2. Streben nach Erkenntnis - 9. Platonische Höhle

9. Haben wir die platonische Höhle verlassen oder sind wir jetzt erst richtig in ihr drinnen?

In Anbetracht der jährlichen Nobelpreis-Verleihung könnten wir uns freilich an eine Nebenbemerkung in Platons Höhlengleichnis erinnert fühlen: Die Höhlen-Menschen wetteifern miteinander, wer unter ihnen die Schatten am genauesten und besten zu beschreiben vermag, und den Siegern wird dann auf die Schulter geklopft und ein Preis verliehen, z.B. der Nobelpreis.

Externer Link zum Text: Platon, Der Staat (Politeia), Siebtes Buch, (Textstelle siehe 516 Mitte), Projekt Gutenberg-DE - https://www.projekt-gutenberg.org/platon/platowr3/staat07.html, Übersetzung: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, abgerufen am 27.01.2024

Nun ist das Beschreiben an sich nicht schlecht, fatal wird es nur, wenn man glaubt, mit der Wirklichkeit selbst beschäftigt zu sein, während man es in Wahrheit nur mit einer Schatten-Wirklichkeit zu tun hat, indem man die Wirklichkeit selbst gar nicht in den Blick bekommt

Tatsächlich läuft die geistesgeschichtliche Veränderung unserer Blickrichtung der platonisch intendierten „Umlenkung der Seele“ diametral entgegen. Und wir wollen uns fragen: Sind wir hier und heute – nach der Herumwendung unserer Blickrichtung vom „Geist“ zur „Materie“ - mit der eigentlichen Wirklichkeit befasst oder vielleicht jetzt erst so richtig mit der Schatten-Wirklichkeit?

Platon bestreitet nicht die Realität der Schatten, nur sagt er, da sei noch etwas Anderes, Wichtigeres, das das Schattenhafte erst ins rechte Licht rückt, als Teil und Bestandteil eines anderen, umfassenderen Wirklichen

Und wir könnten heute einwenden, sein Höhlengleichnis machte nur Sinn, solange man die Erde als ein "Käseglockenweltbild" ansehen konnte (sei es auch in runder Form), die quantitativ eingebettet war in eine umgebende Geistwelt…

…und hegelisch könnte man wiederum einwenden: Umso schlimmer für unsere Wirklichkeit, wenn wir nicht einmal mehr unser Höhlendasein als solches erkennen können…

Dabei könnte im Rahmen der Kant‘schen Philosophie das platonische Höhlenbild durchaus aufrechterhalten werden. Man muss ja nur eine „Höhlenphilosophie“ (= Kant) der „Philosophie der Höhle“ (= Platon) gegenüberstellen, und der Kant’sche Standpunkt lässt sich dann folgendermaßen versprachlichen: „Lasst uns aufhören, darüber zu spekulieren, ob und was jenseits unserer Höhle (= die sinnliche Sphäre, das Diesseits) als „eigentliche Wirklichkeit“ liegen mag. Es ist und bleibt uns unerkennbar. Alles, was wir wahrnehmen können, ist bloße „Erscheinung“, nirgends stoßen wir auf die „Dinge an sich“. Möge es also künftig zum guten Höhlen- und Wissenschafts-Ton gehören, über ein etwaiges „Außerhalb“ unserer Höhle zu schweigen und uns mit unserem Höhlen-Dasein abzufinden. Nur dieses ist uns sicher greifbar. Unsere Forschung muss also aufhören, einen Höhlenausgang zu suchen, denn da ist keiner...“

Wir sehen hier das Erkenntnisstreben wieder in einer neuen Form: Es ist unter gegebenen (oder als "gegeben" angenommenen) Umständen als sinnlos einzustellen und aufzugeben, zumindest erheblich einzuschränken...

