Die Musik ertönt, indem das Instrument
"verschwindet"
Aber auch Geigenspielen habe ich nie gemocht, bis in den
„Leistungskurs“ der „Kollegstufe“ hinein. Jeder Zögling musste,
außer im Chor zu singen, auch noch ein Instrument erlernen,
Geige oder Klavier, aber für Letzteres waren meine Finger zu
klein, und so begann ich auch mit einer „halben Geige“. Von
Anfang an war mir das ohnehin ungewohnte Instrument zusätzlich
durch einen strengen Geigenlehrer verleidet. Ich fürchtete ihn,
auch wenn er meiner Erinnerung nach nie handgreiflich wurde.
Und so sagte er mir einmal - einem Acht- oder Neunjährigen -
auf den Kopf zu: „Gell, Franz, du magst mich nicht!?“ Und als
er sah, dass mich seine Offenheit und Direktheit überforderte
und er mich mit seinem bloßen Wort in die (Antwort-)Bredouille
gebracht hatte, veranlasste er mich, meine Geige beiseite zu
legen und ihm gegenüber am Tisch Platz zu nehmen, mit Blick
seitwärts aus dem Fenster. Dann holte er einen kartonartigen
Drittel-Papierbogen hervor, nahm einen Bleistift zur Hand, und
die „Lehrstunde“ wurde zur "Malstunde", mit gelegentlichem
Wortwechsel, denn er zeichnete ein Profilporträt von mir, über
welches er dann „Franzl“ schrieb und mir aushändigte. Hierbei
führten wir wohl ein bisschen Gespräch, ganz ruhig, nur den
Inhalt habe ich vergessen, vielleicht, weil der
Strenge-Eindruck seiner Person, insbesondere der Strenge-Blick
seines Gesichtes, doch zu übermächtig war, um Entspannung in
mir auszulösen? Immerhin, glaube ich, atmete ich durch,
wenigstens in dieser Lehrstunde. Ich kann aber nicht mehr
sagen, ob dieses sein „psychologisches Signal an mich“
irgendwelche Wirkung und Veränderung in mir bewirkte oder
nicht... Die Zeichnung habe ich mir jedenfalls behalten... Und
habe sie heute noch...
Das Geigenspielen bekam ich nie in den Griff, und ich meine
dies ganz wörtlich. Denn das Instrument des Musikers muss
insgesamt einen festen Halt haben, weshalb die Geigen
an der Unterhälfte links mit einem "Kinnhalter" an der
Oberseite bestückt sind, der mir immer zu schaffen gemacht hat,
trotz "Schulterstütze" als Pendant an der Unterseite. Irgendwie
bekam ich diesen „festen Halt“ – gewissermaßen die Grundlage
und Voraussetzung eines guten Violinspiels – niemals hin. Ich
blieb verkrampft, konzentriert auf das mich störende Geigending
und abgelenkt vom Spiel selbst.
Und erstaunt oder auch neidvoll blickte ich auf solche Spieler
und Geigen hin, denen dieser – notwendige!? – Kinnhalter
einfach fehlte und die alternativ lediglich ein Tuch über ihr
Instrument legten!? Und dann, noch schlimmer, solche Geigen und
Spieler, die nicht nur keinen Kinnhalter haben,
sondern auch kein Tuch, und zwar deshalb nicht, weil
die Spieler ihr Kinn überhaupt nicht mehr zu
benutzen schienen, sondern einfach als überflüssig und
nicht notwendig zur Stützung der Geige wegließen!? ...als
gäbe es bei uns hier unten keine Schwerkraft!, so dass man
sich um das Instrument keine Gedanken machen müsse?,
weil dieses überhaupt keine Möglichkeit hätte, zu Boden zu
fallen und Schaden zu nehmen…?
Und dennoch scheint ihr Instrument
diesen notwendigen festen Halt zu haben…!? Ich fasse
es nicht!!?? Ja, wo kommt dieser feste Halt denn her!!!??? Wie
ist er möglich!!!??? Es ist mir bis heute rätselhaft
geblieben…
…als würde das Instrument
selbst im Raum schweben und der Virtuose trete quasi nur
von außen an es heran, schmiegte sich um es herum, wie um seine
Geliebte, mit der er sich dann im Tanzschritt bewegt, wobei
er völlig frei in seinen Bewegungen
erscheint, so dass man nicht mehr sagen kann, wer von
beiden nun eigentlich führt und wer geführt
wird!!??
Das Instrument selbst…
muss… irgendwie… verschwunden sein, wenn die Musik als
solche zum Tragen kommen soll. Ja! Dies scheint mir das
Geheimnis des Musizierens und auch Lieder-Singens zu
sein…
…ob wohl Orpheus seine göttliche
Musik weniger mit seiner Leier erzeugte, weil seine volle
Aufmerksamkeit und Konzentration vielmehr den Saiten der
menschlichen Seele galt, die er durch seinen Gesang in
Vibration und Schwingung versetzen konnte? Weil sie – die Seele
des Menschen - sein eigentliches Instrument war, deren
Vielfältigkeit und Farbenreichtum uns abgebildet ist in den
Bewegungen des Tierkreises und der Planeten, in die wir mit
hinein gehen können und sollen, und deren Höhen und Tiefen ihm
nicht nur bekannt, sondern geläufig waren, so dass er sie
beliebig rauf- und runterspielen konnte und also dieses
göttlich-lebendige Instrument zu handhaben wusste wie kein
Zweiter, als reichte es – in seinem hochkünstlerischen
Ermessen - von einer Welt…
…in die andere hinein?
entnommen: 3. ABC-Versuch einer neuen
Wahrnehmung des alten Seins, aus der angenommenen
Misere-Situation unserer Gegenwart der Moderne heraus, dort
unter I 30.
I. SCHLUSS
(Teil 1)
27. Im Ende liegt der
Anfang
28. Das Rufen des
Geistes - hindurch durch seinen
Verruf
29. Verschlingung des Anfangs ins Ende –
Bogen-Technik und Lagen-Wechsel der
Bibel
30. Die Musik ertönt, indem das Instrument
„verschwindet“
31. Das Soziale muss
zum Chorgesang werden
32. Warum ich mein Buch
nicht mehr „ordnungsgemäß“ zu Ende schreiben
kann
33. Das letzte Buch
unseres Buches enthält unseren Geschichtsweg