2. Streben nach Erkenntnis 4. Geschichtslernen

4. Geistesgeschichtliches Lernen führt zu Erkenntnis-Potenzierung und Bildung

Dies ist es, was wir aus unserer eigenen Geistesgeschichte hätten lernen können, bereits in ihren Anfängen bei Sokrates: Nichts und niemand kann den erkenntnissuchenden Menschen daran hindern, Erkenntnis zu finden, denn sie wird im Grunde aus sich selbst heraus gewonnen.

Das heißt: Jeder einzelne Mensch muss die Erkenntnis, das Wissen potenziell schon in sich tragen, und wenn man nun den festen Willen fasst, diese verborgen oder latent vorhandene Erkenntnis auch zu erlangen, ins Licht des Bewusstseins herüberzuholen, so wird man immer tiefer ins Nachdenken und Reflektieren hineinkommen. Man wird dann mehr Aspekte einer Sache, mehr Argumente und Gegenargumente als die Anderen sehen und berücksichtigen lernen, wird versierter im Denken und wird nach und nach ein umfassenderes Denk-Betätigungsfeld finden und eine größere Denkroutine entwickeln, wir könnten auch sagen: Man wird freier in seiner Denk-Bewegung, gewinnt an geistigem Bewegungsspielraum, findet sozusagen „Lösungs-Weite“ im eigenen Geiste.

Prinzipiell gefasst: Jeder einzelne Mensch ist Schüler und Lehrer (Selbst-Belehrer) zugleich, je nachdem, wie viele und wie umfängliche Überlegungen über das Sein er schon angestellt hat bzw. wo im Universum er mit seinem Denken schon überall gewesen ist oder was an Erfahrung des Seins er schon in sich aufgenommen und verarbeitet hat. Je mehr man verarbeitet hat, desto mehr kann man dann auch vermitteln.

Auf dem universalen Gebiet menschlichen Denkens gilt also: Jeder ist Jedem voraus, und: Jeder hinkt Jedem hinterher, einfach deshalb, weil nicht alle Individuen an ein und derselben Stelle in Raum und Zeit stehen können und weil von jeder Raum-Zeit-Stelle aus das Sein ein je anderes Ansehen und Aussehen hat, folglich auch andere Erfahrungen gesammelt werden und andere An-Sichten oder Stand-Punkte entstehen können. Und deshalb müssen wir uns über eine bestehende Meinungsvielfalt nicht wundern, es wäre eher seltsam, wenn sie nicht bestünde.

Das Denken hat aber nun die Besonderheit an sich, dass wir uns mit ihm - zumindest versuchsweise - an die Stellen der Anderen setzen können, um deren Seinserfahrung zu unserer eigenen noch zusätzlich hinzuzunehmen und dadurch ein Mehr an Denk- und Seinserfahrung zu erwerben, als unser eigenes Leben aus sich selbst heraus freigibt.

Und gelingen kann dies nur in dem Maße, als man „Grenzen seiner selbst“ wahrzunehmen und zu übersteigen vermag, indem man die Erfahrung macht, das Denken sei bei Allen nicht gleich, sondern unterschiedlich. Oder wir können auch sagen: Man macht sich empfänglich für ein mögliches Anderssein als solches und lernt dabei, sich selbst in dieses (existenzielle) Anders-Sein nicht fälschlich hineinzumischen und hineinzutragen, lernt also, in den real existierenden Seins- und Denk-Verhältnissen auch realitätsgemäß zu differenzieren. Und dies gilt nicht nur sozial, sondern auch geschichtlich.

Und insbesondere in der Betrachtung unserer Geistesgeschichte besteht eine enorme Gefahr, Zeiteigenes in andere Zeiten hineinzutragen und deren „Echtwahrnehmung“ zu überlagern und zu verfälschen, ohne diesen Übertragungs-Fehler als solchen überhaupt zu realisieren.

Und nun entsteht ein gewisses Problem: Wir sind gewohnt oder nehmen uns die Freiheit, Ansichten oder Standpunkte Anderer als falsch zu verwerfen (indem wir sie an unserer eigenen Ansicht und Überzeugung messen). Künftig werden wir aber bedenken müssen, dass jede An-Sicht und jeder Stand-Punkt auf eine Stelle im Sein zurückzuführen ist, an der jemand steht und existiert, so dass es – rein geistig gesehen – ein Akt der Existenzvernichtung wäre, wenn wir eine Ansicht oder einen Standpunkt verwerfen würden, indem wir damit indirekt zum Ausdruck bringen: Die Existenz dieses oder jenes Menschen müsse eine falsche sein: So könne man doch wohl unmöglich sein!?