Damit wird deutlich, dass die Frage eines Höhlen-, Schatten-, Erscheinungs- oder Diesseits-Daseins des Menschen eine echte Aporie der gegenwärtigen menschlichen Existenz ist: Wir sind ins „Diesseits“ heute soweit hineingeraten, dass es mit der „Welt“ und „Wirklichkeit überhaupt“ deckungsgleich geworden ist. Ein „Jenseits“ scheint jetzt überzählig im Universum. Es muss daher wohl das Wolkenkuckucksheim oder Über-Ich der Alten gewesen sein.

Und der Common Sense „wusste“ seit jeher, dass es mit der Philosophie "eigentlich nichts" ist. Nehmen wir die platonische Philosophie einmal als repräsentativ: Der Philosoph erfindet sich die Idee eines Höhlen-Daseins, die er über unsere Wirklichkeit darüberlegt, und dann geht er her und erklärt den Menschen, sie befänden sich in einer Verkehrung der Wirklichkeit und müssten diese Schein-Wirklichkeit verlassen, und er – der Philosoph – könne ihnen zeigen, wie das geht!? Die Common Sense-Lösung dieser „tiefsinnigen Philosophie-Problematik“ ist: Wenn der Philosoph von vorneherein auf seine Verkehrungs-Idee verzichtet, so ist und bleibt unsere Wirklichkeit auch in sich stimmig. Eine Wahrheitssuche ist nicht erforderlich, denn wir sind ja schon in der Wahrheit und Wirklichkeit, und das angebliche Getrennt sein von ihr ist die eigentliche, philosophische Erfindung.

Und deshalb ist in unserer Moderne nicht erkennbar, wie wir jemals wieder herauskommen können sollten aus diesem unserem – kantisch bestätigten - „Höhlen“-Diesseits, oder sagen wir besser: Es gibt auch keinen Grund mehr herauszuwollen, denn wir sind ja jetzt erst so richtig in der Welt und Wirklichkeit und Wahrheit drinnen!?

Bei Platon mag noch ein gewisser „Geistwelt- oder Jenseits-Schimmer“ vorhanden gewesen sein, als eine Ablenkung von der Realität, ein Realitäts-Defizit, heute ist es aber eliminiert: Unser Bild der Welt ist jetzt erst, in der Moderne, scharf geworden und hat seine mythische Unschärfe des Tagträumens oder Unaufgeklärt seins gänzlich verloren. Und weil wir heute nun einmal diesen überragenden Realitätssinn haben (und auch haben wollen), werden wir also auch in diesem unserem „Diesseits“ verbleiben. Punkt. Ende.

***

Blicken wir auf ein anderes Wort des alten Heraklit, das bezüglich unserer momentanen Höhlen- und Wirklichkeitsfrage zumindest einmal interessant erscheint:

"Wenn er’s nicht erhofft, wird er das Unverhoffte nicht finden. Denn unerforschlich ist’s und unzugänglich."

 ἐὰν μὴ ἔλπηται, ἀνέλπιστον οὐκ ἐξευρήσει, ἀνεξερεύνητον ἐὸν καὶ ἄπορον.

Textnachweise: Hermann Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch, Bd. 1, zweite Auflage, Berlin 1906, DK 22 B 18, digitalisiert zugänglich über Internet Archive (externer Link: https://archive.org/), zur Verfügung gestellt von der Universität von Illinois Urbana-Champaign unter einer offenen Lizenz, Heraklit Fragment Nr. 18, S. 65 - externer Link: https://archive.org/details/diefragmentederv01diel/page/64/mode/2up, abgerufen am 12.06.2024

Lassen wir offen, ob Heraklit hier eine tiefe Weisheit oder einen Unsinns-Satz mit einem logischen Widerspruch ausspricht, also bereits ein antikes Wort- und Sprachspiel macht. Prüfen wir seine Äußerung trotzdem einmal hinsichtlich unserer Fragestellung.

