2. Streben nach Erkenntnis - 8. Erwartungsenge

8. Enge unserer Erkenntnis-Erwartung trotz Weite unserer Wissenschaft?

Blicken wir von diesem Status quo, von dieser trostlosen Aussicht unserer Moderne aus nochmals zurück auf das menschliche Erkenntnisstreben.

Wir haben es institutionalisiert in unseren Wissenschaften, wobei heute – mehr oder weniger bewusst – eine Priorisierung gilt: Naturwissenschaften vor Geisteswissenschaften, und die Philosophie unter ferner liefen. Das heißt: Unsere Aufmerksamkeit im Wissenserwerb ist primär den Naturwissenschaften zugewandt, denn von ihnen erwarten oder erhoffen wir (materialistisch, wie wir hier und heute sind) Neuerungen und Verbesserungen für unser Leben.

Die Philosophie steht ganz am Ende dieser Bandbreite menschlicher Forschung und Wissenschaft. Von ihr sind wir abgewandt, denn von ihr erwarten wir am allerwenigsten oder auch gar nichts mehr. Sie gilt als überholt und unfruchtbar, weil sie sich zu sehr im Allgemeinen, Pauschalen und Vagen bewegt, sich entweder mit bloß akademischen Fragestellungen befasst oder heute vielleicht noch an irgendwelche philosophischen Restfragestellungen hingegeben ist, denen man den spärlichen Rest-Sinn oder Kaum-Nutzen für unser Leben unmittelbar ansehen kann.

Es gilt daher: Die Naturwissenschaften sind in, die Philosophie ist out.

Die Geisteswissenschaften dürfen noch mitlaufen mit „der Wissenschaft“, aber bitte schön ohne viel Aufhebens, denn dieses liegt nun einmal hier und heute bei den Naturwissenschaften. Wer wollte sich erdreisten, dies in Frage zu stellen? Die Geisteswissenschaften beschäftigen sich mit „dem Geist“, also mit dem Vergangenen, denn „die Geistwelt“ ist nicht mehr. Es ist also ganz klar: Die Geisteswissenschaften sind rückwärtsgewandt, die Naturwissenschaften sind vorwärtsgewandt, hinein in die Materie oder Energie, den Ursprung allen Seins, am Puls der Zeit, am Nerv unseres Lebens.

Den Naturwissenschaften gehören somit Gegenwart und Zukunft, sie allein stehen an vorderster Front unserer Erkenntnisschürfung und Wissensproduktion. Und so können sie ihren Stiefschwestern, den Geisteswissenschaften, ruhig die Vergangenheit als Betätigungs- oder auch Tummelfeld überlassen und einräumen.

Und wir können es an der Vergabe des Nobelpreises ablesen, der folgende Kategorien vorsieht: Physik, Chemie, Physiologie/Medizin, Literatur, Friedensbemühungen. In dieser Reihung schwinden „Theorie“ und „Forschung“ zusehends und gehen – statt in einen geisteswissenschaftlichen Bereich - einfach in die Praxis des Sozialen über, als sei eine Theorie des Menschen, ein Bild des Menschseins bereits stillschweigend vorausgesetzt, und es käme jetzt nur noch auf die lebenspraktische Umsetzung an. Und so muss es uns nicht wundern, dass sein Stifter kein Forscher und Theoretiker war, sondern ein Praktiker und Macher: Alfred Nobel - Industrieller und Erfinder.

Zum Streben nach Erkenntnis gehört also von Anfang an bereits eine Erkenntnis-Erwartung, die in einer bestimmten Blickrichtung auf das Sein besteht. Und damit zeigt sich, dass dieses unser menschliches Erkenntnisstreben nicht einfach neutral und allumfassend ist, gleichmäßig, gleichwertig, objektiv in alle Richtungen orientiert, wie es zunächst - abstrakt-unreflektiert - scheint. Es enthält vielmehr bereits subjektive Differenzierungsmomente in sich, ein „Forschungsgefälle“ in Form einer „Wertung der Erkenntisschürfung“, die aber nur dann vor uns offenliegt, wenn wir sie uns als solche bewusst machen, wie z.B. diese: Erkenntnis-Erwartung: Naturwissenschaften, Erkenntnis-Nichterwartung: Philosophie.

Dies ist unsere gegenwärtige Blickrichtung, somit auch Fragerichtung, somit auch Antwortrichtung. Wir haben sie geistesgeschichtlich herumgewendet, von einer Geistwelt-Wahrnehmung, innerhalb welcher auch der Mensch als Geistwesen ins Auge gefasst war, hin zu einer Materiewelt-Wahrnehmung, innerhalb welcher auch der Mensch als Materiewesen gesichtet ist.

Nicht mehr der „Geist“ wird als das Tragende im Universum gesehen, sondern die „Materie“ (oder ihre Energieformen). Folglich kann auch das Seelisch-Geistige im Menschen nicht ein Ewiges und Substanzielles sein, das den "Materiezustand Leiblichkeit" überdauern wird, sondern übrig bleiben vom Menschen werden, wenn er stirbt, lediglich die Materieteilchen, deren Konglomerat zu seiner "vorübergehenden Leiblichkeit" geführt hat.

Die Geschichtslektion, die wir gelernt haben bzw. lernen mussten, scheint also diese zu sein: Der Mensch ist gar kein Geistwesen, der Mensch ist ein Materiewesen. Die Geschichte hat uns diese einschlägige und eingeschlagene Lektion erteilt, und sie ist geradezu das Urmuster des Aufklärungswissens der Moderne, so dass wir versucht sind zu sagen: Wenn eines feststeht und heute unumstößlich ist, dann dies!

Dazu passt dann eine marxistisch-materialistisch gedeutete (weil in dieser Zeit entwickelte) Psychoanalyse: Der Mensch ist ein Materiewesen, das geistige Blasen wirft (Ich -> Über-Ich) oder rational blubbert (Es -> Ich).