Unser Grundsatz im Erkennen soll aber kein moralischer sein, Lob und Tadel vergebend, sondern ein lediglich wahrnehmender, Fakten hinnehmend, und damit ergibt sich nun ein Umgekehrtes: Jede Existenz ist als eine richtige vorauszusetzen (Sie ist ja faktisch eine Eigenexistenz mit je eigener Lebensorientierung), vorauszusetzen also als eine wirkliche und reale, und jede beruht auf Erfahrung im Sein, somit Erfahrung des Seins, und sie ist jeweils aus sich selbst heraus gesammelt und gewonnen.

Hierbei wollen wir selbstkritisch die Frage im Hinterkopf behalten: Wie können wir sichergehen, nicht in eine Falscherfahrung des Seins hineinzugeraten oder gar schon darin herausgekommen zu sein?

Und deshalb soll gelten (nur für unsere Denk-Praxis, nicht für unsere Handlungs-Praxis, die selbstverständlich Normen des Zusammenlebens braucht und auf moralisches Urteilen nicht verzichten kann): Wir selbst wollen nicht soziale oder geistesgeschichtliche Schiedsrichter oder Moralapostel spielen, in der Vergabe und Zuweisung von „wahr“ und „falsch“, „gut“ und „schlecht“ unter der bestehenden Meinungsvielfalt oder unter den vielen Raum-Zeit-Stellen, die alle von Menschen mit je eigener Existenz ausgefüllt sind und gewesen sind und noch sein werden. Sondern jeder Stand-Punkt oder besser: Stand-Ort im Sein soll uns als wahr gelten.

So verlagern wir unsere Erkenntnistätigkeit, weg von einem anfänglichen, ego-zentrischen „Unterscheiden zwischen wahr und falsch“, das ein einziges „wahr“ hervorhebt und zum alleinigen Maßstab erklärt, nämlich das eigene, hin zu einem alii-zentrischen „Zusammensehen von wahr und wahr“, das die umgebenden „wahr“ der Anderen gegenüber dem eigenen „wahr“ gleichstellen und somit anerkennen und mitberücksichtigen will.

Und jetzt bekommen wir ein Gespür dafür, dass wir nicht davon ausgehen sollten, die pure Wahrheit schon zu besitzen (um von „hier“ resp. uns aus ein Schieds-Richter-Urteils-Amt der Wahr- oder Recht-Sprechung in unserer Umgebung und über sie auszuüben), sondern dass wir das „wahr“ erst hier und dort und auch da erst noch sehen lernen müssen, so dass hier zuerst unser erkennendes Tätigwerden stattfinden muss, nämlich unser (passives, hinnehmendes) „Wahr-Nehmen“, mit welchem wir unser bisher praktiziertes (aktives, aburteilendes) „Falsch-Austeilen“ ersetzen wollen. Die „Wahrheit“ ist „da“ (resp. dort), liegt uns vor Augen, überall, aber sie muss von uns „genommen“ werden, wenn sie nicht nur „dort“ sein soll, sondern auch „hier“, bei bzw. in uns.

Die Aufgabe ist also prinzipiell ganz einfach, wenn auch beschwerlich: Nicht unsere eigene Mein-ung soll der Maßstab des Wahren sein, sondern erst alle Mein-ungen zusammen ergeben ein rundes Bild „der Wahrheit“, und so muss also „die Wahrheit“ erst zusammengesucht und zusammengetragen werden - und mit unserem vermeintlich urteilssicheren Schiedsrichter-Amt ist es zunächst einmal nichts, indem offensichtlich so viele Schiedsrichter des Seins existieren als es Menschen gibt…

Dies ist freilich unangenehm, weil wir hierbei nun explizit voraussetzen müssen, wir selbst stünden noch gar nicht „in der Wahrheit“, sondern seien noch von ihr getrennt oder entfernt, nicht anders aber, als jeder einzelne andere auch.

Und es ist auch unbequem, weil wir nun unserer Kritiklust nicht mehr freien Lauf lassen können, um an unsere Umgebung Lob und Tadel, Wahr und Falsch zu vergeben (wie gelbe und rote Karten) und uns selbst dabei so richtig als Mittelpunkt der Welt wohlfühlen zu können, als wären wir selbst – nach dem bekannten Protagoras-Satz - das Maß aller Dinge, der seienden, dass sie sind, und der nichtseienden, dass sie nicht sind, womit Protagoras selbst vielleicht nicht einmal eine philosophische Wahrheit allgemeiner Relativität ausgesprochen, sondern lediglich das Common-Sense-Verhalten wiedergegeben haben wollte.

Dieser Text basiert auf dem Artikel "Protagoras" (externer Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Protagoras) aus der freien Enzyklopädie "Wikipedia" (externer Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Hauptseite) und steht unter der Lizenz "Creative Commons CC-BY-SA 4.0"(externer Link: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/legalcode.de). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren des Artikels "Protagoras" verfügbar, dort unter dem Reiter "Versionsgeschichte". Abrufdatum des Artikels: 09.02.2024.

