2. Schülersein (Lernen) und Lehrersein (Lehren) fallen in eins
Erkenntnisgewinnung (Lernen, Forschung) und Erkenntnisvermittlung (Lehre) seien von vornherein zusammengesehen, und in den Anfängen unserer europäischen Geistesgeschichte zeigt sich uns auch ihre Zusammengehörigkeit, indem beispielsweise Platon beides war, Schüler des Sokrates und Lehrer des Aristoteles, generationenübergreifend.
An der Person und am Leben des Sokrates selbst sehen wir, dass Lernen und Lehren noch ursprünglicher zusammengehören, als die zwei Seiten des menschlichen Erkenntnisstrebens.
Erkennen hängt somit eng mit der Sozialität des Menschen zusammen, mit seiner Fähigkeit zur Kontaktaufnahme und Kommunikation.
Sokrates suchte nach Weisheit, in der Form der Liebe zu ihr (Philo-Sophie). Er suchte sie in seinen Mitmenschen, und im Gespräch zeigte sich immer wieder, dass er das, was er suchte, in seinen Mitmenschen nicht finden konnte: Wissen. Vielmehr kam er zu dem unbefriedigenden Ergebnis, die anderen wüssten noch weniger als er. Und so wurde er, der eifrige Schüler der Weisheit (oder des Wissens) gewissermaßen unfreiwillig zum Lehrer derjenigen, von denen er zu lernen gehofft hatte, indem er ihr Wissen als Scheinwissen entlarven musste, was er selbst sehen und aufzeigen konnte, die Anderen aber, die sich für Wissende hielten, übersehen hätten, wenn sie von ihm – dem denkgeübten Philo-Sophen - nicht darauf gestoßen worden wären.
Analog wollen wir auch hier und heute damit rechnen, mit unserem eigenen Wissen (oder Teilen davon) könne es sich ebenso verhalten: Wir halten es für fundiert, für einen sicheren, tragfähigen Boden, für ein echtes Wissen, obwohl es ein Scheinwissen sein könnte. Und wenn uns kein Sokrates begegnet, der uns darauf aufmerksam macht, so halten wir dieses Scheinwissen als Wissen fest, obwohl es Irrtum ist? Folglich müssen wir uns den fehlenden Sokrates durch uns selbst ersetzen, indem wir seine Art des Fragens kennenlernen und einüben, um es von uns aus auf unser Wissen oder vermeintliches Wissen zur prüfenden, selbstkritischen Anwendung zu bringen.
Und wir können uns heute zusätzlich fragen: Warum hat Sokrates diese seine unersprießliche Lehrer-Richtung des Irrtum-Nachweisens beibehalten? Warum blieb er fixiert auf das geringere Wissen der Anderen? Hat er nicht gesehen, dass er sein größeres Wissen aus sich selbst heraus gefunden hatte, in längerem und intensiverem Nachdenken als die Anderen? Nicht erkannt, dass er sich selbst in einem fortgeschritteneren Reflexionsstadium menschlichen Denkens befand? Warum also ist er nicht - umgekehrt - seine eigene und sozusagen rein denkinterne Schüler-Richtung selbstständigen Erkenntniserwerbs weitergegangen, wenn auch zunächst ganz alleine, in reiner Selbst-Belehrung?