Kants spekulatives Stolperverständnis vs. Lessings Gehen-lernen-im-Geiste
Wenn die altgriechische Naturphilosophie faktisch selbst "speculatio" gewesen sein sollte, so können wir ihr auch nur durch „Spekulation“ nachspüren und nahekommen, jeder andere Annäherungsversuch wäre dem Gegenstand selbst unangemessen und ein Verfehlen der menschlichen Realitäten.
Die „Spekulation“ ist nun von Kant her negativ besetzt, und er scheint das menschliche Erkenntnisvermögen als eine feste Größe gedacht zu haben, analog einem Glas, das gefüllt werden kann, und wenn es gefüllt ist, mit Wissen, ist Schluss. Blicken wir aber auf den Fortschritt unserer Atomphysik, so können wir sagen, dass wir auf (kosmologische oder atomare) Erkenntnisgrenzen gestoßen sind, und hier müssten wir nach Kant nun haltmachen, sehen aber zugleich, dass dies nicht sinnvoll ist, weil das, was wir erkannt haben, in einen größeren Sinnzusammenhang gestellt und als Wissen abgerundet werden muss. Also macht eine weitergehende bzw. spekulative Theoriebildung so sehr Sinn, dass wir einfach nicht darauf verzichten wollen.
Außerdem ist Kants negative Beurteilung nicht die einzig mögliche Sichtweise der „Spekulation“. Sein Zeitgenosse und Mitaufklärer G. E. Lessing vertritt eine ganz andere Auffassung: Die Spekulationen haben den Sinn und Zweck, uns im Denken einzuüben. Die Vernunft muss also erst einmal vielfach gebraucht gewesen sein, damit sie versiert und routiniert werden kann. Und wenn der Mensch auf dem Weg dorthin mit seinen Spekulationen irrt, so ist dies nicht schwerwiegend, vielmehr zu akzeptieren, denn er übt sich ja erst ein in der Denkbewegung, im Sich-Bewegen im Gedanken. Es ist daher ein Methoden-Fehler, die jeweilige Spekulation des geistesgeschichtlich sich erst entwickelnden menschlichen Denkens bereits als Endprodukt anzusehen, während sie in Wahrheit nur Nebenprodukt der Übungsphase ist, so dass es keinen Sinn macht, Anstoß daran zu nehmen, dass die eine Spekulation so, die nächste gegenteilig ausfällt, wie etwa "Sein ist" (Parmenides) und "Alles ist im Fluss" (Heraklit).
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Als Vergleich können wir das Gehen lernen des Kindes wählen. Kant sagt gleichsam, im Blick auf unsere Geistesgeschichte: „Ja, wenn du nur stolperst und hinfällst, dann lassen wir das mit dem Gehen lernen bei dir lieber sein.“ Lessing hingegen: „Steh wieder auf, wenn du stolperst und hinfällst. Mach’s nochmal und nochmal. Und du wirst sehen, wenn du lange genug übst, wird ein ordentliches, sicheres Gehen daraus werden.“ Und wenn wir nun unsere heutige Wissenschaftlichkeit betrachten, so können wir sagen, wir haben hier über einen längeren Zeitraum hinweg gelernt, auf die Dinge genauer hinzusehen und unseren so geschärften Blick in Begrifflichkeit und Fachtermini zu fassen, so dass er "be-greifend", "griffig", erkennend geworden ist.
Die Sprachentwicklung beim Kind bildet sich mit dem Gehen lernen und Hingehen zu den Dingen aus, und mit unserer wissenschaftlichen Begriffsbildung ist es im Grunde analog. Wo möglich, gehen wir hin zu den Dingen (Kolumbus-Schifffahrt übers offene Meer, Magellans Weltumseglung, Mondlandung), wo nicht, benutzen wir Mikroskop, Teleskop, Satelliten, Raumsonden, außerdem Labor und Experiment. Wir haben also ein geistiges scharfes Sehvermögen ausgebildet, und wenn wir berücksichtigen, dass wir uns hierbei im Universum gleichsam herumwenden und frei bewegen, einmal teleskopisch ins Weite und Ferne, einmal mikroskopisch ins Nahe und Nächste – sollten wir dann nicht sagen können, wir hätten uns den Kosmos erwandert und ge-läufig gemacht, also in unserem Geiste kosmisch Stehen und Gehen gelernt?