Was erhoffen/erwarten wir heute? Und was erwarten wir nicht? Was wäre, gemessen am Erwarteten, heute ein Unerwartetes? Unerwartet wäre sicherlich, wenn es doch einen „Höhlenausgang“ gäbe…

Insbesondere deshalb, weil wir im Anschluss an Kant wissen (oder zu wissen glauben), dass wir kein metaphysisches, universales Erkenntnisvermögen besitzen, das über die sinnliche Sphäre hinauskäme oder sie einfach durchdränge. Nicht auszudenken freilich, wenn Kant sich geirrt hätte... Undenkbar, wenn er uns und sich selbst einen metaphysischen Bären aufgebunden hätte... Er hätte uns unser Erkenntnisvermögen re-gel-recht kaputtgemacht und hätte unfreiwillig, na ja, ein Musterbeispiel für die Richtigkeit des Heraklit-Satzes geschaffen, in unserer aufgeklärten, hochreflexiv gewordenen Geistesgeschichte...

Machen wir einen kleinen Vorstellungs-Versuch: Wir können auf ein Atom hin(unter)blicken und uns hierbei vorstellen, es sei eine völlig in sich abgeschlossene, eigene Welt, von welcher aus es keine Verbindung nach außen gibt, z.B. zu uns Beobachtern. Wir, die heimlichen Beobachter, wissen aber - dieser abgeschlossenen Welt voraus -, dass es doch eine „Umgebung“ und also auch eine Verbindung gibt. Und jetzt können wir uns testweise einen „Schreckmoment“ erzeugen: Was, wenn wir inmitten unserer Welt selbst das Innere eines solchen „Atoms“ wären!? Dann könnte auch um uns eine „Umgebung“ sein, welche uns unerkennbar ist und von welcher wir nicht denken können, wie sie jemals „möglich“ sein sollte, obwohl sie sogar „wirklich“ wäre?

Dann bestünde unser eigentliches Wirklichkeitsproblem darin, den „Durchgang als solchen“, das unsichtbare Schlupfloch, zu erkennen und zu finden.

Man denke an den berühmten Holzstich Flammarions, in welchem ein Weltenpilger mit Kopf und Hand aus der bekannten, sichtbaren Welt herauszuschlüpfen beginnt, ohne dass ein solcher „Ausgang“ im Bild erkennbar ist.

Dieser Text basiert auf dem Artikel "Flammarions Holzstich" (externer Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Flammarions_Holzstich) aus der freien Enzyklopädie "Wikipedia" (externer Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Hauptseite) und steht unter der Lizenz "Creative Commons CC-BY-SA 4.0" (externer Link: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/legalcode.de). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren des Artikels "Flammarions Holzstich" verfügbar, dort unter dem Reiter "Versionsgeschichte". Abrufdatum des Artikels: 10.02.2024.

Versuchen wir, uns dieser Problematik weiter anzunähern.

Um die Möglichkeit einer andersartigen Perspektivik konkreter in Erwägung ziehen zu können, müssen wir uns zunächst lösen vom Fixiert sein unseres Denkens auf das Sinnliche, was in Platons Beschreibung so wiedergegeben ist, dass der Mensch an Händen und Füßen gefesselt sei, so dass er keine Handlungsmöglichkeiten habe, sich aus seiner Schatten-Wahrnehmung zu befreien: Er bleibt auf die Schatten fixiert, so wie wir auf das Sinnliche (vgl. Textverweis oben, Nr. 514-515).

Und nun gehen wir nochmals auf die oben gestreifte Frage eines Überholt seins des Käseglockenweltbildes zurück: Ein „Fehler“ der platonischen Erst-Wahrnehmung der Geistwelt könnte darin bestanden haben, dass Sinnen- und Geistwelt als ein Nebeneinander oder Umeinander gedacht wurden. Denn wir wissen ja heute, dass sich die Sinnenwelt über den sinnlichen Höhlen-Anschein des Käseglockenweltbildes hinaus erstreckt und das gesamte Universum umfasst.

Und nun könnte geistesgeschichtlich ein Schlussfolgerungsfehler unsererseits erfolgt sein, im Anschluss an den Erstfehler Platons: Denn dass aufgrund der Unendlichkeit der sinnlichen Sphäre keine angrenzende Geistwelt sein könne, ist gewiss ein richtiger Schluss, aber es folgt keineswegs zwingend der weitere Schluss daraus, dass eine Geistwelt folglich nicht sein könne, indem sie nachkopernikanisch „keinen Platz mehr“ habe.

