2. Streben nach Erkenntnis - 3. Fragekunst

3. Ist Fragenstellen eine Kunst?

Zu Sokrates gehört das Gespräch und zum Gespräch die Wärme des Persönlichen, die er auch ausstrahlte, historisch verbürgt und festgehalten im (kunstvoll gearbeiteten) „platonischen Dialog“. Sokrates war im Gespräch deshalb so stark überlegen, weil er das Streben nach Erkenntnis auch im Alleinsein intensiv betrieben hat, mehr Zeit dafür aufgewendet hat als die Anderen, und offenbar resultiert daraus ein Gewandt sein im Denken, dann auch im Formulieren, und zuletzt auch in der Gedanken- und Gesprächsführung.

Und wodurch genau ergibt sich solche Gewandtheit? Durch häufiges Fragenstellen, durch wiederholtes Aufwerfen von Fragen, insbesondere an ungewöhnlichen Stellen, an Stellen also, an denen für gewöhnlich „nichts aufgeworfen“ wird. Und warum wirft dort niemand Fragen auf? Weil sich die betreffenden Dinge von selbst verstehen, selbsterklärlich sind und daher - scheinbar - nicht hinterfragt werden müssen.

Ein Beispiel hierfür ist die Philosophie selbst in ihrer Geschichte: Zuerst wird sie jahrhunderte- und jahrtausendelang einfach praktiziert, als gedankliches Ausgreifen des Menschen nach dem Großen und Ganzen des Seins, und dann irgendwann kommt plötzlich ein Kant mit einer ganz und gar sokratischen Fragestellung daher, indem er fragt: Können wir das denn überhaupt? Und siehe da, die Selbstverständlichkeit ist keine solche mehr, sondern wird zweifelhaft und fragwürdig: Das, was lange Zeit für sicheres Wissen gehalten oder aber unhinterfragt als zutreffend vorausgesetzt worden war, zeigt sich als ein mögliches Scheinwissen, als nicht für möglich gehaltener, potenzieller Irrtum.

Das Fragenstellen ist also ein Können, eine Kunst...

Externer Link: Vgl. „Kunst“, in: Wolfgang Pfeifer et al., Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, externer Link: <https://www.dwds.de/wb/etymwb/Kunst>, abgerufen am 09.02.2024.

...aber nicht zu dem Sinn und Zweck, Andere aus der Fassung zu bringen oder gar aus der Bahn zu werfen, sondern: Der eigentliche Gegenstand des Fragens ist das Selbstverständliche, das als wahr und evident Vorausgesetzte – und dieses ist nicht ein Anderes (und bei anderen zu suchen und zu kritisieren), sondern ein Eigenes: unser je eigenes Selbstverständnis, das teils individuell, teils allgemein ist, und welches wir sozusagen als unseren eigentlichen Gegner oder Erkenntnis-Verhinderer ansehen müssen.

Damit wird deutlich, dass wir unser kritisches Fragenaufwerfen weniger auf Andere zu beziehen haben, sondern in erster Linie gegen uns selbst zu richten. Denn wenn wir bei Anderen einen Irrtum nachweisen, bringen wir damit potenziell sie selbst weiter (sofern sie die Korrektur anzunehmen bereit sind), wenn wir aber einen Irrtum bei uns selbst nachweisen (oder auch nachgewiesen bekommen), bringen wir uns selbst weiter, und zwar durch unsere eigene Erkenntnistätigkeit. Deshalb wird die ursprüngliche sokratische Fragerichtung diejenige gegen sich selbst gewesen sein und erst sekundär diejenige gegen Andere.

Sokrates war ein Liebhaber solcher Fragerei, und aus dieser Vorliebe, die er hatte, aus diesem Mögen ergab sich ein ausgiebigeres Sich tummeln in solchem Fragen und auf diese Weise sein spezifisch sokratisches Vermögen und Können...

Externer Link: Vgl. „mögen“, in: Wolfgang Pfeifer et al., Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, externer Link: <https://www.dwds.de/wb/etymwb/m%C3%B6gen>, abgerufen am 09.02.2024.

welches er selbst Maieutik (Hebammenkunst) nannte und mit welchem er seine Umgebung in Staunen versetzte oder auch amüsierte.