Person, insbesondere der Strenge-Blick seines Gesichtes, doch zu übermächtig war, um Entspannung in mir auszulösen? Immerhin, glaube ich, atmete ich durch, wenigstens in dieser Lehrstunde. Ich kann aber nicht mehr sagen, ob dieses sein „psychologisches Signal an mich“ irgendwelche Wirkung und Veränderung in mir bewirkte oder nicht... Die Zeichnung habe ich mir jedenfalls behalten... Und habe sie heute noch...

Das Geigenspielen bekam ich nie in den Griff, und ich meine dies ganz wörtlich. Denn das Instrument des Musikers muss insgesamt einen festen Halt haben, weshalb die Geigen an der Unterhälfte links mit einem "Kinnhalter" an der Oberseite bestückt sind, der mir immer zu schaffen gemacht hat, trotz "Schulterstütze" als Pendant an der Unterseite. Irgendwie bekam ich diesen „festen Halt“ – gewissermaßen die Grundlage und Voraussetzung eines guten Violinspiels – niemals hin. Ich blieb verkrampft, konzentriert auf das mich störende Geigending und abgelenkt vom Spiel selbst.

Und erstaunt oder auch neidvoll blickte ich auf solche Spieler und Geigen hin, denen dieser – notwendige!? – Kinnhalter einfach fehlte und die alternativ lediglich ein Tuch über ihr Instrument legten!? Und dann, noch schlimmer, solche Geigen und Spieler, die nicht nur keinen Kinnhalter haben, sondern auch kein Tuch, und zwar deshalb nicht, weil die Spieler ihr Kinn überhaupt nicht mehr zu benutzen schienen, sondern einfach als überflüssig und nicht notwendig zur Stützung der Geige wegließen!? ...als gäbe es bei uns hier unten keine Schwerkraft!, so dass man sich um das Instrument keine Gedanken machen müsse?, weil dieses überhaupt keine Möglichkeit hätte, zu Boden zu fallen und Schaden zu nehmen…?

Und dennoch scheint ihr Instrument diesen notwendigen festen Halt zu haben…!? Ich fasse es nicht!!?? Ja, wo kommt dieser feste Halt denn her!!!??? Wie ist er möglich!!!??? Es ist mir bis heute rätselhaft geblieben…

…als würde das Instrument selbst im Raum schweben und der Virtuose trete quasi nur von außen an es heran, schmiegte sich um es herum, wie um seine Geliebte, mit der er sich dann im Tanzschritt bewegt, wobei er völlig frei in seinen Bewegungen erscheint, so dass man nicht mehr sagen kann, wer von beiden nun eigentlich führt und wer geführt wird!!??

Das Instrument selbst… muss… irgendwie… verschwunden sein, wenn die Musik als solche zum Tragen kommen soll. Ja! Dies scheint mir das Geheimnis des Musizierens und auch Lieder-Singens zu sein…

…ob wohl Orpheus seine göttliche Musik weniger mit seiner Leier erzeugte, weil seine volle Aufmerksamkeit und Konzentration vielmehr den Saiten der menschlichen Seele galt, die er durch seinen Gesang in Vibration und Schwingung versetzen konnte? Weil sie – die Seele des Menschen - sein eigentliches Instrument war, deren Vielfältigkeit und Farbenreichtum uns abgebildet ist in den Bewegungen des Tierkreises und der Planeten, in die wir mit hinein gehen können und sollen, und deren Höhen und Tiefen ihm nicht nur bekannt, sondern geläufig waren, so dass er sie beliebig rauf- und runterspielen konnte und also dieses göttlich-lebendige Instrument zu handhaben wusste wie kein Zweiter, als reichte es – in seinem hochkünstlerischen Ermessen - von einer Welt…
…in die andere hinein?

entnommen: 3. ABC-Versuch einer neuen Wahrnehmung des alten Seins, aus der angenommenen Misere-Situation unserer Gegenwart der Moderne heraus, dort unter I 30.

I. SCHLUSS (Teil 1)
   27. Im Ende liegt der Anfang
   28. Das Rufen des Geistes - hindurch durch seinen Verruf
   29. Verschlingung des Anfangs ins Ende – Bogen-Technik und Lagen-Wechsel der Bibel
   30. Die Musik ertönt, indem das Instrument „verschwindet“
   31. Das Soziale muss zum Chorgesang werden
   32. Warum ich mein Buch nicht mehr „ordnungsgemäß“ zu Ende schreiben kann
   33. Das letzte Buch unseres Buches enthält unseren Geschichtsweg