H. ABC-Versuch
19. Warum ein „ABC-Versuch“?
Der Text dieses Menüpunktes ist ein ABC-Versuch in mehrfacher Hinsicht.
Zum Ersten eine persönliche Begründung: Ich kann den Text gar nicht anders als lediglich einen „ABC-Versuch“ nennen, weil ich hier über Dinge spreche, mit denen sich auch unsere Wissenschaften befassen. Nun schätze ich unsere Wissenschaft, heiße ihr Tun gut und halte es nicht nur für sinnvoll und fruchtbar, sondern sogar für notwendig und unverzichtbar. Denn sie ist die Wege ins Viele und Einzelne, ins Weite und Nahe gegangen, und auf diese Weise konnte sich der Mensch einen gewissen Überblick über das Ganze des Seins verschaffen, allerdings von der räumlichen Sphäre aus, die das Sinnlich-Physische umfasst. Sie aber ist mehr oder weniger bis zum Ende durchschritten, und dies ist ein Resultat, in welchem wir hier und heute stehen, eine Gemeinschaftsleistung aller zur Wissenschaft Versammelten. Hier sollte alle Kritik schweigen und reine Anerkennung sein: Ich ziehe meinen Hut und verneige mich.
Ich erkenne die Wissenschaft also an, und doch habe ich mich nicht an ihre Regeln gehalten (wenngleich allerdings aus einem m.E. plausiblen Alternativ-Forschungsgrund). Denn nach unserer Konvention ist Zugangsvoraussetzung eines Mitredens des Einzelnen in der Wissenschaft sein Erwerb eines Doktor-Titels, mit welchem er zum einen seine geistige Kapazität und Leistungsfähigkeit unter Beweis stellt, zum andern hierbei auch schon in das weite Feld der Wissenschaften mit hineingeht. Ich selbst kann keinen solchen Abschluss und Einstieg vorweisen, und so habe ich auch keine Zertifizierung für eine ernstzunehmende Gesprächsteilnahme. Das selbstständige Erringen eines Doktor-Titels ist zweifellos eine geistige Leistung, und so könnte man mir legitim entgegenhalten: „Wer keinen wissenschaftlichen Abschluss hat, kann über wissenschaftliche Dinge auch nicht mitreden.“
Ich selbst stelle diesem berechtigten Standpunkt nun mit dieser Abhandlung einen anderen, m.E. aber auch berechtigten Blickwinkel zur Seite: „Wer die Wege der Wissenschaft nicht verlässt, kann auch nicht zu einem von ihr abweichenden Denken kommen.“ Und man kann sogleich erwidern: „Wozu ein abweichendes Denken, wenn doch die Wege unserer Wissenschaft die richtigen (gewesen) sind?“ Und ich räume ein, die Wege unserer Wissenschaft sind richtige gewesen, möchte aber zugleich an den bereits in der Einleitung genannten Schiefstand zwischen Philosophie und Wissenschaften erinnern, wobei hier nochmals zwischen Natur- und Geisteswissenschaften unterschieden werden muss. Und wenn nicht unser faktisch gelebter Materialismus wahr ist, der die Priorisierung „Naturwissenschaften – Geisteswissenschaften – Philosophie“ zur Folge hat, sondern der Spiritualismus, so muss die Rangfolge genau umgekehrt lauten: Philosophie – Geisteswissenschaften – Naturwissenschaften. Die Philosophie wurde aber von unseren Wissenschaften links liegen gelassen – und hier sehe ich eine Rechtfertigungs- und Rettungschance für mich, durch meine Umkehrungs- oder Alternativsichtung.
Mein Fragen erreicht die Grenzen unseres wissenschaftlichen Fragens, und in dem Terminus „Grenzwissenschaften“ erweckt die Wissenschaft vor sich selbst den Anschein, sie selbst sei schon im Wesentlichen das Wesentliche und es komme nur noch eine periphere „Restwissenschaft“ obendrauf, die noch ein bisschen musisches Andersfragen betreibe oder sinnloserweise am Unzugänglichen kratze.
Aber: Ist das so? Deshalb könnte und sollte meine Art des Fragens interessant gerade auch für die Wissenschaft selbst sein. Zu diesem andersartigen Fragen gehört nämlich auch die Frage nach der Grenzziehung als solcher, die wissenschaftlich gesehen tendenziell als Faktum gilt, philosophisch gesehen tendenziell ein Irrtum und Irrweg ist, aber nur dann, wenn die Philosophie nicht selbst den (nur auf sie zutreffenden) Irrweg einer „Wissenschaft“ eingeschlagen hat. Und innerhalb dieses wissenschaftlichen Missverstehens der Philosophie wird auch umgekehrt das philosophische Fragen selbst nicht mehr ernst genommen und als eine Verirrung oder zumindest als bloßer, sinnloser Müßiggang angesehen. Es ist aber gerade diese Verkehrungsidee der Philosophie, die es ermöglicht, das gemeine Strombett des Naheliegenden, Wahrscheinlichen und nur scheinbar Altbewährten zu verlassen und ein andersartiges Denken zu entwickeln, innerhalb dessen sich dann auch eine Außenperspektive zur Wissenschaft ergibt, die sie selbst als solche nicht und niemals haben kann.
Ich werfe also wissenschaftstranszendente Fragen auf, die – unter Umständen - der Wissenschaft deutlicher zeigen können, wo sie selbst stehe. Z.B. scheint mir die Wissenschaft ihr eigenes Überholt-werden-können nicht denken zu können, weil sie sich selbst „ganz oben befindlich“ glaubt. Mit „oben“ ist der „menschliche Geist auf voller Höhe“ gemeint, und wenn die Ratio das Höchste des menschlichen Geistes ist, dann hat sie auch Recht damit. Dieses Wenn als solches vernachlässigt sie aber, hat sie gleichsam gestrichen oder nicht einmal als Möglichkeit im Auge behalten, und so kann sie – die Wissenschafts-Ratio – das Freud’sche Unbewusste sogleich einmal hinter sich lassen und in die zweite Reihe oder Zweitrangigkeit – und damit hinter sich selbst - zurücksetzen.
Und damit hat sich diese „die Wissenschaft“, sei es ausdrücklich oder unausdrücklich, in meinen Augen als „menschlicher Geist auf voller Höhe“ selbst disqualifiziert, und das Verlassen ihrer Wege wird nun sogar notwendig, wenn man den menschlichen Geist doch tiefer erfassen möchte, als sie selbst es tut oder – per definitionem – zu tun gewillt ist und vermag, als bloße Ratio, gegen einen ihrer Großen, gegen Sigmund Freud.
Denn nach meiner Auffassung widerspricht eine „Wissenschaft“ sich selbst, die einerseits beansprucht, das Unbewusste entdeckt zu haben, anderseits sich selbst aber trotzdem konventionell, also vorfreud‘schisch, weiterbetreiben möchte, auf der bloßen Bewusstseinsebene, als sei auch durch Freud geistesgeschichtlich sozusagen „nichts weiter passiert“, und die Wissenschaft könne „das Unbewusste“ schlicht in ihre Wissensschatzkammer en passant mitaufnehmen und - einfach weitermachen wie bisher…
Und wie gelingt ihr das? Durch Zuordnung und Aufgabenverteilung: Das „Unbewusste“ gehört zur „Psychologie“, die dadurch halt zur „Tiefenpsychologie“ wird, und so wird uns also die Psychologie – stellvertretend für die gesamte Wissenschaft – das Unbewusste aufarbeiten. Alle Anderen bleiben außen vor, nach dem Prinzip der Arbeitsteilung, was, bezogen auf ein menschliches Individuum wohl als eine „multiple Persönlichkeitsstörung“ zu bezeichnen wäre. Anders formuliert: Wenn 100 Menschen eine Sehbehinderung haben resp. an sich feststellen, dann – so praktiziert dies unsere Wissenschaft – genügt es, wenn einer sich mit dieser Sehbehinderung näher befasst, während die anderen so weitermachen können, als existierte diese Sehbehinderung überhaupt nicht…?
Soll heißen: Auch die Wissenschaft insgesamt ist nicht frei von den bereits hinsichtlich Philosophie und Theologie konstatierten Prinzipien- oder Methodenfehlern, die auf bloßer wissenschaftlicher Inkonsequenz beruhen, d.h. auf dem Nichterkennen eines Einschnitts in der eigenen Fragestellung, die eine Kehrtwendung des gesamten Wissenschaftsapparates erforderlich gemacht hätte, welche aber unterblieben ist:
a) Fehler der Philosophie: Sie betreibt sich selbst als Wissenschaft und Restphilosophie
b) Fehler der Theologie und Kirche: Sie liest die Bibel faktisch noch geo- resp. kosmozentrisch
c) Fehler der Wissenschaft: Sie bildet sich ein, nach Freud rein rational weitermachen zu können
Folgende Erkenntnisse oder Richtungsstöße hat die Wissenschaft auf ihrem Weg nicht realisiert, so dass sie sang- und klanglos an ihr vorübergingen:
a) Die Wissenschaften haben den Gegenstand der Philosophie ruiniert bzw. eliminiert. Damit haben sie den ursprünglich existenziellen Sinn ihrer selbst aufgehoben, sich selbst (und ihr hochangestrengtes Tun) prinzipiell sinnlos gemacht.
b) Unser Wort Gottes darf gar nicht kosmozentrisch verstanden werden, denn es ist nicht abstrakt-allgemein gesprochen, sondern konkret geoanthropozentrisch. Es bezieht sich auf ein „inneres“ Bezugssystem der Sünde, in dem wir, die Erdenmenschen, stehen und auch wissenschaften, nicht auf das „äußere“, umgebende Bezugssystem des Kosmos, an das wir zunächst einmal mit unserem verdorbenen Geist gar nicht mehr heranreichen.
c) Die Wissenschaften haben ihre eigene potenzielle Beeinträchtigung durch das Irrationale oder Unbewusste offengelegt, verhalten sich aber weiterhin so, als spiele dieses Irrationale oder Unbewusste für ihre eigene Ratio-Unternehmung keine wesentliche Rolle, so dass methodisch-rational weitergemacht werden kann, wie zuvor.
Insofern ist unsere Wissenschaft „erzkonservativ mit einem bloßen progressiven Anschein“, und der einzelne Wissenschaftler mag sich entsprechend sagen: „Meine Vorgänger haben mir „Wissenschaft“ vorgemacht, und ich mache sie nach und führe sie in ihrem Sinn fort. Warum sollte man ein Gutes und Richtiges ändern?“
Der m.E. „Widersinn“ geht soweit, dass innerhalb dieser der Wissenschaft die Theorie eines „Paradigmenwechsels“ aufgestellt ist, zugleich aber nicht erkannt werden will (oder kann), dass solche Paradigmenwechsel bereits eingetreten sind (vgl. oben a-c), nur dass diese Wissenschaft sie nicht realisierte und daher immer noch ernsthaft glaubt, so – rational-unkompliziert – weitermachen zu können wie bisher. Die Entdeckung des Unbewussten ist ein Paradigmenwechsel gewesen, den die Wissenschaft zwar gefunden hat, den sie aber nicht mitgemacht hat, also nicht ernst genommen, denn sie wäre durch ihn eine andere geworden, die ihren bisherigen Ratio-Weg der Neuzeit nicht mehr einfach weitermachen kann. So aber gibt sie sich, als sei geistesgeschichtlich nichts weiter von Bedeutung geschehen, soll heißen, sie hat nicht einmal das richtige Gespür für die Veränderungen, die durch ihre eigenen Erkenntnisse zustande kommen (sollten)?
Wo liegt der Fehler? Er liegt bereits in der Voraussetzung, in der der Wissenschaft zugrundeliegenden Ratio. Und so wird der Begriff „Paradigmenwechsel“ selbst nur auf der Ratio-Ebene gedacht und erwartet, und damit kommt die Wissenschaft über ihren eigenen blinden Fleck (wissenschaftliche Rationalität = Geistigkeit des Menschen) nicht hinaus, und so findet auch kein Wechsel statt. Und so haben wir heute das Kuriosum: Es gibt eine Relativitätstheorie, eine Quantenphysik, eine Tiefenpsychologie – lauter hochwertige Wissenschaftsentdeckungen – und zugleich bleibt Alles beim Alten, und die Wissenschaft tritt auf der (alten Ratio-)Stelle, wobei sie ihr Auf-der-Stelle-Treten nicht einmal realisiert. Denn ihr Fortschritt hat ja auf der Ratio-Ebene zu passieren, so glaubt und erwartet sie, indem sie a priori den menschlichen Geist viel zu klein, viel zu eingeschränkt, eben nur neuzeitlich-rational voraussetzt, in Verlängerung des ursprünglichen, antik-aristotelischen Selbstverständnisses des Menschen als animal rationale.
Und so wächst diese Ratio-Ebene vor sich hin: Wissen, und noch mehr Wissen, und noch mehr Wissen, also Inhalts-Wissen, und das Können-Wissen bleibt auf der Strecke, wobei ja kurioserweise das wissenschaftliche Denken selbst ein erst im Laufe der (Denk-)Zeit entstandenes Können ist.
Die Wissenschaft hat sich also – von außen besehen - selbst verhakt, und so muss nun ein Anderer kommen, die Philosophie, um diese Verhakung zu lösen, um den Reißverschluss unserer gesamten Geistes- und Reflexionsgeschichte ein Stück weiter zuziehen zu können. Und wenn nun auch die Philosophie zur Wissenschaft geworden ist, so braucht nun auch sie einen Anderen, der sie sozusagen zu sich selbst zurückholt, und rein logisch gesehen kann ja solches Zurückholen dann nur von außerwissenschaftlicher Seite kommen, oder etwa nicht?
Und selbst ein solches Zurückholen ist nur dann und dadurch möglich, wenn die wissenschaftlich gewordene Philosophie ihren Irrweg als solchen einzusehen bereit ist. Sie könnte aber auch auf ihrem Irrweg (als dem Rechtweg) bestehen, und unsere Wissenschaften könnten das auch.
Ich greife meinen eingangs genannten Argumentations- und Rechtfertigungsfaden wieder auf. Was wird nun im allgemein-akademischen Doktor-Titel (und dann wieder in der Habilitationsschrift usw.) nachgewiesen? Die Fähigkeit, rational denken zu können und also auf der Bewusstseins- oder Ratio-Ebene mitreden zu können. Aber damit erschöpft sich auch schon diese doktorale oder professorale Kompetenz, oder sagen wir besser (und gerechter): der zu zertifizierende Anteil daran.