Wir müssen aber unterscheiden die begrifflichen Inhalte, die wir faktisch gefunden haben, und das Differenzierungs- oder Sehvermögen, das wir hierbei ausgebildet haben. Die Inhalte hängen davon ab, was wir als Gegenstände gewählt haben, und darin unterscheiden sich unsere Wissenschaften. Das Differenzierungs- und Sehvermögen als solches ist aber allen Wissenschaften grundsätzlich gemeinsam, auch wenn es sich in der gegenstandsbezogenen Anwendung spezifizieren muss. In den Wissenschaften erlernen wir also einen Erkenntnisumgang mit den Dingen, wobei für unterschiedliche Gegenstände auch unterschiedliche Erfassungskategorien zweckdienlich und angemessen sind, weshalb sich dieser Erkenntnisumgang dem jeweiligen Gegenstand anpassen muss und auf diese Weise spezifische Terminologien und Fachsprachen entstehen...
...wobei es allerdings dann vielfach passiert, dass der eine Wissenschaftler in seiner Forschungsrichtung dem andern nicht mehr ohne weiteres folgen kann, so dass Wissen hier und Wissen dort entsteht, ohne dass dieses sich untereinander (philosophisch) austauscht und miteinander verbindet, ohne sich also zu summieren und zu potenzieren. Unsere Wissenschaftler (bzw. Fachbereiche) sind weitgehend Einzelkämpfer, und das, was sie an Wissen erwerben, dringt nicht oder nur bruchstückhaft bis zu uns, zum Common Sense durch, geeignet, uns „breiter in unserer Existenz zu bilden“, aber nicht ausreichend, um uns „tiefer in dieser Existenz zu bilden“.
Nun will der menschliche Geist nach Lessing sein Können insbesondere an „geistigen Gegenständen“ erproben, um an sein Ziel, nämlich „zu seiner völligen Aufklärung“ zu kommen (EdM § 80), die Lessing in der Aufklärungsepoche seiner Zeit offenbar noch nicht erreicht sieht. Und jetzt können wir nochmals auf den Deutschen Idealismus hinblicken, der in jedem Fall eines gemacht hat: Er hat versucht, ein sinnlichkeitsfreies, geistanschauliches Denken zu entwickeln, also ein solches, das den Geist und das rein Geistige (also gerade das Flüchtige) zum Gegenstand wählt, ohne eine sinnliche Stütze zu haben. Und vielleicht nur, weil wir darin nicht sehr geübt, nicht versiert sind, kann unser allgemeines, durchschnittliches Erkenntnisvermögen damit noch nichts Rechtes anfangen? Denn es erfordert eine sehr hohe geistige Konzentrationskraft, solchen Differenzierungs-Beobachtungen und Denkwegen überhaupt adäquat folgen zu können.
Und dieses unerlässliche „Üben im Geiste“ scheint mir nun ein neuer, ungewohnter, vielleicht auch anstößiger Gedanke zu sein, weil sich daraus ergibt: Die durchschnittlich entwickelte menschliche Vernunft steht nicht eo ipso im Zenit menschlich möglicher Vernünftigkeit, soll heißen Wahrnehmungsfähigkeit, so, wie der Durchschnittsmensch sich körperlich sozusagen defizitär abhebt vom Athleten, der den menschlichen Leib intensiv durchtrainiert und dadurch ein physisches Vermögen, eine körperliche Leistung des Menschen zuwege bringt, mit welcher der – ungeübte und untrainierte - Otto Normalverbraucher einfach nicht mithalten kann.
Vielleicht also sollten wir den menschlichen Geist, den zwar prinzipiell alle haben, nicht über einen Kamm scheren, sondern innerhalb der menschlichen Vernunft einen analogen Qualitätsunterschied berücksichtigen lernen? Die einen üben ihre Vernunft tagtäglich, durch wissenschaftliche Begriffs-Schärfung an einem Gegenstand (vgl. EdM § 80: wetzen), was sich doch in der Ausbildung eines feineren Wahrnehmens irgendwann bemerkbar machen müsste? Die andern aber behalten lediglich jenen Vernunftgebrauch bei, den sie in ihrer Kindes- und Schülerzeit durch Erziehung und Bildung erlernt haben, und dieser reicht dann auch aus, um irgendwie durchs Leben kommen zu können, denn sie hatten und haben vielleicht auch nicht den Anspruch, dieses Leben selbst geistig durchsichtig zu bekommen?
entnommen: 3. ABC-Versuch einer neuen
Wahrnehmung des alten Seins, aus der angenommenen
Misere-Situation unserer Gegenwart der Moderne heraus, dort
unter E 7 a.
E. ANGENOMMENE MISERE-SITUATION
7. Wir müssen unsere prekäre Geistessituation in der Gegenwart sehen wollen
a) Einleitend: Gehen lernen im
Geiste
b)
Warum denn
„Misere“?
c) Wir
müssen unsere Misere „annehmen“, um sie „denken“ zu
können