Eine alternative - und außerdem plausiblere - Schluss-Möglichkeit wäre die gewesen zu sagen: Das, was wir hinsichtlich der Sinnenwelt geistesgeschichtlich feststellen mussten: dass sie sich über das gesamte Universum erstreckt; dieses könnte doch ebensogut auch auf die Geistwelt zutreffen: auch sie erstreckt sich über das gesamte Universum, mit dem wissenschaftsgeschichtlichen Effekt, dass der alte Gedanke eines Nebeneinanders von Sinnen- und Geistwelt falsch war und zu ersetzen ist durch den neuen Gedanken eines Ineinander von Sinnen- und Geistwelt!?

Und damit gewinnen sowohl die Idee eines „Höhlendaseins“ als auch die Idee eines „Höhlenausganges“ sozusagen eine neue Wahrnehmungsdimension, die für ein materialistisches Weltanschauen, für ein auf die sinnliche Sphäre fixiertes Denken völlig unerklärlich ist, während ein spiritualistisches Weltanschauen gut und leicht, ja bestens damit zurechtkommt.

Und man kann mit diesem philosophischen Blick dann auch in Theologisches hineinsehen, z.B. in das Nikodemus-Gespräch im Johannesevangelium, das in Abfassung und Wortwahl den Anschein erweckt, als handle es sich um eine ABC-Fibel, mit welcher Erstklässlern vom Lehrer ein schwierig zu verstehender Sachverhalt in ganz elementarer Sprache zu vermitteln versucht ist:

"Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht von Neuem geboren wird, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.  Nikodemus spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden?  Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht geboren wird aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen.  Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was aus dem Geist geboren ist, das ist Geist.  Wundere dich nicht, dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von Neuem geboren werden.  Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist ein jeder, der aus dem Geist geboren ist." (Joh. 3,3-8)

Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart, externer Link: https://www.bibleserver.com/LUT/Johannes3, abgegriffen am 30.03.2024

Was wäre nun also eine – (materialistisch gesehen) unerwartete - Lösungsidee?

Der platonisch-philosophische Weg aus der Höhle könnte vielleicht dann möglich sein, wenn der Mensch sozusagen über „Münchhausen-Fähigkeiten“ verfügen würde, also über jenes „Unmöglichkeits-Können“ (des berühmten Lügen-Barons), sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf (der Höhle) zu ziehen. Dies hieße dann: Wir müssten uns aus uns selbst heraus in jene andere oder Jenseits-Welt hinüber- bzw. herüberholen können!? Also: Die Lösung müsste direkt bei, ja in uns liegen – und wir sehen sie nur nicht? – Oder noch nicht…?

…aber schon zerplatzt diese Lösungsidee an unserem Realismus, wie ein von einer spitzen Nadel getroffener Luftballon, weil ein solches „Münchhausen-Unterfangen“ nun einmal der physikalischen Realität widerspricht.

Oder war das jetzt – sozusagen schon wieder - zu platt geschlussfolgert, zu plump gedacht (wie der moderne Beweis der Nichtexistenz der Geistwelt aus dem antik-platonischen Falschgedanken eines Nebeneinanders von Sinnen- und Geistwelt)?

Denn auch bei Platons Höhlen-Bild konnten wir ja sehen, dass es durch Kopernikus keineswegs schon „erledigt“ sein muss. Man muss es nur wohlwollend betrachten, sprich: so, dass man es längst möglich aufrecht zu erhalten versucht, bevor man es als unbrauchbar wegwirft, als wären Bilder und Gleichnisse kostbare Schätze, die wir haben. Man müsste ihnen dann eine gewisse Zähigkeit einräumen, als trügen sie eine Widerstands- oder Anpassungskraft in sich, so dass sie – durch Metamorphose, wir könnten auch sagen: durch Lerntransfer – über verschiedene Zeiten hinweg Gültigkeit behalten können, wie etwa Platons Höhlengleichnis in Kants Erscheinungs-Philosophie.