Wir sind jetzt also aufgefordert, uns selbst zurückzunehmen, um unsere Umgebung als sie selbst überhaupt wahr-nehmen zu können. Das heißt: Im Streben nach Erkenntnis haben wir uns bereits auf einen vorgeschobenen Posten unseres eigenen Lebens begeben, ständig auf dem Sprung, im Anderen ein Anderes zu entdecken, ein Nicht-Eigenes, um dieses lernend aufzunehmen und uns selbst dadurch zu bereichern: Wir gehen auf das Andere zu, indem wir es als es selbst – sozusagen großmütig-verständnisvoll - vor uns selbst zum Vorschein kommen lassen oder: Das Andere darf – vor uns – es selbst sein. Wir müssen also lernen, uns selbst zu verlassen, aus uns selbst herauszugehen, von uns selbst abzusehen.

Die letztere Wendung stammt nicht von mir, Nietzsches „Zarathustra“ tut eine entsprechende Äußerung:

"Von sich absehen lernen ist nötig,
um viel zu sehn:
– diese Härte tut jedem Bergsteigenden Not."

Externer Link: Vgl. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 3. Teil - der Wanderer - externer Link: https://podcast-lesung.de/19-friedrich-nietzsche-zarathustra-3-teil-der-wanderer/; Schnellsuche der Textstelle: Scrollen bis zum rechts im Bild erscheinenden, grau unterlegten Autoren-Link: Suttner, Bertha von. - Startseite der Website von Elisa Demonki: externer Link: https://podcast-lesung.de/.

Vor einem Kritik-Üben an anderen muss von nun an das Selbstkritik-Üben stehen, nicht zuletzt deshalb, weil wir keinen Sokrates zur Verfügung haben, der uns diese Arbeit einer „Prüfung unserer selbst“ von außen her abnimmt. Und deshalb müssen wir selbst sehen, ob und inwiefern wir ein blinder Fleck unseres eigenen (egozentrischen) Wahrnehmens und Urteilens sind, eine Linsentrübung, die sich selbst nicht sehen kann, vielleicht auch gar nicht sehen will?

In dem Maße nun, als man solches „Suchen und Zusammentragen der Wahrheit“ realisieren kann, „bildet“ man sich, und man befindet sich dann auch bereits auf einem Weg des Erkennens, getragen von der Hoffnung, noch mehr Unterschiede im Sein sehen zu lernen und sich dadurch noch weiter bilden zu können. Man beginnt, aus dem eigenen, biographisch einfach dahinfließenden Lebensvollzug aktiv herauszutreten, vor sich selbst hervorzutreten, gleichsam zu versuchen, über den eigenen Tellerrand hinauszukommen oder die eigenen Scheuklappen zu beseitigen, um über sich selbst hinausblicken zu können, in ein frei gewordenes Sichtfeld...

„Bildung“ kann insofern verstanden werden als die Möglichkeit aller Individuen, ihren Gesichtskreis über sich selbst hinaus zu erweitern, als könne der Mensch durch bloßes Wollen sein Seh- und Erkenntnisvermögen verbessern und steigern...?!

Man probiere es aus, und es wird sich zeigen: Mein eigenes Können hängt ab von meiner eigenen Willensentwicklung, von der Intensität meines Strebens als solchen; und hier zeigt sich ein weiteres Inhaltsmoment des Erkenntnisstrebens: die Bereitschaft haben, ein Anderes als es selbst anzuerkennen, indem man sich selbst vor ihm zurücknimmt. - Keine Einzelwissenschaft spricht diese Wahrheit aus, aber alle enthalten sie implizit in sich...

Und dies soll unsere Ausgangslage für unser Erkenntnisstreben sein:

Bei Jedem und Jeder – ohne Ausnahme - ist etwas Neues und Nützliches und Brauchbares zu finden, und möglichst Vieles davon soll zusammengesehen werden, damit diese vielfachen „Einzelerfahrungen des Seins“ nicht für sich alleine bleiben (und geistesgeschichtlich verlorengehen), sondern sich potenzieren können, so dass am Ende vielleicht das entsteht, was hier gesucht ist: echtes Wissen, keine Schein-Bildung (einseitiger oder selbstbezogener Erfahrung, die ja jeder ganz von allein besitzt und in seinem „Meinen“ als „die Wahrheit“ ausgibt), sondern aufrichtig-wesenhafte, uns alle in sich fassendeBildung unserer selbst“, mit dem Ziel, zu einem wahrhaften Stehen im Sein zu kommen, welches imstande ist, zwischen dem eigenen Stehen und dem Stehen Anderer zu unterscheiden und dieses Unterschiedliche nicht zu verwischen und nicht fälschlich als ein Einheitliches auszugeben, weder im Raum noch in der Zeit und Geschichte.