Nun stelle ich mit diesem Text hier ein abweichendes Denken in größerem Rahmen vor, aufs Ganze gesehen eine (angedeutete oder auch stammelnde) Monographie über den von innen, also aus sich selbst heraus betrachteten Veränderungsprozess, ein Abweichen vom Strom unserer Wissenschafts-Konvention, vom wissenschaftlichen Selbstverständnis und eben auch - potenziellen Missverständnis. Ich versuche, den Nachweis zu führen, dass Denkwege jenseits der so verstandenen Wissenschaft nicht zwangsläufig unsinnig und überflüssig sind, auch wenn sie aus Sicht der Wissenschaft als „unwissenschaftlich“ gelten mögen, was aber nun gerade von meiner Außenansicht aus gesehen gar keine Abqualifizierung mehr ist, weil diese Wissenschaft selbst sich in einem einseitigen oder defizitären Zustand zeigt, der seine eigenen Errungenschaften nicht in sich einzuholen vermag, indem sie sich selbst „auf der Höhe weiß“, und daher kein Höheres über sich anerkennen kann, daher auch kein Hinaufhören und In-Sein praktizieren kann, und daher auch keine Möglichkeit hat, höhere Weisheit (als ihre eigene) jemals in sich hereinzubekommen. - Es gibt nur sie selbst, und diese Setzung gilt – neuzeitlich-modern - als wahr, und so kann die Setzung als solche übersehen und unreflektiert gelassen werden.
Der entscheidende Punkt ist: Ich stelle die Ratio-Schiedsrichter-Funktion dieser „der Wissenschaft“ hinsichtlich des menschlichen Geistes in Frage, behaupte damit eine mangelhafte Selbsterkenntnis und Selbstkritik ihrer. Anders formuliert: Die Wissenschaft ist unfähig, ihren eigenen Tellerrand zu sehen, und so glaubt sie, sie habe gar keinen. Oder sie nimmt die Kant‘sche Grenzziehung als ihren Tellerrand, obwohl diese gar kein Tellerrand ist, sondern eine vor sich selbst hingestellte Fiktion, resultierend zuletzt - so scheint mir - aus einem sinnlichen Missverstehen der Metaphysik: Das Nahe und Menschliche ist uns noch gut erkennbar, das Ferne und Göttlich-Kosmische verschwimmt uns zusehends. Dagegen muss man sagen: Nein, das Nahe und Menschliche ist uns ganz und gar nicht gut erkennbar! Es ist uns sogar dermaßen schlecht erkennbar, dass der menschliche Geist volle 2300 Jahre (bis zu Kant hin) gebraucht hat, um die eigene Befähigung überhaupt einmal grundsätzlich und methodisch in Frage zu stellen. Kants Frage als solche ist richtig gewesen, seine Schlussfolgerung ist falsch gewesen, indem er beispielsweise die „Spekulation“ nach ihren Inhalten beurteilte, hingegen nicht erfasste, dass darin das Denken erst auf dem Weg ist, ein Können und eine Routine zu entwickeln, wie Lessing dies richtig erfasst hat und wie es unsere moderne Wissenschaft ja hier und heute als Resultat erreicht hat. - Der Grundsatzfehler liegt in der Nichtberücksichtigung der Zeit, welche ja die conditio sine qua non alles Erfahrungserwerbs ist! Und "verstrichene Zeit" = "Geschichte", in der etwas passiert ist oder vielmehr passiert sein sollte, so dass die Menschheitserfahrung eine andere geworden sein müsste...
***
Und wir können in die Geschichte der Wissenschaft zurückblicken und sehen dann beispielsweise in der Scholastik, wie dort das wissenschaftliche Denken noch eine ganz andere, universelle Ausrichtung und Bandbreite gehabt hat, so dass der einzelne menschliche Geist viel offener, weiter, geöffneter, empfänglicher war. Repräsentativ sei Albertus Magnus genannt, der auch den Ehrentitel eines "Doctor universalis" erhielt, und in ihm wirkt die allseitige Ausrichtung einer aristotelischen Philosophie noch sichtbar nach. Alberts (expliziter oder impliziter) Grundsatz war: Es kann und darf nichts geben, womit der Mensch als (subsistierendes, einheitliches, in der Existenz stehendes) Geistwesen sich nicht beschäftige.
In der Musik finden wir diesen Grundsatz gelebt von Bach: Alle Gattungen und Instrumente werden von ihm geradezu durchexerziert, weil für einen „Meister der Musik“ nichts als „fremdartig“ übrigbleiben darf, mit dem er „nichts anfangen“ könne. Alles wird „geläufig“ gemacht, rauf- und runtergespielt, solange, bis selbst das Schwerste zur leichten Übung geworden ist, beispielsweise die „Kunst der Fuge“, mit Dux und Comes, Umkehrung, Spiegelung, Krebs usw., von mir literarisch nachgeahmt im Gedicht. Erst damit wird „Meisterschaft“ erreicht, nicht dadurch, dass 100 Komponisten sich zusammentun und sich sagen: „Du machst dies, du jenes usw., und am Ende werden wir alles beieinanderhaben“. Ja, bei-einander, aber gerade nicht in-einander!
Und zu solcher Meisterschaft gehört auch eine
freundlich-gewogene „Grenzüberschreitung“, z.B. die „Messe“ für
einen „Protestanten“, etwa Bachs h-Moll-Messe, in der auffällt,
dass jeder Messeteil seinen ganz eigenen, individuellen
musikalischen Charakter hat (von welchen in meinem
Musikempfinden besonders hervortreten aus dem Credo das "Et
incarnatus est" mit anschließendem "Crucifixus", aus dem Gloria
das "Qui sedes ad dexteram Patris", aber auch das Agnus Dei) -
ganz im Gegensatz noch zu einer Palestrina-Messe, die aus
„einem Guss“ besteht.
Imposant und aufhorchen lassend schon der Kyrie-Einstieg und
-Ausruf, als müsse in der beginnenden Neuzeit nun deutlich
lauter gerufen werden, weil sich der HERR offensichtlich
bereits ein ordentliches Stück weit entfernt hat, während das
frühere Palestrina-Kyrie sich noch ganz "ordnungsgemäß" in
betulichem Rahmen bewegte, gegenüber dem späteren Bach-Kyrie,
das den (Menschen-)Vogel nun zwingt, sich weiter und stärker
gestikulierend aus dem (Welten-)Nest zu strecken, um
(göttlich-)elterlich überhaupt wahrgenommen zu werden. Bachs
Kyrie-Beginn ist dadurch besonders künstlerisch gestaltet, dass
dem Instrumentalvorspiel, das dem eigentlichen Kyrie
vorangestellt ist, ein eindringlicher A Capella-Kyrieruf
vorgelagert wird, was in diesem Video der John
Nelson-Messeaufführung in Notre Dame zu Paris nochmals
zusätzlich dadurch unterstrichen wird, dass ein etwa
einminütiger Vorspann mit Menschen-Alltagsgeräuschen
vorausgeht, aus welchen der Kyrieruf dann wie herausplatzt.
Externer
Link: "J. S.
Bach: Missa em Si Menor (BWV 232) // John
Nelson": https://www.youtube.com/watch?v=lvIKMGOsIzQ,
eingestellt von Samuel Lucena in YouTube:
https://www.youtube.com/, abgerufen am
04.08.2024.
Und noch ein geistesgeschichtliches Stück weiter: Bei Schubert droht der Herr-Anruf im Kyrie schon ganz verloren zu gehen, wenn seine Deutsche Messe – gleichsam neuzeitlich umherirrend - beginnt: „Wohin soll ich mich wenden…?“
Oder seine „weltlichen“ Brandenburgischen Konzerte, mit welchen sich der Kirchenmusiker um ein weltliches Amt bewarb, freilich vergeblich, weil es dann doch nicht ganz „sein Element“ gewesen ist, im Gegensatz zu Telemann. Und man muss einfach anerkennen, dass ein Telemann-Konzert eine ganz andere (neuzeitlich-weltliche) Gemütsentwicklung entfaltet, als die Brandenburgischen Konzerte, die gewiss eine Virtuosität enthalten mögen, allein: Sie kommt nicht unbedingt – Klang und Melodie empfindend - zum Tragen. Nehmen wir zum Beispiel das h-Moll-Konzert für zwei Flöten, Fagott, Streicher und Basso Continuo (TWV 53:h1), so dass man dann doch unterscheiden muss: Telemann, den Meister der Tafelmusik, und Bach, den Meister der Kirchenmusik.
Externer Link zum Konzert: "Telemann: Concerto in B minor for 2 Flutes, Bassoon, Strings & B.c TWV 53:h1": https://www.youtube.com/watch?v=dxr8Oyk5Pbk, vgl. z.B. I. Grave ab 00:00 min. und IV. Allegro ab 08:51 min., eingestellt von E.V in YouTube: https://www.youtube.com/, abgerufen am 23.03.2024
- Aus demselben Grund musste Monteverdi, der u.a. ein hervorragendes "Magnificat" komponierte (innerhalb seiner "Marienvesper), seinen Posten räumen...
Und sogar ein (sozusagen protestantisch unmögliches) Ave Maria kann Bach sich unbeschadet anhängen lassen (Bach-Gounod), denn seine musikalische Meisterschaft ist einfach so überragend, dass man beim Hören über den Marien- oder Heiligeninhalt hinwegsehen kann oder, um der Musik willen, ihm sogar eine gewisse Teilberechtigung einräumen mag.
Theologisch-wissenschaftlich vergleichbar sind die damals, im Hoch- bis Spätmittelalter, entstandenen „Summen“, repräsentativ ist hier Thomas von Aquin mit seiner „summa contra gentiles“ (Summe wider die Heiden) zu nennen, wobei uns die "Contra"-Formulierung heute aufstößt, weil sie nicht gerade ausländerfreundlichen und integrationsförderlichen Charakter hat. Doch muss man bedenken, dass das Christentum damals noch mit dem Schwert verteidigt werden musste, so dass wir uns heute leicht reden, weil die rohe Gewalt und äußere Machtandrohung für uns weitgehend eliminiert ist (und subtilere Formen des Streites und Kampfes greifen). Daneben seine „summa theologiae“, die er nicht fertig stellte, aber nicht deshalb, weil er "nicht fertig geworden" ist, sondern weil er sie als „Erkenntnis-Spreu“ erkannt hatte, auch wenn sie dann trotzdem noch 1879 einen Ehren- und inhaltlich wichtigen Relevanz-Platz im röm.-kath. Denken (und Glauben) erhielt, wenige Jahre nach der Dogmatisierung der päpstlichen Unfehlbarkeit (1870), als habe der bereits 600 Jahre zurückliegende thomistische Spreu-Gedanke (der eine späte, reife Selbsteinschätzung Thomas‘ ist) das römisch-katholische Denken des 19. Jahrhunderts noch gar nicht erreicht…? Thomas benutzt auch unterschiedliche Argumentationsgrundlagen, je nach Gesprächspartner (z.B. Aristoteles -> Heiden; AT -> Juden; NT -> Christen), und so erhielt er wohl zu Recht den Ehrentitel eines „Doctor communis“, daneben aber auch eines „Doctor angelicus“, als habe man (damals noch) gewusst oder geahnt, dass Gemeinschaftlichkeit und Engelhaftigkeit des Denkens wesenhaft miteinander zu tun haben: Sich abgrenzen ist leicht, sich verbinden ist schwer.
Wir ersehen diesen damals noch wissenschaftlich lebendigen Universalgeist auch aus der Studien-Organisation der gerade erst entstehenden Universitäten. Das Grundstudium wurde in der „Artistenfakultät“ absolviert, bezeichnend die artes liberales, die Sieben freien Künste, mit dem Trivium (Grammatik, Rhetorik, Dialektik resp. Logik) und dem Quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie resp. Astrologie). Der menschliche Geist bekam hier von Anfang an eine ordentliche atmosphärische Weite vermittelt, und wir dürfen diesen Terminus „Artisten“ durchaus im doppelten Wortsinn nehmen, auch wenn das Artistische und Meisterhafte dann doch erst nach dem Hauptstudium (Jura, Medizin, Theologie) zum Tragen kam, nach langjähriger Einübung des Erlernten.
Und diese innerliche Verbindung des einen mit dem andern versuche ich auch in diesem Text hier einzufangen, um einen lebendigen Eindruck geben zu können, wie ich mir eine Vernetzung der Wissenschaften, ein Sich-in-sich-Zusammenziehen unseres Wissens zur existenziellen Bildung im Sein vorstelle, und dass es ein auch heute noch gangbarer Weg wäre, wie die einseitige Ratio zum allseitigen Geist werden könnte, wenn sie nur wollte. So, wie der Meister der Musik gewillt sein muss, alles Musikalische zur Kenntnis zu nehmen und sich anzueignen, soll heißen: intus zu bekommen, ebenso muss ein Meister des Geistes in den gesamten Makro- und Mikrokosmos hinaus- und hineingehen, wenn der Spiritualismus wahr ist. Es gehört ja dann alles zu ihm, zu uns, und warum denn sollte er es von sich, sollten wir es von uns wegschieben, anstatt hinaus- und hinein zu wollen? Warum sollte man einen Teil seiner selbst brach liegen lassen, als vermeintlichen Fremdkörper, mit dem man nichts zu tun hat? Wer nicht aufhört, ein Fremdes als Fremdes anzusehen, der wird niemals in es hineinsehen können und dem wird es nie zu etwas Eigenem werden können. Auch hier wieder die Ab- und Ausgrenzung einerseits, die Verbindung anderseits. Dies liegt auch im Gebot der Feindesliebe, das seinem Gehalt und seiner Tragweite nach gewiss noch nicht verstanden ist, wir können auch vielleicht besser sagen: noch nicht gewollt ist.
***
Möglicherweise habe ich noch mehr getan als die mittelalterlichen „Artisten“, indem ich auch auf das Literarisch-Ästhetische Wert legte, wissend, dass das Schülersein-im-Geiste (als Streben nach Erkenntnis) unweigerlich mit dem Lehrersein-im-Geiste (Vermittlung des bereits Erkannten) zusammengehört, und dieses Lehren muss nicht trocken und spröde sein, sondern sollte lebendig und anschaulich erfolgen, zu einer Anregung werden für die Leser- oder Hörerschaft, die sich dann sagen mag: „Ja, in eine solche Geistigkeit und Lebendigkeit will ich auch hinein! Ich will mich auch mit allem verbinden (können)!“ – Und genau deshalb „kann“ der "gute Schullehrer" Didaktik (Lebendigkeit, Anschaulichkeit, Be-Geisterung), während der "gute Dozent" „blank“ ist und sein darf: trocken, sachlich, einschläfernd.