Wir müssten jetzt versuchen, unser Münchhausen-Bild aus einer andersartigen Perspektive oder mit neuen Augen anzusehen, als könne es sich des unerbittlichen Gnadenstoßes unserer zielsicheren, exakten Nadelspitzen-Logik erfolgreich entziehen

…wir könnten z.B. die Eindeutigkeit, Exaktheit, ja, die Ausschließlichkeit unserer physikalischen Betrachtungsweise des Bildes in Frage stellen? Erinnern oder vergegenwärtigen wir uns hierzu, was beim Erkennen, was in einem Erkenntnisakt eigentlich geschieht!

Wir setzten ja eingangs, Erkenntnis könne überhaupt nur dann aus sich selbst heraus gewonnen werden, wenn sie latent, verborgen, unbewusst schon vorhanden sei und lediglich noch nicht ins Bewusstsein herübergeholt. Dieses „latente Vorhandensein“ können wir unserer Denkfähigkeit als solcher (die wir alle haben) zuschreiben, so dass gilt: Jeder Gedanke, der ja potenziell Erkenntnis in sich enthält, ist für mich dann als Erkenntnis verloren, wenn ich ihn nicht fasse!

Unser Erkennen wird damit gewissermaßen zu einem Gelegenheits-Problem unseres Denkens, indem wir uns in der Regel mit den zufälligen Denk-Gelegenheiten begnügen, auf die wir gleichsam äußerlich gestoßen werden, während wir all diejenigen ungenutzt verstreichen lassen, die in unserer Umgebung „da“ und „möglich“ sind, die wir aber einfach nicht „wahrnehmen“, nicht „nehmen“, nicht geistesgegenwärtig beim Schopf ergreifen, wie beispielsweise Galilei das Pendeln des Kirchenleuchters im Dom zu Pisa…

…was wiederum nicht unbedingt ein gutes Licht auf den damaligen dortigen Domprediger wirft, oder auch auf die Theologie der Zeit, falls Galilei sich während seiner Beobachtung im Gottesdienst befand.

Und jetzt ahnen wir auch die Ursache der intellektuellen Überlegenheit eines Sokrates, der sich außergewöhnlich viel Lebenszeit für sein Denken nahm, sprich: außergewöhnlich viele Denk-Gelegenheiten suchte und nutzte, und darüber seine Bildhauerei ein gutes Stück schleifen ließ, einerseits. Anderseits können wir zugleich nachvollziehen, weshalb er in den Augen seiner Ehefrau Xantippe als Faulpelz und Nichtsnutz erschien, der die Handlungs-Möglichkeiten oder auch -Notwendigkeiten des Alltags einfach vernachlässigt, um irgendwelche, in ihrem Nutzen und Wert äußerlich unsichtbar bleibenden „Denk-Möglichkeiten“ zu ergreifen, und hierbei augenscheinlich viel, sehr viel mit andern „plaudert“, sich amüsiert, dem Müßiggang frönt…

…anstatt zu handeln, wie jeder anständige Mensch…

Übertragen: Ein Etwas muss in uns sein, latent, das uns selbst in unserer Wirklichkeits-Wahrnehmung über uns selbst hinauszuführen vermag! Und konkret auf unser Erkenntnisstreben bezogen heißt das: Durch die Aktualisierung unseres Erkenntnisvermögens, durch die Überführung einer Erkenntnis aus ihrer Potenzialität in ihre Aktualität (im Fassen eines Gedankens oder Erkenntnisinhaltes), vollbringen wir tatsächlich ein schier Unmögliches: Wir übersteigen uns selbst – sichtbar daran, dass wir (fast) zugleich Schüler der Erkenntnis und Lehrer der Erkenntnis sein können, Ersteres vor dem Gedanken, Letzteres nach dem Gedanken, wie beispielsweise Galilei, der auf diese Weise Pendel- und Fall-Gesetz zuerst fand und dann auch lehren konnte.