Konkret erlebt habe ich es an dem Werk des Anthroposophen, der – was immer man gegen ihn sagen mag – eine Wahnsinns-Bandbreite im geistigen Anfassen der Dinge hatte, so dass ich mich fragen musste: „Wie kann er das? Das gibt es doch nicht, dass einer so vielseitig blicken und dabei so tief verstehen kann! Mit allem kann er etwas anfangen! Das würde ich auch gerne können!“ Und anschließend sollte man nüchtern und sachlich feststellen: „Er ist Mensch wie ich. Also gilt: Menschen können das. Also kann ich das prinzipiell auch. Also muss es eine Frage der individuellen Voraussetzungen sein, der Voraussetzungen des Individuums.“ Und dann kann man zu der Auffassung kommen: „Was auch immer Menschen wissen und tun und für richtig halten – es hängt zusammen mit ihren Voraussetzungen und Implikationen, die letztendlich nicht bei allen gleich, sondern bei jedem individuell sind. Und was einer kann – wir befinden uns im Blick des Spiritualismus -, er muss es sich erworben haben, und wenn nicht in diesem Leben, dann in einem früheren…“
Also: Wir hier im Irdischen müssen das uns vorliegende A und das B und das C der Welt zusammennehmen und möglichst allseitig betrachten, wenn wir kosmische Seiten des Irdischen finden wollen, um ein kosmisches Buchstabieren zu versuchen und dann irgendwann übergehen zu können zur Wahrnehmung der kosmischen Sprache, der Sprache und Weisheit des Kosmos… Und auf diese Weise sollten wir sehen oder wenigstens erahnen können die Tiefe des Geistes, auch des menschlichen, die genau dann auch die Tiefe der Philosophie ist, wenn diese nicht von einem in sich verkürzten Geistbegriff ausgeht, mit welchem sie sich vom Ganzen des Seins bereits definitorisch oder a priori (kantisch-aufklärerisch-rational) abgeschnitten und abgeschottet hat.
Und wenn nun einer einen geistig tiefen Blick in die Dinge tun kann, dann muss er entsprechende Vorleben gehabt haben, vielleicht an vorzüglichen geschichtlichen und geistesgeschichtlichen Daseins-Stellen im Sein gestanden haben (was mir aber nicht zwingend erscheint). Diese Stellen und dieses sein Stehen hat er wiederum der Gesellschaft und Menschheit insgesamt zu verdanken. Und so wird er dann auch seine „Schuld“ in späteren Leben „begleichen“ müssen, weil er und sein Leben gleichsam zu einer „geistigen Investition“ oder „Investition des Geistes“ geworden ist, und so ist es nun schlicht seine Schuldigkeit, das (geburtsbezogen unverdient) Erhaltene an die Allgemeinheit zurückzugeben, nach Möglichkeit mit Zins und Zinseszins.
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Man kann zweifeln, ob es Sinn macht, das Ganze des Seins literarisch-ästhetisch zu sichten. Doch liegt es heute auf der Hand, dass sich die Geschicke der Menschheit zum Drama entwickeln könnten, indem ein mit dem organischen Gesamtzusammenhang nicht abgestimmtes menschliches Handeln den Naturorganismus unweigerlich wird aus den Fugen geraten lassen müssen. Und die Natur – gesetzt als stiller Beobachter über die Zeiten hinweg – kann sich sagen: „Das hatten wir doch schon einmal – die Dinosaurier sind ausgestorben, sprich: von der Bildfläche meiner Ordnung und Organisation wieder verschwunden. Sie konnten sich nicht halten. Und wie es scheint, bringt eine quantitative und qualitative Erweiterung des Denkorgans (wie beim Menschen) auch nicht viel, weil ganz offensichtlich keine „Größe des Denkens“ resultiert. Und als Unterscheidungsmerkmal kann festgehalten werden: frühere Anpassungsunfähigkeit - moderne Anpassungsunwilligkeit. Der Unterschied also auf den Punkt gebracht: Den Dinosauriern kann man keine Unwilligkeit unterstellen und auch keinen Vorwurf machen…“
Wird nun dieses Drama als solches nicht einmal gesehen, nicht realisiert (Eine mögliche weitere Definition des Menschen: „Der Mensch ist ein Geistwesen, das seine Augen verschließen kann“), dann wird das Ganze zu einer Komödie, die ins Fratzenhafte und Groteske ausartet. Und wir können beispielsweise Wielands „Geschichte der Abderiten“ assoziieren oder auch die Schildbürgerstreiche, und unseren allergrößten Streich habe wir gerade vor uns liegen, unsere Selbstvernichtung, es sei denn, er bestünde schon in der bloßen Annahme: „Die Schildbürger – das sind immer die Anderen.“
Die „ordnungsgemäße“ Literaturform der Menschheitsgeschichte wäre wohl das Epos, das allerdings heute nicht mehr einen „einzelnen, großen Helden“ oder ein „Volk“ im Mittelpunkt haben kann, sondern heute sind’s die vielen Individuen, die als Individuen in den Mittelpunkten stehen, zusammen mit der Menschheit insgesamt, weshalb wir die Menschheitsgeschichte ein sehr komplex gewordenes Epos nennen können. – Der Ausgang ist noch offen, na ja: wahrscheinlich noch, oder: vielleicht noch.
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Gegenüber der (zumindest potenziellen) scholastischen Wissenschafts-Artistik müssen wir nun unsere faktische Wissenschaftsentwicklung ernsthaft als „jämmerlich“ oder „verarmt“ bezeichnen. Und alle modernen Nachbesserungsversuche der Etablierung eines „studium generale“ können uns das Verlorene nicht zurückholen und nicht ersetzen. Unsere Wissenschaft wird solange wachstumsgehemmt oder wildwüchsig bleiben, als sie die von ihr selbst überschrittenen Schwellen nicht als Paradigmenwechsel verifiziert und als fundamentale Umformung und Neuausrichtung ihrer selbst realisiert. Und auch hieraus können wir uns einen klugen Spruch formen: Der Mensch ist ein Geistwesen (zweifelhafter Intelligenz), das Erkenntnisse sammeln kann, ohne sie in sich selbst fruchtbar zu machen.
Man könnte auch sagen: Es fehlt die Anpassung der Wissenschaft an ihren sich verändert habenden Gegenstand. Der Gegenstand ist ein anderer geworden, die Wissenschaft aber meint, dieselbe bleiben zu können. Für den Geisteswissenschaftler, der Freud nicht wieder vergessen kann, ist dieser Satz evident. Der Naturwissenschaftler mag das bestreiten, indem er äußert: „Wieso denn, die Materie ist doch dieselbe geblieben?“ Ja, das mag schon sein. Nur er selbst hat sich im geistesgeschichtlichen Reflexionsdurchlauf geändert, so dass nun an das Ganze des Seins neu und anders herangetreten werden muss. Die alte Methodik ist passé, sie greift nicht mehr. – Man kann dies dann nicht sehen, wenn man nicht bemerkt, dass die Wissenschaft aus unserem Innen kommt, Sache unseres Geistes ist, und wenn er – der Geist - sich ändert, dann muss auch sie sich ändern usw. – Man kann wiederum einwenden: Aber der menschliche Geist ist kein Anderer geworden, nur seine Erkenntnis seiner ist nun anders, so, wie ein Gegenstand nicht dadurch ein anderer wird, dass man ihn von zusätzlichen Seiten aus beleuchtet. – Und dann muss man wiederum einwenden: Dies ist das Spezifikum eines Geistwesens: Seine Innen- und Außenwahrnehmung ist sein realisiertes Geistsein. Ändert sich seine Wahrnehmung seiner selbst, so ändert sich auch der Geist selbst und ist also doch ein Anderer geworden - sowohl der Beobachter als auch das Beobachtete. Das eben genannte Gegenstands-Beleuchtungs-Bild, das den Gegenstand angeblich nicht verändert, ist also falsch, denn wir sprechen von einem Gegenstand, der sich selbst beleuchtet, oder eben auch nicht beleuchtet und unerkannt und unbewusst lässt, vielleicht, indem er sich selbst sogar als Materie ansieht usw.
***
Bei einer spiritualistischen Weltbetrachtung kann man freilich auf die weiterführende Idee kommen, z.B.
a) im Unbewussten lägen die letzten Fäden, die sich im Irdischen erhalten haben und die uns noch mit der Geistwelt verbinden…
…und dann kann man auf die weitere Idee kommen,
b) diesen Fäden näher nachzugehen,
…vielleicht, und dies ist eine weitere Idee,
c) um uns auf diese Weise in die Geistwelt wieder hinein zu fädeln,
…an den Stellen, schon wieder eine Idee,
d) wo wir einstmals aus ihr herausgefallen sind,
…und zwar, und schon wieder eine Idee,
e) ein Jeder und eine Jede individuell.
Und man kann auf die weitere Idee kommen, Platons Verortung der „eigentlichen“ Wirklichkeit in der Ideen- oder Geistwelt sei womöglich doch richtig gewesen, weil unser unbewusster Teil hier diesen anderen Teil unserer selbst dort in der Geistwelt indiziert, als müssten wir innerlich, seelisch-geistig uns selbst verschieben oder verlagern, wieder dort hinauf in jenen Schwebezustand des Seins, in welchem wir uns einstmals befanden und nur faktisch heruntergefallen sind, und, weil sich diese Veränderung über einen sehr langen, unmerklichen Zeitraum hinweg ereignete, ist uns der Fall als solcher entgangen und es war mehr ein allmähliches Absinken ins Sinnliche und Materielle?
Womöglich sollte der Mensch - als seelisch-geistiges Wesen - niemals fest aufsetzen auf einem Materiellen? Weil er dadurch eine sozusagen ungültige, im Prinzip unechte Seins- und Selbsterfahrung machen würde, nämlich die eines äußerlichen Gehaltenwerdens, anstelle des einem Geistwesen eigentümlichen und natürlichen Halthabens-in-sich-selbst?
Und man kann auf die weitere Idee kommen, der Mensch sei – zumindest gegenwärtig, warum auch immer – ein in sich gespaltenes Wesen, zweigeteilt, in Aufenthalte im Irdischen und Aufenthalte im Himmlischen.
Und dann kann man auf die weitere Idee kommen, scheinbare „Nichtse“, oder sagen wir: Aussparungsbereiche unserer Reflexion, neu und anders zu sehen, nämlich als bloße „vorübergehende Ausblendungen“ unserer selbst, z.B.
a) Das Unbewusste als das auch bei Tage und bei Bewusstsein Ausgeblendete
b) Die Nächte als unbewusst bleibende „arbeitstägliche“ Rückkehr in die Geistwelt und wieder zurück
c) Geburt und Tod in einer Umkehrfunktion: Geburt = himmlischer Tod, und Tod = himmlische Geburt, also Aus- und Wiedereintritt in eine andere Welt, die mindestens auch zu uns gehört.
Vgl. hierzu zwei Novalis-Zitate:
"Sollte es nicht auch drüben einen Tod geben, dessen Resultat irdische Geburt wäre?"
Externer Link zum Text: Novalis, Fragmente 1, Mystizismen, Der Jüngste Tag [gegen Seitenende], Projekt Gutenberg-DE - https://www.projekt-gutenberg.org/novalis/fragmen1/chap021.html, abgerufen am 14.06.2024
"Wenn ein Geist stirbt, wird er Mensch. Wenn der Mensch stirbt, wird er Geist. Freier Tod des Geistes, freier Tod des Menschen."
Externer Link zum Text: Novalis, Fragmente 1, Magische Philosophie [gegen Seitenende], Projekt Gutenberg-DE - https://www.projekt-gutenberg.org/novalis/fragmen1/chap005.html, abgerufen am 14.06.2024
Und dann kann man auf die Idee der Reinkarnation kommen, und der Mensch ist gar nicht nur zwiegespalten, sondern sozusagen polygespalten, im auch geschichtlich und geistesgeschichtlich oszillierenden Wechsel zwischen Himmel und Erde, so dass er - nicht nur räumlich - ein Stück von sich hier und ein Stück von sich dort hat, sondern - auch zeitlich – Stücke von sich da und da und da und dort und dort und dort hat.
Und wenn man dem Anthroposophen Glauben schenken darf, so umfasst ein durchschnittlicher himmlischer Aufenthalt rund 1000 Jahre (nach irdischer Zählung), während wir vom irdischen Aufenthalt ja wissen, dass er jetzt vielleicht 80 Jahre umfasst, was uns erschreckend zeigen könnte, in wie kurzer Zeit wir das Bewusstsein unseres Geistseins verlieren, welches unmittelbar zuvor 1000 Jahre währte! Und sogar innerhalb ein und desselben irdischen Menschenlebens sind die ersten Kindheitsjahre noch von einem solchen Geistbewusstsein erfüllt (analog phylogenetisch bzw. geistesgeschichtlich) und werden erst später ausgeblendet oder vergessen, was allerdings mit dem heutigen frühen elterlichen Zugehen auf das Kind und seine möglichst schnelle Einbindung in die Erwachsenenwelt den Kindern immer früher „ausgetrieben“ wird.
Und gehen wir kulturgeschichtlich weiter zurück, so sinkt dieses irdische Durchschnittsalter aus verschiedenen Gründen. Und so gesehen wird auch unser Daueranliegen, möglichst lange (irdisch) zu leben, in sich fragwürdig bzw. kontraproduktiv. Denn je länger dieser irdische Aufenthalt dauert, desto stärker kann sich die materialistische Weltanschauung in uns festigen und desto mehr laufen wir Gefahr, uns dauerhaft in den Irrtum zu begeben: Geistesgeschichtlich gesehen hatten die Menschen früherer Zeiten ein Wissen ihres Getrenntseins von der Geistwelt, heute ist dieses Wissen dahingehend „fortgeschritten“, dass überhaupt nur ein Diesseits sei, während davor und danach einfach „nichts“ ist, also: Nicht die Geistwelt ist allmählich zurückgetreten, sondern die (blanke) Wahrheit des (bloßen) Diesseits ist jetzt erst deutlich hervorgetreten. - So haben sich die „Lichtverhältnisse“ bei uns geändert, und ihre Wahrnehmung ist eine andere, je nach materialistischer oder spiritualistischer Ansicht.
Dann können wir noch auf die weitere Idee kommen, dass das Oszillieren zwischen Himmel und Erde kein konstanter oder Dauerzustand ist, sondern dass beide „Teil-Leben“ früher näher beieinander lagen, weil die atmosphärischen Aggregatszustände „Himmel“ (Geistwelt) und „Erde“ (sinnlich-physische Welt) sich noch ähnlicher waren und sich die deutliche Scheidung erst nach und nach entwickelte. Und dann folgt die weitere Idee, dass beide Zustände sich auch wieder annähern werden und dass es sich hierbei um einen kosmisch-physikalischen, zyklischen Prozess des Geistes handelt.
Für uns Menschen bedeutet dies, dass wir uns unbedingt bemühen sollten, die beiden resp. vielen heute getrennt voneinander liegenden „Teile unserer selbst“ wieder miteinander zu verbinden und zu lernen, dass wir gegenwärtig zwei Aufenthaltssphären haben, die wir im Wechsel betreten und die wir wieder innerlich zusammenführen müssen, um wieder „ganze Menschen“ zu werden. Wenn ich sage: „für uns Menschen“, so meine ich uns irdische Menschen, denn es gibt ja auch noch tote Menschen, ja, es gibt sie, wenigstens im Spiritualismus, für den sie gar nicht tot sind, sondern nur woanders und in einem anderen Aggregatszustand. Und so gibt es auch viele Vorträge des Anthroposophen über die Verstorbenen (vgl. „Unsere Toten“ = GA 261, externer Link zur SteinerWiki-Ausgabe: https://steiner.wiki/GA_261; oder auch GA 141 „Das Leben zwischen dem Tode und der neuen Geburt im Verhältnis zu den kosmischen Tatsachen“, externer Link zur SteinerWiki-Ausgabe: https://steiner.wiki/GA_141), die ein reges Interesse an uns und unserem Leben haben und von welchen auch vielerlei Einflüsse auf uns einwirken, für die wir lediglich derzeit noch nicht empfänglich sind resp. uns nicht empfänglich gemacht haben, wie auch nicht für die Einwirkungen anderer Geistwesen.