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Wir können demnach das menschliche Erkennen definieren als die Fähigkeit und Möglichkeit des Menschen, sich selbst zu übersteigen oder über sich selbst hinauszukommen

…wodurch uns allerdings „unser Selbst“ – das Ich - zu einem großen Rätsel werden muss: Mein Selbst ist mein Ich, und mein Ich bin ich selbst, das ich sehen kann, überblicken kann, das ich also „weiß“, denn: Ich bin es doch selbst! Es gilt daher: Niemand kennt mich so gut, wie ich mich selbst…

…außer meiner Frau vielleicht: die kennt mich noch besser…

Und wir können auf einen irritierenden oder auch unsinnigen Spruch im alten Griechenland hinblicken, der, wenn er unverstanden bleibt, als Tautologie und Nichtigkeit erscheint: „Erkenne dich selbst“ stand über dem Eingang des Delphischen Apollotempels…

Dieser Text basiert auf dem Artikel "Gnothi seauton" (externer Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Gnothi_seauton) aus der freien Enzyklopädie "Wikipedia" (externer Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Hauptseite) und steht unter der Lizenz "Creative Commons CC-BY-SA 4.0" (externer Link: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/legalcode.de). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren des Artikels "Gnothi seauton" verfügbar, dort unter dem Reiter "Versionsgeschichte". Abrufdatum des Artikels: 10.02.2024.

…und mit dem Common Sense könnten wir antworten: „Warum soll ich erkennen, was ich schon weiß? Ich kenne mich doch schon! Also bleibt uns allen nur noch das Andere zu erkennen, und das erledigen die Naturwissenschaften für uns. Und dann kennen wir alles: uns selbst und auch das Andere um uns herum!“

Wir sehen daran, wie eng das Erkennen mit dem Menschen, also mit uns selbst verbunden ist, und zugleich, wie schnell und leicht man ein zu Erkennendes - als ein schon Bekanntes (= Selbstverständliches) - übersehen und überspringen kann, indem man verwechselt: ein „Bekanntes“ und ein „Erkanntes“?

Wir wollen daher, in Rücksicht auf die obige Definition (eines Sich-selbst-übersteigen-Könnens) und in Rücksicht auf den Delphischen Spruch ernsthaft im Auge behalten: Ist es möglich, dass ich mich selbst noch gar nicht richtig sehen kann? Dass ich mir selbst nur ein Bekannter bin und gleichsam nicht als „meiner selbst vollbewusster Mensch“ durchs Leben gehe, sondern als ein bloßer „Bekannter meiner selbst“!?

Aber wer sollte dann „ich selbst“ sein, wenn ich es nicht bin? Mein Unbewusstes vielleicht, das andere Motivationen meines Handelns und Denkens und Äußerns offenbaren könnte, wenn ich wollte?

Nachdenken macht konfus ggf. sogar schizophren. Sollten wir es lieber bleiben lassen? - Man könnte eine „Gesundheitsgrenze der Reflexion“ überlegen. Wer sie überschreitet, ist krank und gehört unbedingt behandelt. Und im Handeln hat die Menschheit ungeheuer viel Erfahrung, denn sie macht es ständig, seit Urzeiten!

im Denken – womöglich - eher weniger, wie Kants geni… Idee offenbarte…

Also lieber doch keine Grenze? - Wer setzt uns eigentlich unser Gesundsein als solches fest? Die Gesündesten unter uns?... Die (heute noch) am ehesten Gesunden?... Die mit den wenigsten Krankentagen?... – Nachdenken macht konfus…

Sollte es möglich sein, dass mein „wahres Selbst“ zunächst in meinem Unbewussten ruht und dass ich es daraus hervorholen kann, wenn ich will?