Natürlich kann man solche Ideen-Fruchtbarkeit mit einer anderen, einzigen Idee einfach abwürgen: „Das ist doch alles hoffnungslos spekulativ und führt zu nichts“ - Spekulation hier im Kantschen Sinn genommen. Die alternative Sicht ist, es sei hoffnungsvoll spekulativ, nicht an den Haaren herbeigezogen, sondern die noch bestehenden Fäden des Geistigen suchend und auffindend, um an ihnen entlang den wahren Boden des Geistes wiederzufinden, um ihn wieder betreten zu können - Spekulation hier im Lessingschen Sinn genommen.
***
Nun der zweite Grund dieses „ABC-Versuches“: Es ziemt einem Autor, wenn er auf einen komplexen Gegenstand wie den „Menschen in seinem Sein“ zugreift, Bescheidenheit, soll heißen: Zurücknahme seiner selbst, insbesondere in moderner Zeit, in der uns das „Herrschaft ausüben“ und „Beherrschen der Dinge“ ohnehin zweifelhaft geworden ist, außerdem unser eigenes „Herr sein über uns selbst“, Letzteres allerdings als eine nur erst aufgeworfene und noch weitgehend ungelöste Problematik, die ebenso unsere Gesellschaft als solche und damit unsere gesamte irdische Wirklichkeit und Welt betrifft. Hier schwingt untergründig auch eine eigene Mutlosigkeit, Hilflosigkeit, Mattigkeit, Ohnmacht mit, die Dinge überhaupt noch einmal konstruktiv angehen zu wollen (nach dem Reflexions-Salto mortale in der Moderne, der uns ins kosmische Aus manövrierte), ein Müde-geworden-sein im Handeln, vielleicht auch im Denken.
Im Text selbst könnte über weite Strecken ein gegenteiliger Eindruck entstanden sein, indem der Autor sehr genau zu wissen scheint, was er sagt und was er nicht sagt, auch, wann er was sagt usw. - Mag sein, dass ich die Reflexion hie und da ein Stück weitergetrieben habe, als sie für gewöhnlich getrieben wird, und es dürfte schon auch ein individuelles Können sein, den Keil des Fragens ins scheinbar Fraglose hineinzutreiben, ist es doch auch Absicht und Methodik der Philosophie. Nichtsdestotrotz gelange auch ich philosophisch an meine Grenzen, aber die Zielrichtung ist, den Versuch zu machen, sich selbst so zu durchdringen, dass dahinter die Anderen als sie selbst überhaupt erst zum Vorschein kommen, und nicht nur die Anderen, sondern auch die eigene Biographie, dann auch die Geschichte als Menschheitsgeschichte, dann auch die Welt in ihrem Lauf, dann auch der Kosmos in dem seinigen. Das alles hat unser Ich in seinem Rücken, hat es hinter sich gelassen, wird durch es selbst verdeckt und darf - je nach Geistes-Bildung - unterschiedlich stark davor hervorlugen oder hervorspitzen. Und in dem Maße, als einem das wirklich gelingt, kann man die Erfahrung machen, dass das Bekannte und (scheinbar) Handgreifliche doch tatsächlich noch kein Erkanntes und tatsächlich ein noch Unergriffenes ist, das noch vieles Ungehobene in sich enthält.
So meine ich, muss man sich selbst gläsern
werden. Und wir sollten uns jetzt, wo wir einen solchen
Gedanken geistesgeschichtlich ins Auge fassen, an die
Offenbarung des Johannes erinnern, in der auch das „neue
Jerusalem“ gläsern-kristallen beschrieben
wird:
„Und er führte mich hin im Geist auf einen großen und hohen Berg und zeigte mir die heilige Stadt Jerusalem herniederkommen aus dem Himmel von Gott, die hatte die Herrlichkeit Gottes; ihr Leuchten war gleich dem alleredelsten Stein, einem Jaspis, klar wie Kristall;... … Und der Kern der Mauer war aus Jaspis und die Stadt aus reinem Gold, gleich reinem Glas. Die Grundsteine der Mauer um die Stadt waren geschmückt mit allerlei Edelsteinen. Der erste Grundstein war ein Jaspis, der zweite ein Saphir, der dritte ein Chalzedon, der vierte ein Smaragd, der fünfte ein Sardonyx, der sechste ein Sarder, der siebente ein Chrysolith, der achte ein Beryll, der neunte ein Topas, der zehnte ein Chrysopras, der elfte ein Hyazinth, der zwölfte ein Amethyst. Und die zwölf Tore waren zwölf Perlen, ein jedes Tor war aus einer einzigen Perle, und die Straße der Stadt war aus reinem Gold wie durchscheinendes Glas. (Offb. 21, 10-11.18-21)
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abgerufen am 03.04.2024.
Das Gläserne steht für die Sichtbarkeit und Durchsichtigkeit des neuen Irdischen, das zu einem neuen Bestandteil der Geistwelt selbst geworden sein wird. Und wenn wir bereit sind, die Sehschärfe der Bibel als Hilfsmittel zur Stärkung unseres Augen- resp. Geisteslichtes anzunehmen, kann uns der Eindruck entstehen, unser Geist trage die Möglichkeit in sich, seine eigene Hinterwelt vor sich selbst hervorzuholen, oder sich in sich selbst herumzuwenden, gleichsam platonisch, und die lichtvolle Zielrichtung allen Seins im eigenen Rücken oder Hintergrund zu erahnen, dauerhaft anzuvisieren und darauf zuzusteuern, wie in einem dauerhaft hellen, vollbewussten Moment der Morgendämmerung, dem aber wie ein anderes Licht noch gegenübersteht die Abenddämmerung der Menschheitsgeschichte in unserer Moderne, in der wir uns gegenwärtig befinden.
Und es wird nun absehbar, wie das konventionelle Tageslicht der Sinnlichkeit und des Lebens darin in eine dauerhafte irdische Nacht des Geistes übergehen wird, während zugleich das gegenwärtige Nacht- oder Unbewusstheits-Licht unserer Geistigkeit und des Lebens darin zum kosmischen (All-)Tag des Seins geboren werden wird. Und die Menschen, die in dieses neue und neuartige Licht mit hineingehen werden, werden künftig ein doppeltes Sehen haben, indem sie lernen, sich selbst nicht nur als „dieses-Individuum-hier“ wahrzunehmen, sondern zugleich auch als „individualisiertes Gleichnis des allgemeinen (Geist-)Seins“, wie es die Engel wohl schon immer tun und gar nicht anders können.
Und deshalb will ich mich auch anstrengen, die „höheren Erlebnisse“ meines individuellen Lebens möglichst sachlich hinzunehmen und nicht als Anlass oder Berechtigung zu sehen, mich in ein „erhöhtes Selbstwertgefühl“ hineinzubegeben. Ich ziehe es also vor, diese „Wirklichkeits-Erlebnisse“ (wenn sie denn solche waren resp. sind) mit den Augen eines Anderen zu betrachten, also den Realbezug auf mich in meiner Person geflissentlich zu übergehen, um nicht einer falschen Egozentrik oder Selbstverblendung zu verfallen: Nicht „ich in meiner Person“ bin wichtig, sondern die „uns alle betreffende Sache des Geistes“ ist es (wenn „mein Individuelles“ denn in diesem Sinn "ein Allgemeines in der Zeit" sein sollte und ist).
Daher gilt der obige Satz der Bescheidenheit und Selbstzurücknahme für mich genauso wie für jeden anderen. Und auch ich habe keinen Überblick, keinen Über-Blick, eher einen Anders-Blick, und mir scheint, an Andersblicken oder Alternativperspektiven haben wir eher einen großen Mangel, weil wir vom Mittelpunktslicht unserer Wissenschaftsperspektive so sehr überzeugt sind, dass wir nicht damit rechnen, der menschliche Geist sei größer als sie und sei imstande, sie zu transzendieren, also über sie hinauszugehen in eine größere Tiefe und ungeahnte Weite seiner selbst hinein - ein Gedanke, den wir genau dann niemals fassen können, wenn wir apriorisch-prinzipiell menschliche Wissenschaft und menschliche Geistigkeit in eins setzen, also vermischen und verwechseln.
Und ich bin mir auch im Klaren darüber, dass alle Erkenntnisse, die Menschen finden, keine Eigenleistung sind. Sondern alle Erkenntnis wird vom Geist oder aus der Geistwelt heraus gewährt. Insofern erscheint es mir auch absurd, diesbezüglich von „geistigem Eigentum“ zu sprechen. Eine solche Kategorie, die derzeit aber noch ein gültiger Rechtsbegriff unter uns ist, können nur Menschen entwickeln, die in materialistisch-atheistischen Geistverhältnissen befangen sind. In Wahrheit beruht alle Erkenntnis auf einem Hinaufhören und Heruntergesprochen-Bekommen, auf einem Teilnehmen und Anteil-Bekommen an der Geistwelt, also gerade auf einem „Gemeinschaftlichen“, nicht auf einem „Eigenen“. Das "Eigene" ist definiert durch eine je andere Raum-Zeit-Stelle im Sein, dasjenige aber, was "dort einfällt", stammt aus der einen und allgemeinen Geistwelt heraus, von der die Individuen empfangen.
Dann müsste man allerdings einräumen, es müsse doch ein gewisses Verdienst im Erkennen geben, so, wie die Bibel auch formuliert: „Wer sucht, der findet.“ Sie sagt nicht „Wer nicht sucht, der findet“, und sie sagt auch nicht: „Ihr könnt euch das Suchen sparen.“ Das menschliche Suchen als solches ist also ein Verdienst. Es zeigt dem himmlischen Geist an, welches Individuum Erkenntnis empfangen will, und wenn es die rechte Geistesgrundhaltung einnimmt und wenn die entsprechende (auch gesellschaftliche) Reife eingetreten ist, so wird die Erkenntnis auch kommen resp. gewährt werden und im Irdischen erscheinen.
Es ist aber kein automatischer oder mechanischer Kausalitätszusammenhang, so dass Erkenntnisse nicht erzwungen werden können, wie man denn meinen könnte, an der Blume „ablesen“ zu können: Wenn sie ihre Blüte öffnet, muss das Sonnenlicht einfallen und kann sich nicht verweigern. Das ist zwar richtig, aber doch falsch gesehen, denn in Wahrheit ist es ja umgekehrt: Die Blume nimmt zuerst die Sonne wahr, und deshalb öffnet sie sich zum Empfang, zur Blüte; und deshalb auch ist die Blüte umgekehrt nachts geschlossen, weil kein Sonnenlicht mehr da ist.
Im Spiritualismus nimmt der Mensch zuerst den Geist wahr (als existent), und deshalb kann er dann den Geist in sich einströmen lassen und eine Erkenntnis um die andere gewinnen, je nachdem, wie gut er sich auf den Geist austarieren kann und welche Erkenntnisse an der Zeit sind. Aber das Geisteslicht kommt nicht und geht nicht wie das Sonnenlicht, sondern bleibt dauerhaft bestehen, und daher gilt für die neue Stadt:
Und ihre Tore werden nicht verschlossen am Tage; denn da wird keine Nacht sein. (Offb. 21,25)
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Der Nacht-Anteil wird zum bislang fehlenden „anderen Tag-Anteil“, und das bislang Unbewusste und Ausgeblendete wird sich nach und nach erhellen.
Im Materialismus passiert bezüglich einer „Morgendämmerung geistiger Klarsichtigkeit“ gar nichts, dort bleibt es vielmehr auch weiterhin tagsüber Nacht, und der Mensch wird den menschheits- und weltgeschichtlichen Kairos, zur Geistigkeit seiner selbst aufzusteigen, verfehlt haben.
***
Zum Dritten schließlich suggeriert uns der Terminus „ABC-Versuch“ spontan sein eigenes Überholt sein, weil wir ihn – als längst Erwachsene – mit unserem lange vergangenen Abc-Schützen- oder Schüler-Gewesen-sein assoziieren: Wir haben das ABC längst hinter uns gelassen und beherrschen unsere Sprache nun ziemlich gut. Aber genau deshalb habe ich diesen Ausdruck bewusst gewählt, weil wir m.E. geschichtlich-gesellschaftlich an ein Ende gekommen sind, in einer Sackgasse oder einem Irrweg herausgekommen, der als solcher zuerst deutlich wahrgenommen werden muss, wenn ein Reset, ein Neuanfang möglich werden soll.
Und dieses Wahrnehmen des Irrweges als solchen erfordert eine geistige Verlangsamung, damit klar vor Augen treten könne, inwiefern unsere Wissens-Routine und Denk-Schnelligkeit und Kurz-Schlüssigkeit womöglich Problemstellen in sich enthalte, über die wir sozusagen versehentlich hinweghuschen (wie z.B. über das Freud‘sche wissenschaftliche Neuansetzen am Gegenstand, der wir nämlich selbst sind), so dass sie unserer Aufmerksamkeit entgehen und wir uns selbst die Möglichkeit rauben, sie vergegenständlichen und dadurch uns bewusst machen zu können.
Auch Heidegger hatte das empfunden, und deshalb hat er seinen Heidegger-Idiolekt entwickelt, als Sprach-Bremse, um uns aus der Geläufigkeit und Gewandtheit unseres hochtechnisierten Sprechens und Denkens auszubremsen, als habe die Neuzeit eine zivilisatorische und kulturelle Kommunikations-Geschwindigkeit und Schnelllebigkeit heraufgeführt, eine Routine des Vorwärts und Weiterhastens, die ein ruhiges, klares Wahrnehmen der Dinge gar nicht mehr zulässt.
Prinzipiell war seine Idee gut und richtig, nur war seine Methode allzu schroff und dem menschlichen Geist nicht besonders gut angemessen, denn dieser kommt weniger vom Sprechen zum Denken, eher vom Denken zum Sprechen, weshalb „die Bremse“ besser nicht erst in der Sprache, sondern bereits im Denken anzusetzen ist.
Daher erscheint es mir richtiger, günstiger, natürlicher, den Mitmenschen und Zeitgenossen zuerst in einen Gedankengang hineinzuführen, in welchem das uns geläufig gewordene Denken selbst ausgebremst wird, indem es in sich selbst zögerlich wird, beim Reflektieren und Nachdenken, so dass sich Widersprüche und Gegensätzlichkeiten im Gewohnten und bislang einfach Hingenommenen auftun können. Und nur, wenn dieses gelingt, kann aus diesen Gedankengängen heraus dann auch der Eindruck entstehen, dass unser gewohntes Sprechen zur Sprachlosigkeit oder gar Fassungslosigkeit werden muss – und jetzt ist die rechte (gemeinsame) Geistesgrundhaltung gefunden, in welcher unser Denken ganz von selbst ins Stocken gerät und unsere flüssig-gewandte Sprache immer mehr zum Stammeln wird, weil sich das Empfinden festigt, dass unsere Begrifflichkeiten die Wirklichkeit oder das Sein selbst gar nicht „be-greifen“, sondern daran vorbeisehen und vorbei-greifen…?
Und so sollte eine ABC-Situation unseres Stutzig-geworden-seins im Handeln und Leben erreicht werden können, die einerseits unserer Gegenwartssituation ohnehin entspricht und die anderseits nun den Raum philosophischen, in die Tiefe gerichteten Denkens überhaupt erst eröffnet.
Hinter unserer Kommunikations-Schnelligkeit und Denk-Geschwindigkeit hat sich stillschweigend die Überzeugung gefestigt, wir seien schon ziemlich weit im Wissen fortgeschritten, denn die Überfülle dessen, was unsere Wissenserzeugungsmaschinerie – „Wissenschaft“ genannt – aus sich herausgesetzt hat, ist gigantisch, gewaltig, kolossal, monumental. Und indem wir das neueste Wissen auch sogleich praktisch anwenden und also für unser (Bequemlichkeits-)Leben „fruchtbar“ machen, erwecken wir vor uns selbst den Anschein, Erkennen und Wissen sei eine von uns erlernte Technik, Kunstfertigkeit, Routine, Mechanik, mit welcher wir unser Herr sein bestätig sehen und so richtig ausleben können, indem hierbei unser Lebensumkreis zum „Zuhandenen“ (ein Heidegger-Terminus) herabgedrückt und als Zweckdienlich-Seiendes missverstanden wird und zugleich ein einziger Gegenstand des Erkennens übersehen bleibt und aus dem Blickfeld geraten ist: „wir selbst“, die wir – eigentlich – unser wichtigster Erkenntnisgegenstand wären oder: gewesen wären. Insofern wir aber in eine Existenz der „Uneigentlichkeit“ (wieder ein Heidegger-Terminus) hineingeraten sind und uns also an die Dinge (unserer Umgebung) verloren haben bzw. die Dinge als solche gar nicht mehr wahrnehmen, weil sie unserer Handlungsmacht, unserem Machen-Können keinen „Widerstand“ entgegensetzen können (erst allerjüngst in der allmählich aufkommenden Klimafrage), ist das animal rationale nicht mehr imstande, den faktischen bloßen Nebengebrauch seines Erkenntnisvermögens als solchen und defizitären zu verifizieren.
Dieser Nebengebrauch ist unser Machen-Können, unsere Machen-Erkenntnis, die den Hauptgebrauch der Selbst-Erkenntnis übersehen und vergessen hat. Und in der bevorstehenden Klimakatastrophe zeigt uns die Erde, dass unsere Zweckdienlichkeits-Geistigkeit, die diesen Nebengebrauch als Hauptgebrauch betrachtet und ausgibt und ausübt, in die Irre und Selbstzerstörung führen wird.
***
Im AT wird von einem menschlichen Großprojekt erzählt, vom „Turmbau zu Babel“ (Gen. 11,1-9), der für den Bau einer gewaltigen Stadt steht, mit welchem sich die Menschen „einen Namen machen“ wollten (V. 4), als ein Zeichen ihrer Einigkeit und Gemeinschaftlichkeit. Die Menschen verstanden sich untereinander, denn sie hatten alle dieselbe Sprache. Gott störte dieses Vorhaben, indem er ihre Sprachen verwirrte, so dass sie sich über den Bau nicht mehr verständigen konnten, davon abließen und sich über die ganze Erde verstreuten.
Lutherbibel,
revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft,
Stuttgart, und Einheitsübersetzung ©
2016 der Katholischen Bibelanstalt GmbH,
externer Link: https://www.bibleserver.com/LUT.EU/1.Mose11,
abgerufen am 03.04.2024.
Und wir können uns diese alttestamentlich-mythische Lehr-Erzählung heute folgendermaßen plausibel machen: Die Menschheit war noch nicht reif für ein solches Groß- und Gemeinschaftsprojekt, denn ihre Individualisierung lag noch vor ihr, und erst die Individuen können zur Geistigkeit und Gemeinschaftlichkeit aufsteigen, weil erst in ihnen das Allgemeine und das Einzelne im Echtverhältnis zueinander zu stehen beginnen.
Das „neue Jerusalem“ im NT ist das „Gegenbild“ einer „richtig gebauten Stadt“, in die sich die Individuen und Völker rechtmäßig sammeln können, und sie können ihre individuellen Geschichts-Früchte nun einbringen und ernten, vermittelt über die Einheitssprache des Erkennens und Geistes, die sie wieder zusammenführen wird:
„Und man wird die Herrlichkeit und die Ehre der Völker in sie bringen.“ (Offb. 21,26)
Lutherbibel,
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abgerufen am 03.04.2024.
Der neuen Stadt steht gegenüber die „Hure Babylon“ (Offb. 17-18), die terminologisch an den „Turmbau zu Babel“ des AT erinnert. „Hure“ ist verwandt mit „carus“ = begehrt, lieb, teuer, wert (Etymologie s.u.). Daher werden diejenigen unter diesem Terminus zu subsumieren sein, die am bloßen Nebengebrauch des Geistes festhalten, den Hauptgebrauch nicht verstanden haben und daher auch nicht realisieren können. Ihr Interesse ist nicht geistig, bezieht sich nicht auf das Wesen des Seins, sondern es genügt ihnen schon das „Wohlergehen“, das Gutgehen, das Wohlstand- und Komfort-haben, das ihnen lieb und teuer geworden ist. Sie bleiben „sprachverwirrt“ und finden nicht zur Einheitssprache der Erkenntnis und des Geistes, die die „Liebe zur Wahrheit“, Philosophie und Wissenschaft, als eigene Willensentwicklung, zur Voraussetzung hat.
"Hure", in:
Wolfgang Pfeifer et al., Etymologisches Wörterbuch des
Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang
Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch
der deutschen Sprache, externer Link: https://www.dwds.de/wb/etymwb/Hure, abgerufen am
23.03.2024.
Trotzdem ist uns auch durch unsere Wissenschaft die „Hybris eines Wissens“ entstanden, von dem bereits in der Einleitung deutlich gemacht wurde, dass es gar kein solches ist, weil es den existenziellen Rückbezug zum Menschen verloren hat. Es ist also tot, keine lebendige Bildung mehr, die den Menschen kraftvoll, frisch und dynamisch mit dem kosmischen Sein in Verbindung setzte und hielte.
Die Ursache dafür ist: Wir haben uns mit unserer kosmischen Isolationssituation quasi abgefunden und dadurch aufgehört, sie zu reflektieren, zu problematisieren, zu vergegenständlichen, zum Erkenntnisobjekt zu machen. Und auch wenn man sich dies nicht gerne eingestehen will: Auf dieser dogmatisch gewordenen Isolations-Hypothese, die nun - materialistisch - als „Wissen“ gesetzt ist, obwohl es – geschichtlich-längerfristig betrachtet - nur eine Augenblickserfahrung ist, sozusagen ein Erfahrungsleinchen oder Erlebnismomentchen in der großen und langen Geschichte des Menschen und der Menschheit; auf diesem „Isolations-Wissen“ erhebt sich nun auch das Gesamt unserer „kritischen Wissenschaft“ und unseres „verantwortungsvollen Gesellschafts-Handelns“ – ein Ultra-Kurzblick, der sich selbst - ernsthaft und wissenschaftlich!? - für einen Weitblick hält!?
***
Unsere Wissenschaften lehren uns - tatsächlich aber - lediglich das vielfältige Drumherum der menschlichen Existenz, aber diese unsere Existenz selbst steht unverändert nackt und bloß da, unverbunden, isoliert, abgeschottet, ermattet. Wir könnten dies den „universalen Irrtum der europäisch-abendländischen Außenperspektivik“ nennen. Und es braucht nicht viel Phantasie, um unsere moderne Wissens-Einbildung als einen echt gelungenen „babylonischen Wissens-Turmbau zunehmend unermesslich werdenden Ausmaßes“ zu betrachten. Totes Wissen, als Nahrungs-Ernte und Frucht in die Scheunen unserer Geist-Bibliotheken gebracht, für später, für niemals, für niemanden, für die Katz…
Nach dem Selbstverständnis des Menschen in der Moderne ist die Bedeutung des Wörtchens „Ich“ hinreichend erfasst, so dass nur noch „das Drumherum“ zu klären übrigbleibt, als wüssten wir schon, was das ist – „Ich“, welche Bestimmungen dieser zugleich individuelle und allgemeine Begriff in sich enthält und welchen Umfang und Reichweite er hat.
Das Erkennen selbst ist so zu einem „praktischen Mittel zum praktischen Zweck“ degradiert, bloßes Hilfsmittel oder Anwendungswerkzeug eines neuzeitlich gewordenen Ich oder Selbst, das sich selbst für eine oder gar die Konstante im Sein betrachtet, wie wohl die wesensgemäße Aufgabe menschlicher und menschheitlicher Selbst-Erkenntnis noch gar nicht eingelöst ist und bei einer solchen Lebens- und Geistesgrundhaltung auch niemals wird eingelöst werden können: „Ich bleibe, nur mein Drumherum verändert sich.“ Man sieht hier förmlich das Fehlgehen der Heraklit-Perspektive: Das Ich hält sich aus dem Veränderungsprozess des Seins in sich heraus und will selbst in die Anderswerdung nicht mit eingehen. „Die Veränderung und Anderswerdung betrifft nur das Andere um mich herum, aber doch nicht – mich selbst!?“ An der drohend bevorstehenden Klimakatastrophe sehen wir, dass wir uns aus dem Veränderungsprozess nicht mehr (lange) heraushalten können, nicht länger in Sicherheit wiegen können. Nein, nicht unser Drumherum ist zu verändern, sondern „wir in uns selbst“.
Hm, wen könnten wir beauftragen, diese Dienstleistung für uns, pro nobis vorzunehmen, damit wir auch weiterhin in Ruhe und Bequemlichkeit gelassen bleiben können, so bleiben können, wir wir nun einmal in uns selbst sind und sein und bleiben wollen…?
Wir stehen heute an einem Ende. - Ich wiederhole den Satz, als sei er noch nicht verstanden worden. Und er ist auch noch nicht verstanden worden, weil er im unaufhörlichen Fluss und Dahinplätschern der Geschichte auch kaum zu verstehen ist. Und daher wird also zusätzlich auch noch dieses Noch-nicht-verstanden-sein verstanden werden müssen. Denn so, wie man gut und schnell über das Wort „Ende“ hinweglesen kann, ebenso leicht kann man auch über das Geschehnis „Ende“, an welchem wir uns heute geschichtlich und geistesgeschichtlich befinden, hinwegleben und hinweghandeln – als befänden wir uns auch heute noch im „ewig gleichen Lauf der Dinge“ archaischer Zeiten, in denen die Natur noch in Ordnung war, weil der Mensch noch keine Macht erlangt hatte.
Aber etwas Neues ist gekommen, eine Neuzeit, und das Neue ist schnell und schneller geworden und rast jetzt exponentiell schnell nach oben und überholt und überschlägt sich, so dass wir sogar mit unserer bloßen Geschichtseinteilung nicht mehr richtig nachkommen: post – post – post oder danach – danach – danach. „Hinterher ist man klüger“, dieser altbewährte Spruch selbst wird in die Zukunft hinein nicht mehr funktionieren, denn auch er… verändert… sich in ein: „Hinterher ist man tot“.
Und so wäre es gewiss nicht falsch, wenn uns der Gedanke käme, mit diesem „Konservativitäts-Empfinden“ eines „ewigen Gleichbleibens der Dinge“ laufen und leben wir in eine „Traditions-Falle“ hinein, vor welcher uns die Bibel eindrücklich und wiederholt warnt, indem sie uns quasi mehrfach sagt: „Achtung – du animal rationale! Es besteht die Möglichkeit, dass du das Ende als Ende gar nicht realisieren kannst! Sieh dich vor! Pass gut auf! Hör ganz genau hin! Denn da ist sehr wohl ein tiefgreifendes, wenn vielleicht auch subtil bleibendes Veränderungsgeschehen! Gib acht, damit es dir nicht entgehe!“ Die Bibel warnt: „Achtung, Mensch! Deine gegenwärtige Isolationssituation wird nicht in alle Ewigkeit so bleiben!“
Schade eigentlich, dass aufgrund der Traditions-Falle, in die der kurzschlüssige Mensch der Moderne wissenschaftlich hineingeraten ist, ohne sie als solche wahrnehmen zu können oder zu wollen; schade eigentlich, dass keine biblische Hörerschaft mehr da ist, nur noch ein ungelesenes und scheinbar längst überholtes Buch…
20. Der weisheitslose Weg unserer Erforschung des Universums
Blicken wir nochmals an den Anfang „unseres Buches“ (= die Bibel) zurück. Dort finden wir in Genesis 1 einen Herrschaftsauftrag an den Menschen erteilt, die Erde zu bevölkern und zu unterwerfen (Gen. 1,28). Und wenn wir nun – dem mutmaßlichen „Ende“ entsprechend – innehalten, so können wir fragen: „Ist hier nicht die europäische Epoche der Menschheitsgeschichte wie vorweggenommen?“ Dieser Herrschaftsauftrag scheint heute nämlich erfüllt, auch wenn wir den Auftrag als solchen aus dem Auge verloren hatten.
Und zugleich sehen wir jetzt, dass wir ihn falsch verstanden und falsch umgesetzt haben. Denn wir benutzten unser Wissen für unser Herrschen, und in der anstehenden Klimakatastrophe sehen wir zugleich unsere Macht und unsere Ohnmacht, unser Können und unser Nichtkönnen, konkret: unser großes (Schadens-)Wissen einerseits, und unser noch größeres (Heilungs-)Nichtwissen anderseits, mit welchem wir in die größeren, wohlgeordneten Naturzusammenhänge hineinhandeln, hineinexperimentieren, hineinpfuschen.
Unser Wissen ist „Stückwerk“. Paulus hatte dies bereits in der Antike richtig erkannt (1 Kor 13,9), nur ist sein Wissen vereinzelt geblieben und der Allgemeinheit verloren gegangen, oder aber die Allgemeinheit hat noch 2000 Lern- und Erfahrungsjahre benötigt, um ihn in diesem seinem Wissensvorsprung einzuholen?
Die Natur im Ganzen ist kein Stückwerk, sondern ein gut funktionierendes Räderwerk, nein, ein lebenerfüllter Organismus, in welchem eins aufs andere wohlabgestimmt ist. Dieses Gleichgewicht können wir gut auch „Weisheit der Natur“ nennen. Unser Wissen aber ist nur stückchenweise eingedrungen in diese lebendige Ordnung, sie störend und verletzend, und so kennen wir nun die Differenz zwischen unserem „Wissen“ und der kosmischen „Weisheit“, ein Unterschied wie „Teil“ und „Ganzes“, der uns nun – zusammen mit unserer Lebensgrundlage - auch unser Leben kosten könnte.