Dann hätte das Erkenntnisstreben die – wesenhafte - Funktion, den Menschen vor sich selbst allererst vollständig sichtbar zu machen

…woraus freilich folgte, dass der Mensch a priori vor sich selbst nicht (vollständig) sichtbar ist, wofür ja dann sogar ein Kant in seinem Opus Postumum zu plädieren scheint…

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Und wenn wir nun mit dieser Definition (eines Sich-selbst-übersteigen-Könnens) an das Münchhausen-Bild herantreten, so können wir sagen, dass es eine ins Bild gesetzte „Wahrheit“ in sich enthält, die die bloße „physische Unmöglichkeit“ oder auch „physikalische Unwahrheit“ übersteigt, also de facto auch noch anders betrachtet und beurteilt werden kann, als nur vom (nächstbesten resp. nächstliegenden) physikalischen Standpunkt aus.

Wechseln wir nämlich bei der Bild-Betrachtung von der Physik- oder Physis-Perspektive in die Geist- oder Pneuma-Perspektive, so können wir nun sagen: Im Geiste ist das Münchhausen-Unterfangen, sich selbst am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen, keine Lüge, sondern eine Wahrheit und reale Möglichkeit, die wir mit unserem Denken ergreifen können (oder es auch sein lassen können). Denn für das Erkennen ist die Schwerkraft kein Hinderungsgrund, und die sokratische Entbindungskunst kann von jedem Menschen auf sich selbst angewendet werden, sofern er sokratisch zu fragen und zu erkennen versteht.

Leiblich braucht der Mensch eine Hebamme, um auf die Welt kommen zu können, geistig scheint er seine eigene Hebamme sein zu können, um … wahrhaft „auf die Welt zu kommen“ oder: um in die wahre Welt zu kommen (zumindest in einer spiritualistischen Weltanschauung)?

Und wir wollen noch genauer hinsehen: Wir ziehen hierbei nicht ein Etwas – eine Sache, einen Gedanken, ein Erkenntnis-Ding - aus uns heraus, denn als Geistwesen sind wir mit unserem Erkennen unmittelbar eins (als Bewusstsein bzw. Selbstbewusstsein). Also ziehen wir im Erkenntnisakt uns selbst heraus aus uns selbst, womit die obige Aporie eines „gleichzeitigen“ Ichselbst- und Nichtichselbstseins eine gewisse Lösung fände…

…allerdings scheinen wir vom Regen in die Traufe zu kommen, denn als neue Ungereimtheit ergibt sich, dass wir dann von einem kleineren/früheren und einem größeren/späteren Selbst sprechen müssten, oder auch von einem niederen und höheren Selbst (wovon in vielen oder auch allen sog. esoterischen Schriften und Lehren gesprochen wird), die irgendwie beide zu „uns“ zu gehören scheinen...

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Nun will ich auf die eingangs aufgeworfene Frage zurückzukommen: Was und warum wollen wir denn überhaupt erkennen? Ich will sie aber von unserer bloßen Subjektivitäts-Perspektive in eine - möglicherweise ja auch bestehende - Objektivitäts-Perspektive umkehren: Sollte es wohl möglich sein, dass wir – animal rationale – erkennen sollen, so dass der Mensch (erst) in Philosophie und Wissenschaft wahrhaft begonnen hätte, sein Wesen und seine Aufgabe als Mensch und Menschheit zur Erfüllung zu bringen?...

...eine solche Fragestellung kratzt freilich ein wenig an unserer souveränen und modernen Erkenntnis- und Wissenschafts-Herrlichkeit: Nicht wir selbst sollten Herr unseres Erkennens und Wissenschaftsverfahrens sein, sondern anderswer? Und unser Erkenntnisstreben als solches sei - tiefer gesehen - gar nicht unsere Erstursache, ja überhaupt nicht Ursache, sondern Wirkung, Wirkung unseres In-der-Welt- oder In-einem-Anderen-Seins, als würden wir mit unserem Erkenntnisstreben den Willen eines Anderen erfüllen, z.B. eines Schöpfers, der von Grund auf erkannt sein will und hierfür ein animal rationale ins Dasein gerufen hat, in der Hoffnung, dass es seine Aufgabe (philosophisch) erkenne und erledige...? So, wie analog die Pflanze zum Licht hin geschaffen sein könnte, falls es einen Schöpfer gäbe - ein Gedanke, den wir nicht einfach aus blind gesetzter Selbstherrlichkeit verwerfen sollten...

Aus einer materialistischen Sichtung des Seins ergibt die Frage keinen rechten Sinn, denn danach ist der Mensch ein Materiewesen, das – grundsätzlich überflüssigerweise – intellektuell schäumt oder sprudelt (wie wir jetzt gerade), und ein Sollen ist hier weithin nicht sichtbar, eher eine grundsätzliche Sinnlosigkeit des Ganzen des Seins.

Und wir wollen uns die Konsequenzen einer solchen Sichtung des Menschen für unser Erkenntnisstreben vergegenwärtigen: Unsere „Wissenschaft“ wäre demnach eine bloße Überfluss-Angelegenheit, redundant im Universum, weil sie mit dem (materiellen) Wesen des Universums, mit seiner (mutmaßlichen) Substanz nichts zu tun hätte.

Und es folgt dann auch weiter, dass unsere Wissenschaft grundsätzlich die volle Ewigkeit Zeit für ihre „Forschung“ hat, weil sie – universal gesehen – eben ein Nichts ist, kein zeitkritischer Prozess (z.B. ein Geist-Werdungs-Prozess), sondern ein intellektueller Leerlauf, eine Schaumschlägerei, sagen wir: eine „Kür“ von „vernunftbegabten Lebewesen“, die sich nun einmal – psychisch - schwer tun, sich mit ihrer grundsätzlichen Null- und Nichtigkeit abzufinden, wonach unsere irdische Existenz als Menschen und Menschheit kosmisch gesehen ein bloßes Sandkastenspiel wäre, das dem Wind und Wetter des Universums ausgesetzt ist und bleibt - bis zu unserer voraussichtlichen Verbrennung durch die Sonne, falls wir unser voraussichtliches „kosmisch-natürliches Ende“ nicht schon künstlich-klimatisch vorverlegen sollten…

Aus einer spiritualistischen Sichtung des Seins, wonach der „Geist“ doch das Erste und Ursprüngliche wäre, würde die Fragestellung nach unserem Erkenntnisstreben eine ganz andere, abweichende Antwort finden: Der Mensch ist nicht nur faktisch ein animal rationale, sondern deshalb, weil er das Sein (und sich selbst) erkennen können soll. Unser Forschen als Menschen würde dann eine bedeutsame Rolle im Universum spielen, und es wäre fundamental wichtig, sozusagen wesenswichtig, ob und was der Mensch (über sich und das Ganze des Seins) denkt.

Und käme er dann noch auf die Idee, das Richtige zu denken (also mit seinem Erkenntnisstreben in die richtige Richtung zu gehen), z.B. sich selbst als Geistwesen zu denken, nein, zu erkennen, wäre dann nicht unser Denken wie ein Organ und Organon, um uns mit unserem Ursprung wieder zu verbinden, auch mit der Geistwelt (wieder? erstmals?) in Kontakt und Kommunikation zu treten?

Das (richtige) Denken selbst wäre der Schlüssel, der uns das „Himmelreich“ aufschlösse, nämlich im richtigen, spiritualistischen Schlussverfahren oder Seins-Aufschließ-Verfahren...?

Welcher Blick auf unser Erkenntnisstreben und Denken ist nun der richtige? Ist unser Denken, unsere Wissenschaft überflüssig, so dass wir sie uns im Grunde – als bloße Spielerei oder Zeitvertreib im Universum - sparen können, oder ist das Erkennen von Grund auf wesensnotwendig, vielleicht auch zeitkritisch (falls unsere Geistesgeschichte als ein Reifungsprozess des menschlichen Denkens zu deuten wäre), ohne Ewigkeits-Spielraum des Denkens, in einem spirituell verstandenen Universum

…so dass unser Unbewusstes wie ein letzter, seidener Faden sein könnte, mit welchem die weithin aus unserem Blick verschwundene Geistwelt uns noch an sich hängen lässt?

Aber warum sollte sie uns hängenlassen? Wozu?