Wir können also heute wissen, dass „unsere Wissenschaft“ (im Verbund mit der Technik, die nur am Einzelnen interessiert ist, nicht am Ganzen, ebenso wie unsere vielen Pseudo-Wirs) ein unzulänglicher, inkompetenter, unzureichender, uns selbst schädigender und womöglich uns gar vernichtender Weg ist, auf das Ganze des Seins zuzugehen bzw. in es einzudringen, wobei insbesondere die unwissend-ausprobierende Anwendung, also der Praxisgebrauch dieses Stückchen-Wissens aufs Geratewohl hin immer mehr in Frage steht, weshalb heute die ("umkehren wollenden") Warnrufe aus der Wissenschaft zunehmen.
Er ist fragwürdig geworden, ja, aber praktiziert wird er dennoch weiterhin, woran sich nun insbesondere zeigt, dass ein Zusammenhang gesehen und hergestellt werden sollte zwischen Wissenserwerb und Reifungsprozess des Menschen. Des Menschen Wissen resp. Machen-Können sollte seinem Handlungs-Reifegrad angemessen sein – leider ist es nicht so.
Unsere geistesgeschichtlichen Erfahrungen zusammenfassend, können wir heute sagen: „Wissen ist Ohnmacht. Weisheit wäre Macht gewesen. Allein: Wir haben sie nicht gefunden, oder auch: nicht in sie zurückgefunden.“
21. Sokrates – Platon – Aristoteles: Das Scheitern einer auf sich selbst gestellten Suche nach Weisheit
Blicken wir nochmals zurück zu den Anfängen der Philosophie, zur „Schnittstelle Sokrates“, wobei wir diesmal aber die andere Seite näher betrachten wollen. Den Schnittpunkt selbst können wir als das „Verlorengegangen sein der Weisheit“ bezeichnen, und genau hier setzte die Suche nach Weisheit, die Philo-Sophia ja an.
a) Der Sokrates-Weg der Suche der Weisheit unter den Menschen erwies sich als unmöglich
Sokrates‘ „Liebe zur Weisheit“ wollte ein Rückweg sein, zurück zur höheren Ordnung der den Kosmos durchdringenden „Weisheit“, in welcher sich der Mensch noch gut und fest eingefügt wusste zwischen Himmel und Erde. Diese Weisheit (Sophia) scheint ja in der uns umgebenden Natur nach wie vor enthalten und wirksam zu sein, nur aus der Sphäre des Menschen ist sie entschwunden, wobei auch der Umkehrschluss gilt: Der Mensch hat die Ordnung der „Weisheit“ verlassen und behauptet nun in einem Außerhalb einen „Eigenraum“, der „irdisch echt“ ist (vielleicht aber zugleich auch „kosmisch virtuell“), und in diesem Eigenraum behauptet er ein „Wissen“, welches als eingeübte „sich praktizierende Anwendungswissenschaft“ keine (nennenswerten) Anstalten macht, den Menschen in seiner Existenz in diese höhere Ordnung zurückzuführen, damit das menschliche Handeln aufhörte, „Eingriff in die Natur“ zu sein, und damit es anfinge, ein „einvernehmliches Handeln mit der weisheitsvollen Natur und dem Ganzen des Seins“ zu werden.
Das Denkleben des Sokrates steht für dieses Verschwunden bleiben, wenngleich er ursprünglich im Gegenteil beabsichtigte, diese Weisheit zum Menschen zurückzuholen. Das war sein Plan, aber er gelang ihm nicht, seine Lebensliebe, seine Philo-Sophia blieb unerfüllt.
Und deshalb konnte das Delphische Orakel über ihn auch nicht aussagen, Sokrates sei weise, sondern nur – wohl differenzierend im Wortlaut -, niemand sei weiser als Sokrates. Wenn nämlich die Weisheit von den Menschen gewichen ist, wird notwendig derjenige, der sie zumindest noch oder wieder sucht, der Weiseste unter allen Menschen sein. Das Orakel sagt also strenggenommen: In der geistesgeschichtlichen Situation des Verschwunden seins der kosmischen Weisheit aus der Sphäre des Menschen ist Sokrates als derjenige unter den Menschen zu sehen, der noch am wenigstens weisheitslos ist, weil er der verlorenen Weisheit noch am nächsten steht, indem er versucht, sich mit ihr wenigstens wieder zu verbinden und sein Jenseits-Stehen nicht einfach hinzunehmen. Trotzdem: Die Weisheit selbst hatte er nicht und fand er auch nicht mehr.
Und so steht Sokrates in seiner Zeit für ein Zweifaches: Einmal, für das geistige Armutszeugnis des von der kosmischen Weisheit alleine gelassenen Menschen (und diese Existenzsituation ist uns heute menschheitlich ins Große ausgezogen, denn es ist unsere allgemeine geworden). Zugleich steht er aber auch noch für einen Hoffnungsschimmer des menschlichen Denkens inmitten dieses Alleine-Dastehens, gerade durch das Zeugnis des Orakels. Es scheint daher, als sei auf dieses menschliche Denkvermögen, das in Sokrates seinen eigentlichen Anfang nahm, kosmisch vertraut und gebaut…?
Das Orakel bestätigt aus höherer Weisheitsquelle heraus (in die wir an späterer Stelle noch näher zurückfragen wollen) den von Sokrates begonnenen Erkenntnis- und Such-Weg der Philosophie als richtig und dem Menschen angemessen. Und deshalb können und müssen wir die rational-diskursive Philosophie als grundsätzlich richtige Methode ansehen, die das menschliche Denken genommen hat und die uns in Richtung Ausbildung der Pluralität unserer Wissenschaften führte.
Was aber war denn dann trotzdem falsch? Wie konnten wir – philosophierend und wissenschaftend – richtig beginnen und am Ende dann doch falsch herauskommen? Warum haben wir die Richtung verfehlt?
b) Der Platon-Weg der Suche der Weisheit in kosmischen Weiten erwies sich als unmöglich
Verfolgen wir den Denkweg des Sokrates geistesgeschichtlich weiter, so führt er uns zu seinem Schüler Platon, der den Sokrates-Weg in bestimmter Richtung fortgeführt und ausgebaut hat: Der Philosoph muss in die geistige Sphäre des Kosmos hinausgehen, um dort der kosmischen Weisheit wieder teilhaftig zu werden.
Und wir haben damit bereits zwei Wege der Philosophie in ihren Anfängen, die beide nicht erfolgreich zu Ende geführt werden konnten, weil sie sich beide als ungangbar erwiesen.
a) Es macht keinen Sinn, die Weisheit im Geiste der Menschen zu suchen, denn dort ist sie nicht mehr (Geschick des Sokrates)
b) Der Mensch kann auch nicht in den Kosmos hinaussteigen, um dort draußen das verlorene Geistige wiederzufinden, denn das Draußen des Kosmos ist gar kein Weisheitsraum oder Empyreum, sondern vielmehr auch kein anderes Sein als unser eigenes irdisches Sein in der Sinnlichkeit, wie wir heute – nachkopernikanisch - wissen (Geschick des Platon)
Wir können sagen: Die Austestung des platonischen Weges und die Erkenntnis seines Scheiterns dauerte unsere komplette Geistesgeschichte lang, bis heute, denn dazu musste der komplette Raum der Sinnlichkeit durchschritten werden, möglich geworden erst durch die Technik - dies muss eingeräumt werden: Die Technik an sich ist nichts „Schlechtes“, erst ihre unzureichende, verantwortungslose Anwendung, die auch als Regen-Traufe-Phänomen erscheint, z.B. Ersetzung des Dieselkraftstoffes durch Gebrauch von Lithiumbatterien. Denn: Besteht nicht der Unterschied eines solchen „Umweltbewusstseins“ darin, dass die Natur zuerst mit einem schlechten (oder mit gar keinem) Gewissen geschädigt wurde (unmittelbar sichtbare Schadstoffverpuffung), jetzt aber mit einem guten Gewissen, weil ja noch gar „kein Schaden da und sichtbar ist“? …wer weiß – vielleicht geht es ja diesmal gut, und wir tun der Natur mit Lithiumbatterien etwas Gutes…? Hm, wie viele Versuche wir wohl haben mögen, um einen Glückstreffer (der Schöpfungs-Bewahrung) zu landen...?
Jetzt ist erkennbar, dass sich „die Weisheit“ nicht in ein irgendwo im Universum verstecktes „Empyreum“ zurückgezogen hat, sondern, wenn überhaupt, so muss sie einer Sphäre des Unsichtbaren, also des Nicht-Sinnlichen angehören, das kein lokales Dasein führt, sondern entweder den kompletten Sinnlichkeitsraum durchwirkt, als eine eigene Sphäre, oder aber schlechterdings nichtexistent ist.
Wir können daher nicht „in die Ferne“ gehen, hin zu einem Ideenhimmel der Weisheit, sondern die Lösung muss, wenn überhaupt, auch schon direkt „bei uns hier“ zu finden sein, schließlich befindet sich die weisheitsvolle, wohlgeordnete Natur auch bei uns. Das konnte Platon noch nicht erkennen, deshalb meinte er, die „Höhle der menschlichen Existenz“ verlassen zu müssen. Aber nein, die Lösung muss schon hier in der Höhle zu finden sein! Sie muss uns quasi vor Augen liegen, und wir sehen sie einfach nicht!? Als befänden wir uns mit unserem denkenden Sehen in einer Art geistigen Unschärfe, oder als würde uns hier bei uns die „Linse der Idee“ fehlen, die die Dinge erst in ihrer Schärfe und Klarheit sichtbar macht?
c) Der Aristoteles-Weg der Suche der Weisheit im Irdischen erwies sich als unmöglich
Und wir können noch einen dritten Weg dazunehmen, indem Aristoteles, der Platon-Schüler, neu und anders ansetzte als sein Lehrer: Die Ideenwelt ist nicht irgendwo in einem Oben oder Draußen des Kosmos realisiert, sondern bei uns „hier unten“ im Sinnlich-Physischen.
Wären nämlich die von den sinnlich-physischen Dingen abgetrennten Ideen die eigentliche Wirklichkeit, so folgte u.a. daraus, dass auch die eigentliche Wirklichkeit von uns Menschen erst dort draußen zu finden wäre, nicht hier unten bei uns. Also müsste die eigentliche Menschensphäre irgendwo überirdisch im Kosmos oder Himmel bestehen, während wir von uns selbst aussagen müssten, wir seien gar nicht „eigentliche Menschen“, sondern hätten an diesen nur einen Anteil, eine gewisse Teilhabe.
Spätestens Aristoteles entwickelte als „Aporie der Ideenlehre“ das Gegenargument des „dritten Menschen“. Wenn nämlich das Prädikat „Menschsein“ von der Idee des Menschen abzuleiten ist, und wenn die Idee des Menschen das Prädikat „Menschsein“ selbst in sich enthalten muss, muss dann nicht eine weitere Idee hinzugedacht werden, von der her auch wiederum die Idee des Menschen die Prädikation „Menschsein“ zugesprochen erhalten können soll? - Mir selbst will diese Argumentation nicht recht einleuchten, sie scheint mir nur das Produkt eines sprach- und aussagegeleiteten Denkens zu sein, das in eine falsche Richtung führt und zuletzt vielleicht bei Kant mit seinen "synthetischen Urteilen a priori" herauskommt, was einen gänzlich abstrakt oder rein technisch gewordenen Erkenntnisbegriff zur Voraussetzung hat, der jeglichen Sinn für die lebendige Geistigkeit des kosmischen Seins verloren hat, wonach Erkennen - platonisch und goethisch verstanden als das Tätigsein eines Geistwesens - und somit ein Wiedererkennen und Wiederfinden ist, ein Zurückgelangen ins Eigene, Heimatliche, Vetraute, ein Wiedereinlaufen in den Hafen des Seins, nach langer Abwesenheit, obwohl diese solange gar nicht gewesen ist, nämlich nur die paar Jahrhunderte der Neuzeit-Moderne, unseres nachmittelalterlichen Ausgesteuertworden seins aus unserem Ewigkeitshorizont, was wiederum man nur dann sehen und empfinden kann, wenn man sich selbst als geschichtliches, eine Geschichte habendes Wesen begreifen kann, das die faktischen Unterschiede seines Menschseins in der Zeit zu sehen imstande und wahrzunehmen gewillt ist, anstatt sie - ungebildet oder bildungslos - in einen "Einheitsbrei kosmischen Leerlaufens" mixt und willkürlich zusammenwirft, als habe der Mensch niemals eine Wissenschaft und ein Differenzieren begonnen und erlernt, und das vielleicht nur aufgrund einer neuzeitlich gewordenen Eigenparalyse, aus der man sich einfach nicht wieder befreien kann, weil man in seinem "Schock der Moderne" festsitzt und festsitzt und festsitzt...
Hingegen halte ich die erstgenannte Problematik für schwerwiegender: Nach der Ideenlehre müssten wir den „eigentlichen Menschen“ außerhalb unserer irdischen Welt suchen, und wir müssten von uns selbst behaupten, wir seien gar keine „richtigen Menschen“, sondern nur „halbe“, weil wir an der Idee des Menschen nur einen gewissen Anteil hätten. – Diese „platonische Sichtweise“ berührt sich allerdings merkwürdig trefflich mit den von uns entwickelten Gedanken des Unbewussten und Überbewussten sowie mit der möglichen Spaltung der menschlichen Existenz in kurze irdische Aufenthalte und lange himmlische Aufenthalte. Und selbst der „christlichen Sichtweise“ kann man diesbezüglich etwas abgewinnen: Die Idee der Menschlichkeit und Menschheitlichkeit ist in Christus realisiert, und nur insofern die menschlichen Individuen an dieser Vollkommenheit Christi teilzuhaben vermögen, kommt in ihnen „der Mensch“ wirklich zum Vorschein.
Aristoteles setzt philosophisch neu an und begründete das Gegenstands-Denken, aus welchem dann geistesgeschichtlich unsere gesamte Wissenschaft hervorgegangen ist. In der Einleitung haben wir gesehen, dass diese aristotelische Gegenstands-Grundlegung das „Ding“ zum Gegenstand und Erkenntnisobjekt erklärt, was im Grunde genommen aber auch ein Irrweg ist, wie wir am Bild des Fahrzeugbauers sehen können. Denn das „Ding Fahrzeug“ erscheint nämlich nur dann und dadurch als „Fahrzeug“, dass wir es mit und in der Idee des Fahrzeuges anschauen; auch war die Idee bereits vor dem Fahrzeug da, so dass die Gegenstands-Betrachtung eigentlich gar nichts bringen kann - an Erkenntnis!?
Steht uns diese Idee nicht zur Verfügung, so sehen wir lediglich ein komplexeres Sinnending, das wir nun nach den aristotelischen Kategorien beschreiben müssten, um vielleicht seinem Wesen auf die Spur zu kommen. Aber trotz dieser genauen Beschreibung (Lage, Größe, Form etc.) könnten wir es nicht als „Fahrzeug“ identifizieren, d.h. als dasjenige sehen und ansehen, was es „eigentlich“ ist. Die Dinge werden erkannt durch ihre Ideen. Die Ideen führen zum Begriff bzw. sie sind dieser Begriff schon selbst. Die Idee einer Sache ist bereits ihr Begriff. Habe ich ihre Idee, so habe ich die Sache verstanden, verfüge also über ihren Begriff - da muss ich das zugehörige "Ding" nicht einmal eines Blickes würdigen.
Der „Begriff“ ist aber nun gar nichts Sinnliches, sondern eine Sache des Geistes und eine Sache im Geiste, so dass das Erkenntnisstreben (und damit unsere gesamte Wissenschaft) gewissermaßen irrtümlich ins sinnliche Außen geleitet wird, weil der Geist ein Defizit, eine Leerstelle in sich vorfindet (Fehlen des Begriffes), die er dadurch zu beheben versucht, dass er seine volle Aufmerksamkeit auf das „Ding draußen“ konzentriert, in der Hoffnung, dort draußen dasjenige zu finden, was in ihm selbst fehlt: den Begriff…?!
Man könnte dies ein „psychisches Gravitationsgesetz“ nennen, gültig für geistbegabte Sinnenwesen: Das Begriffsvakuum in sich zieht den Geist förmlich ins Außen, bannt ihn hin auf den „Gegenstand“, was aber faktisch eine Art Objekttäuschung ist, oder genauer: ein wortwörtliches „Ver-sehen“, im Versuch, die Erkenntnissituation als solche richtig zu erfassen. Denn der Gegenstand ist gar nicht „da draußen“, sondern besteht als Leerstelle im Geiste selbst, der durch dieses Verstehensdefizit in einen Gegen-Stand zu demjenigen gerät, was „draußen begegnet“ oder besser „unverstanden entgegensteht“.
In diesem anfänglich-aristotelischen Ver-sehen (= der Verschiebung des eigentlichen Erkenntnisproblems vom Innen [= Fehlen des Begriffes] ins Außen [= der unverstandene Gegenstand]) befindet sich unser kompletter Wissenschaftsapparat auch heute noch, und entsprechend wurde in der Einleitung zwischen „Gegenstand“ und „Gegen-Stand“ unterschieden, wobei dieser Gegen-Stand oder das Gegenstehen das Erste und Frühere ist, nämlich als Nichtverstehenkönnen der Dinge durch den menschlichen Geist, gegenüber der erst sekundär erfolgenden Setzung eines Gegenstandes, soll heißen der Erklärung eines Seienden zu einem Erkenntnisobjekt für Philosophie und Wissenschaft.
Nochmal: Nicht dadurch, dass wir einem Seienden physisch gegenübertreten, wird es zum Gegenstand. Vielmehr wird es dann und dadurch von uns zum Gegenstand erklärt, dass wir das Seiende nicht verstehen können und zugleich verstehen wollen. Dieses Nichtverstehenkönnen und Verstehen wollen ist unser geistiger Akt des Gegenstehens oder Gegen-Standes, bedingt durch das Fehlen des Begriffes in unserem Geist, das Fehlen der Idee des (gegenstehenden) Seienden. Wir sind also auf der Suche nach dem Begriff, nach einer Erkenntnis, nach etwas Geistigem, und irgendwie hoffen und glauben wir, dieses Geistige in der sinnlich-physischen Gegenstandswelt „aufstöbern“ zu können…
Auch Aristoteles war also in der Ausarbeitung seines philosophischen, erkenntnistheoretischen „Gegenstands-Denkens“ das eigentliche Erkenntnisproblem bereits „entschlüpft“, indem er es aufgrund dieses „psychischen Gravitationsgesetzes“ im Außen der Sinnlichkeit veranschlagt, obwohl es dorthin bereits – stillschweigend und unbemerkt - verschoben wurde, aus dem Innern des Geistes weg, wo es an sich besteht, nämlich als: Fehlen des Begriffes. Ist der Begriff einer Sache gefunden, so ist die diesbezügliche Erkenntnissuche und Wissenschaft ans Ziel gelangt, der Gegen-Stand als solcher aufgehoben, und das Ding draußen ist nicht mehr Gegenstand, sondern jetzt wieder Seiendes unter Seiendem, nun aber verstandenes Seiendes. – Deshalb ist z.B. der Stuhl, auf dem ich gerade sitze, kein Objekt meiner Erkenntnissuche.
Dennoch ist die Gegen-Stands-Problematik damit noch nicht vollständig erfasst, denn wir könnten noch einen „aktiven Gegen-Stand“ von einem „passiven Gegen-Stand“ unterscheiden. Der passive Gegen-Stand entsteht vom Außen her, indem Seiendes begegnet, das nicht spontan verstanden werden kann, d.h. wo uns der zur Sache gehörige Begriff fehlt und wir uns in einem Nichtwissen befinden. Die Fülle dieser passiven Gegen-Stände versuchen unsere Wissenschaften aufzuarbeiten.
Dem aktiven Gegen-Stand hingegen liegt ein Vorwissen zugrunde, mit welchem wir auf die Welt oder das Seiende zugehen. Und just, wenn in der Begegnung ein Verständnisproblem auftritt, indem das Seiende sich anders verhält, als es unserem Vorwissen entspricht, kommt es zum aktiven Gegen-Stand - ein konkretes Beispiel: „Mein Navigationsgerät zeigt mir hier eine Durchfahrt an, obwohl die Straße gesperrt ist.“ Jetzt ist es umgekehrt: Die zum Begriff gehörige Sache verhält sich anders als erwartet, und so steht ein eigenes (Vor-)Wissen sozusagen aktiv dem Sich-anders-Verhalten des Seienden entgegen, während im ersten Fall ein bloßes Nichtwissen passiv, d.h. unverstanden dem Seienden gegenübersteht. Im Falle des Auffindens des Begriffes führt das Nichtwissen zu einem Wissen, zu einer Erkenntniserweiterung und entspricht den Wegen unserer Wissenschaften, im andern Fall führt das Erkennen zu Irrtumsbeseitigung oder Erkenntnisberichtigung und entspricht den Wegen der Philosophie.
Das Vorwissen besteht allgemein betrachtet in der eigenen Kultur, in die man hineingeboren, hineinerzogen, hineingebildet wird. Trifft man auf andere Kulturen, so treten Widersprüche auf, weil die Gepflogenheiten, Konventionen, Selbstverständlichkeiten andere sind. Hier ist schwarz die Farbe der Trauer, dort weiß, und wenn man in der Kultur-Begegnung darüber nicht informiert ist, kann man in Fettnäpfchen treten oder Schlimmeres, insbesondere dann, wenn die Religiosität berührt und das religiöse Selbstverständnis betroffen ist, vor allem bei bestehenden religiösen Intoleranzen oder sog. Fundamentalismen, die zuletzt wohl auf eine in sich ungelöste und daher kompromisslos oder rigoros gewordene menschliche Existenz zurückzuführen sind, die sich selbst zum "Gesetz des Universums" erklärt.
Philosophisch im Besonderen betrachtet, ist auch die aus dem Lebenswillen explizierte Idee des Seins als aktiver Gegen-Stand anzusehen, nur kommt man im gewöhnlichen Leben in seiner Reflexion gar nicht dahin, sich vor den „großen Widerspruch des Seins in sich“ gestellt zu sehen, von welchem aus sich die zwei im Hintergrund dieses Textes und Gedankenganges stehenden Lösungsmöglichkeiten – Materialismus und Spiritualismus - als zwei kulturelle Wege ergeben, in welche hinein die Menschheit ihre Richtung einschlagen könnte bzw. bereits eingeschlagen hat.
Denn für gewöhnlich wird dieser "Große Widerspruch" bagatellisiert, nein, nicht eigentlich bagatellisiert, sondern für prinzipiell unlösbar, soll heißen: unverstehbar gehalten, so dass sich ein (nicht-verstehendes) Urteilen und Entscheiden im Meinen ergibt, mit der das menschliche Erkenntnisstreben nicht durchgehalten, sondern abgewürgt wird.
Mit der Auffindung und Setzung der "Idee des Seins" gelangt die Philosophie in einen Gegen-Stand oder eine Existenzsituation hinein, in der sie einem geistigen Gegenstand gegenübersteht, der im gewöhnlichen Leben nicht vorhanden ist und nicht gesehen wird. So findet sie eine rein geistige Anstoßmöglichkeit für ihr Denken, die im physisch-sinnlichen Dasein niemals und nirgends gegeben ist. Und von diesem Gegenstand aus betrachtet muss auch die aristotelische Gegenstands- und Erkenntnislehre ins Leere laufen, weil sie erst nach der Verschiebung des eigentlichen Erkenntnisproblems vom Innen zum Außen angesetzt ist (psychisches Gravitationsgesetz), als wäre das menschliche Erkennen darauf angewiesen, sozusagen gegen Seiendes zu laufen, sich an ihm physisch zu stoßen, um zu erkennen: „Hoppla, da ist ja ein Widerstand, also ein Gegenstand, der meinen Wissensdurst, mein Erkenntnisstreben herausfordern kann!“
Für gewöhnlich kommt der Mensch zum Materialismus, indem er den Widerspruch des Seins in sich – Sein oder Nichtsein – von der überwältigenden Evidenz des Außen, nämlich von der Welt des Werdens und Vergehens, von der eigenen Vergänglichkeit her „auflöst“, also entscheidet, eine Lösung, die streng genommen nicht auf Erfahrung, nicht auf Eigenerfahrung beruht, sondern auf einem Schlussverfahren: „Ich sehe die Menschen um mich herum sterben, sehe sie sozusagen physisch lebensunfähig werden. Also gehen „sie“ wohl ins Nichtsein über, und ich werde ihnen wohl folgen müssen.“ Die Toten machen dann die eher gegenteilige Erfahrung: „Ich bin tot, aber hoppla, ich lebe ja trotzdem noch!?“
Zum Spiritualismus kann der Mensch nur kommen, wenn er ein solches materialistisches Schnell- oder Kurzschlussurteil vermeidet, verzögert, um sogar in dieser „scheinbaren Evidenz“ noch einen Raum zur Reflexion offen zu behalten. Dann erkennt er, dass der Kurzschluss nur eine Lösungsmöglichkeit von zweien ist, und die andere Lösung bestünde in der Alternativsetzung einer „überwältigenden Evidenz des Innen“, welche für gewöhnlich als irreal abgelehnt wird, mit der (nicht ins Bewusstsein heraufgeführten) Begründung: „Ja, diese (Irrsinns-)Idee stammt ja nur subjektiv von mir selbst, weshalb sie für die objektive Wirklichkeit völlig irrelevant ist. Meine Eigenidee ist Unsinn, der Sinn liegt dort draußen im Objektiven, und dieses sagt mir: Deine subjektive Idee ist irrsinnig!“ – ein Gedankengang, der dann nicht richtig ist, wenn der Spiritualismus wahr ist, so dass diese „Eigenidee“ dem allgemeinen Geistsein zugehört, das – in Wahrheit - die objektive Realität ist. Die „objektive Realität“ läuft in diesem Fall in ihrer Höhe und Spitze auf die reine „Subjektivität Gottes“ zu.
Man kann diese Gegenstands-Problematik nun durchspielen, und auch kritisieren, beispielsweise, indem man sagt, der Seeweg nach Indien wäre nie und nimmer durch ein bloßes Hineinbrüten des menschlichen Geistes in sich selbst gefunden worden, sondern er wurde dadurch gefunden, dass Vasco da Gama die afrikanische Küste etappenweise entlang- und umsegelte usw. Aber diese Gegenargumentation hebt die Problematik nicht gänzlich auf, weil sie nur für „physisches Seiendes“ greift usw.
Also: Sogar dieser aristotelische Philosophie- und Wissenschaftsweg ist letztlich nicht gangbar, und Aristoteles hat mit seiner physisch-sinnlichen Gegenstands-Lehre eine Forschungsrichtung grundgelegt, die man heute, im Nachgang, nennen könnte:
c) Der Irrweg der abendländischen Wissenschaft in den mundus sensibilis (Geschick des Aristoteles)
Denn die Erkenntnisproblematik steckt dort gar nicht drin in dieser sinnlich-physischen Welt, sondern sie liegt auf der anderen Seite, von der wir wiederholt festgestellt haben, dass sie uns ständig wieder entschlüpft, weil unser Aufmerksamkeitsvermögen zunächst einmal nicht ausreicht, um diese Sphäre klar und deutlich als diejenige zu erfassen und festzuhalten, die sie ist: die Sphäre unseres eigenen Geistes, der ganz klar der Ursprung der Philosophie und Wissenschaft genannt werden muss. Denn alle Dinge bleiben solange schlicht und einfach Seiendes, bis ein forschender Mensch auf die Idee kommt, sich mit diesem Seienden explizit auseinanderzusetzen – in der Forschungssituation. Dann erst ist das Seiende ein Gegenstand, verursacht durch das Gegenstehen des menschlichen Geistes, dem in sich der zum Seienden draußen gehörende Begriff fehlt, und die Begriffssuche – zuletzt das Verstehen des Ganzen des Seins – ist Wesensaufgabe des animal rationale. Und deshalb sagt die Bibel, die Liebe zur Wahrheit werde den Menschen retten. Und deshalb kann den Geist nicht nur einer haben sollen, sondern jeder und jede Einzelne soll zum Begriff kommen können, denn er ist prinzipielle Angelegenheit jedes einzelnen menschlichen Individuums, als Geistwesen, das es ist.
Wer aber das Nichtverstehen der Dinge zur Normalität des Menschen erklärt, der hat auch keine „Gegenstände“ und geht auch nicht daran, seinen eigenen Geist in sich zu aktivieren und universal zu weiten.
Anmerkung:
In Bezug auf den von mir
dargestellten sog. Prämissen- oder Schwerkraft-Aufbau unseres
wissenschaftlichen Denkens machte ich darauf aufmerksam, dass
der Gedanke einer notwendigen Korrektur solcher Denkweise (weg
vom "Gebäude-Denken" hin zu einem "Raumstation-Denken", vgl.
Menüpunkt 2: 10. Ist unsere Art, wissenschaftlich zu denken,
geozentrisch geblieben?) nicht von mir stammt, sondern bereits
100 Jahre früher von Rudolf Steiner formuliert wurde.
Als eine weitere Übereinstimmung zwischen ihm und mir in der
philosophischen Denkweise möchte ich auf Rudolf Steiners
philosophische Hauptschrift verweisen - Die Philosophie der
Freiheit (1894), in der er seine erkenntnistheoretischen
Grundgedanken entwickelt, die zumindest diese selbe Beobachtung
enthalten, dass das Begriffliche (des menschlichen Geistes) zum
Gegenständlichen als ein Zweites und Eigenständiges hinzukommt.
Zumeist wird dies übersehen, indem man das, was vom eigenen
Denken kommt, ins Wahrgenommene bereits mit hineinverlegt.
Allein schon die "Tiefenschärfe in der Raumorientierung" kommt
bereits vom Denken, weil das "pure Sehen" nur ein Nebeneinander
von Farbabschattierungen liefert, was uns nur dadurch entgeht,
dass wir längst, von klein auf, die Tiefe "in unser Sehen
hineingedacht" haben. Wenn wir einen "Stift" sehen, so haben
wir hierbei den "Begriff des Stiftes" bereits mit
hineingedacht, so dass er zu "unserer Wahrnehmung"
gehört.
Entsprechend nennt Rudolf Steiner "Wahrnehmung" den noch
begriffsleeren Sinneseindruck. Und ich will hier nur ein
Beispiel seiner Denkweise geben:
"Bei denkenden Wesen stößt
dem Außendinge gegenüber der Begriff auf. Er ist dasjenige, was
wir von dem Dinge nicht von außen, sondern von innen empfangen.
Den Ausgleich, die Vereinigung der beiden Elemente, des inneren
und des äußeren, soll die Erkenntnis liefern.
Die Wahrnehmung ist also nichts Fertiges, Abgeschlossenes,
sondern die eine Seite der totalen Wirklichkeit. Die andere
Seite ist der Begriff. Der Erkenntnisakt ist die Synthese von
Wahrnehmung und Begriff. Wahrnehmung und Begriff eines Dinges
machen aber erst das ganze Ding aus." (GA 4, Kap. V. Das
Erkennen der Welt, S. 92)
Diese Textwiedergabe
des Bandes GA 4 "Die Philosophie der Freiheit"
der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (deren Herausgabe dem Rudolf
Steiner Verlag obliegt) basiert auf der Werkbearbeitung einer
älteren Ausgabe dieses Bandes GA 4 (externer Link: https://steiner.wiki/GA_4), durch die freie
Literaturdatenbank SteinerWiki (externer Link:
https://steiner.wiki/Hauptseite), zum Zwecke der
kostenfreien Zugänglichmachung des Werkes Rudolf Steiners, und
steht unter der Lizenz "Creative Commons CC-BY-SA 4.0"
(externer Link: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/legalcode.de).
In SteinerWiki ist eine entsprechende Liste der Werkbearbeiter
zu GA 4 verfügbar, dort unter dem Reiter "Versionsgeschichte".
Näheres zur kostenfreien Zugänglichmachung vgl. unter "Unser
Anliegen" auf der SteinerWiki-Hauptseite, abgegriffen am
25.08.2024.
Diesen Gedanken habe ich
aber m.W. nicht von Rudolf Steiner, sondern eigenständig
entwickelt, und zwar während einer "Erholungsphase im
Elternhaus" (1985-87) nach den ersten zwei Jahren meines
philosophischen Studiums (1983-85 an der Hochschule für
Philosophie München S.J.). In dieser Zeit habe ich 500
(karierte) DIN A 4 - Blätter engstens beschrieben mit Notizen,
auf Vor- und Rückseite, und besitze diese Blättersammlung auch
noch, allerdings ist sie kaum mehr leserlich.
Die "Philosophie der Freiheit" benenne ich hier speziell
deshalb, weil (der "unwissenschaftlich" eingestufte) Rudolf
Steiner auf eine Nachfrage hin folgendes über dieses sein
philosophisches Hauptwerk geäußert haben soll:
Rudolf Steiner wurde einmal gefragt:
«Was wird nach Jahrtausenden von Ihrem Werk noch übrig bleiben?»
Er antwortete:
«Nichts als die ‹Philosophie der Freiheit›. Aber in ihr ist alles andere enthalten. Wenn jemand den dort geschilderten Freiheitsakt realisiert, findet er den ganzen Inhalt der Anthroposophie.»
Diese Textstelle ist
entnommen der Startseite von Roland Tüschers "Ein
Nachrichtenblatt. Nachrichten für Freunde der Anthroposophie
und Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft", externer
Link: https://einnachrichtenblatt.org/,
abgegriffen am 25.08.2024. - Zitatnachweis (dort gegeben): Der
Fragesteller war Walter Johannes Stein.
Zitiert nach: Walter Johannes Stein / Rudolf Steiner,
Dokumentation eines wegweisenden Zusammenwirkens (Hrsg.
Thomas Meyer), Dornach 1985, S.299
Also auch hier wieder ist das „Beobachterproblem“ erkennbar, wie schon bei Heraklit und wie auch beim materialistisch orientierten Naturwissenschaftler, der diese Zusatz-Problematik, der er selbst unterliegt, gar nicht wahrnimmt: dass es nicht nur auf sein Beobachtungsfeld ankomme, sondern insbesondere auf seinen eigenen Beobachterstatus.
Übertragen wir dieses erkenntnistheoretische Grundproblem ins Große und Ganze, so können wir sagen: Philosophie und Wissenschaft sind, weil dem Menschen der Begriff des Seins fehlt, konkreter: Der Mensch versteht die Wirklichkeit, in der er sich befindet, nicht. Und wieder konkreter: In unserer Geschichtsbetrachtung haben wir bereits gesehen, dass uns die Menschheitsgeschichte deshalb ein Rätsel ist, weil uns ihre Idee fehlt, das Grundprinzip ihres Fortschreitens unbekannt ist. Und da die Menschheitsgeschichte wesenhaft zum Menschen gehört, können wir auch sagen: Das Grundproblem des Menschen in seiner Existenz besteht darin, dass ihm seine eigene Idee fehlt, soll heißen, zunächst einmal begreift er sich selbst nicht. Und dies trifft heute immer noch zu, weil unsere Wissenschaften diesem eigentlichen Erkenntnis- und Existenzproblem des Menschen nicht weiter nachgegangen sind, sondern nach anderen Begriffen stöberten, oder nach dem Begriff von Anderem, nicht aber nach dem Begriff ihrer und unserer selbst.
Und nun hatten wir im Abschnitt über „Uns“ gesehen, dass der Mensch dennoch eine Art Urverständnis des Seins in sich trägt, die wir als „Idee des Seins“ in die Theorie herausgesetzt haben. Er hat also einen ursprünglichen Begriff des Seins (den wir zugleich ein ursprüngliches Selbstverständnis nennen können), von dem er aber zunächst einmal feststellen muss, dass er „nicht passt“, dass er auf die Wirklichkeit, in der wir uns faktisch befinden, nicht zutrifft bzw. nicht angewandt werden kann. Denn es ergibt sich ein „Widerspruch des Seins in sich“ – dies dürfen wir deshalb so formulieren, weil wir selbst ein Sein sind. – Und nun kommt es darauf an, ob diese zweierlei Begriffe des Seins, die wir in irgendeiner Weise beide als „zutreffend“ bezeichnen müssen…
a) Sein hat Bleiben zu sein (Prinzipien-Idee des Seins)
b) Der Mensch kann als solcher nicht bleiben (unser derzeitiges Erfahrungs-Verständnis der Wirklichkeit)
…ob diese zweierlei Seinsbegriffe nicht so zueinander ins Verhältnis gebracht werden können, dass sie sich beide als wahr zeigen. Und genau auf diese Fragestellung zielte die in der Einleitung genannte Leitfrage ab:
„Können wir ein „Wissen“ in uns identifizieren, welches gar kein „echtes Wissen“ ist, sondern als ein Falsch- oder Scheinwissen bezeichnet werden muss, also ein solches, welches in irgendeiner Art und Weise in sich verdreht oder verkehrt ist, so dass es zugleich eine Wahrheitsseite und eine Irrtumsseite an sich hat und weshalb es uns – als dieser existenzielle Wissens-Irrtums-Knäuel - einen falschen Blick ins Universum eröffnet?“
Die alternativen Lösungsmöglichkeiten haben wir bereits genannt, und wir können nun festhalten: Im Spiritualismus-Fall ist es möglich, aus unserer Idee des Seins heraus zu einem doppelten Begriff der Wirklichkeit zu kommen:
a) das eigentliche Sein ist Bleiben, ist das sog. ewige Leben
b) unsere gegenwärtige Wirklichkeit ist aber Veränderung
Hierbei kann und muss diese Veränderungswirklichkeit nun als Durchgangsstation zum Sein selbst verstanden werden, und es löst sich das scheinbare Paradoxon auf, dass „Gegenwart“ eine „Konstante“ ist, die in sich selbst einem „Wandel“ unterliegt.
Und damit können wir den Heraklit-Satz nun doch uneingeschränkt verifizieren: „Alles ist im Fluss, sogar ich bzw. wir selbst.“ Und wenn wir selbst im Fluss sind, so muss geradezu gelten: Wir sind gegenwärtig noch nicht vollständig vor uns selbst offenbar (das Unbewusste), sondern wir sind uns selbst auch noch transzendent, so dass wir uns nicht als diejenigen festhalten oder festzurren dürfen, als die wir uns gegenwärtig erscheinen (das Bewusste plus das Unbewusste resp. Unerkennbare), sondern wir tragen noch ein Transzendierungs-Potenzial in uns (das Überbewusste): Wir können und sollen uns selbst in die Tiefe des Seins hinein transzendieren, solange, bis wir im Sein selbst herauskommen werden. Und dieses Selbstverständnis trifft auch auf Engel und Erzengel usw. zu, weil es das prinzipielle Selbstverständnis des Geistes als solchen ist. Sein Spezifikum, im Fluss stehend, ist: Ich bin vor mir selbst schon da, und zugleich bin ich noch nicht vor mir selbst da. „Vollständigkeit“ (Pleroma) ist erst in „Gott“ erreicht, dann ist der Werdeprozess zu Ende, und Gott (= das eine und einzige Sein) kann dann wieder sagen: „Auf ein Neues! Ich will mich (wieder) mit-teilen!“
Vgl. zum Terminus "Pleroma":
Artikel "Pleroma" (externer Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Pleroma) aus der freien Enzyklopädie "Wikipedia" (externer Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Hauptseite) und steht unter der Lizenz "Creative Commons CC-BY-SA 4.0" (externer Link: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/legalcode.de). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren des Artikels "Pleroma" verfügbar, dort unter dem Reiter "Versionsgeschichte". Abrufdatum des Artikels: 03.06.2024.
Artikel
"Pleroma" (externer Link: https://anthrowiki.at/Pleroma) aus der freien
Wissensdatenbank "AnthroWiki" (externer Link:
https://anthrowiki.at/Hauptseite) und steht
unter der Lizenz "Creative Commons CC-BY-SA 4.0" (externer
Link: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/4.0/).
In AnthroWiki ist eine Liste der Autoren des Artikels "Pleroma"
verfügbar, dort unter dem Reiter "Versionsgeschichte".
Abrufdatum des Artikels: 03.06.2024.
22. Die Philosophie suchte nach der verlorenen Weisheit, anstatt deren Verloren sein zu ergründen
Wir sind in Philosophie und Wissenschaften der verlorenen Weisheit nachgejagt, und herausgekommen ist ein wahnwitziges Vielwissen, das zu einem gleichsam abgekoppelten Pseudoleben, zu einer virtuellen, zumindest zersplitterten Existenz führte, die die so resultierende Wissensmenge gar nicht mehr bewältigen und nicht mehr konstruktiv in sich integrieren kann. Zugleich ist dieses Wissen nach außen gewandt, grundgelegt in der aristotelischen Gegenstandsauffassung, so dass wir die Ideen und Begriffe der Dinge im Draußen suchen, obgleich uns schon unser eigener Fahrzeugbauer hätte sagen können: „Meine Idee findet ihr nicht dort draußen am Fahrzeug, sie ist vielmehr in mir drinnen, in meinem Geiste.“ - Daneben steht unsere eigentliche Existenz, die wir - nach wie vor - nicht kennen, so dass wir heute noch weniger wissen, als in dem „sokratischen“ Satz zum Ausdruck gebracht wäre: „Wir wissen, dass wir nichts wissen.“ Und dieses Noch-weniger an Wissen, das wir hier und heute haben, ist nun unser Wissens-Anschein, den wir mit unseren Drumherum-Wissenschaften vor uns selbst über uns selbst erweckt haben und erwecken. Unser Wissen hat also, von Sokrates aus gemessen, abgenommen, nicht zugenommen. Genauer: Wir haben uns heute weit, weit entfernt von der kosmischen Weisheit, und wir haben als Ersatz unser Wissen erworben, das wir immer noch für einen guten Ersatz halten, obwohl es ein schlechter Ersatz ist, nicht einmal ein Notnagel, eher ein Sargnagel.
Stattdessen hätten wir – konkret aus dem Gang unserer Geschichte heraus und sozusagen im Vertrauen auf die vielleicht auch darin wirksame Weisheit – fragen können, ob und welcher Sinn darin liegen könnte, dass sich die Weisheitssphäre von der Menschensphäre zurückzog? Dann hätten wir nämlich auch auf die Idee kommen können, dass diese Weisheitssphäre nicht dauerhaft von uns weggeht, sondern nur vorübergehend, und dass ein Sinn und Zweck für Mensch und Menschheit damit verbunden ist, so wie es einen Sinn und Zweck hat, die Hand des Kindes vorübergehend loszulassen, damit es Gehen lernen und selbstständig werden kann. Aus unbedarfter Kindersicht heraus ist das Loslassen freilich „sinnlos“, und analog ist auch für uns das Schwinden der Geistwelt „sinnlos“ – womit wir bei der „Einstein-Wahrheit“ herauskommen: Wir dürfen Kind sein und Kind bleiben, denn eine tiefere Wahrnehmung des Ganzen des Seins ist uns ja doch nicht möglich, wie ja seit Kant dem Glaubwürdigen ein für alle Mal festgestellt ist…
Weder Sokrates noch Platon sind in der Anfangszeit des Denkens auf diese Idee einer Sinnhaftigkeit des Rückzuges der Weisheit gekommen, und bei Aristoteles (so vermute ich jetzt einmal, ohne ihn näher zu kennen) verliert sich auch schon dieses Streben nach und Zurückholen wollen der Weisheit gänzlich, und der Mensch beginnt stattdessen seine „Wissenschaft als Wissens-Behauptung“. Und über diesem nun fortlaufend zunehmendem Wissen verliert sich der Weisheitsverlust als solcher mehr und mehr aus unseren Augen.
Dennoch haben das anfängliche "Zurückholen wollen der Weisheit" und das spätere "Jagen nach Wissen" dies gemeinsam, dass sie eine aufgetretene Leerstelle füllen oder ein vorhandenes Loch stopfen wollen. Also praktizierten wir Menschen bereits seit den Anfängen der Philosophie schon das Löcherstopfen und Leckabdichten, ohne dass wir nach dem Grund des Vorhandenseins des Loches oder Leckes als solchen fragten, obwohl wir doch das „Fragen nach Ursachen“ unser eigenes Spezifikum nennen können und uns selbst auch als Fertigkeit zugutehalten?
Ein Loch ist ein Nichts, und ein Nichts kann keinen Sinn machen, so dachten wir, und so denken wir immer noch, einschließlich des spiritualistischen Loches „Nichtexistenz Gottes und der Geistwelt“ in unserer modernen Gegenwart. Diesen „großen Schwund“ oder dieses zwischenzeitlich sozusagen "vollständig gewordene Loch" nehmen die einen heute schlicht als geschichtlich gewordenes Wahrheits-Faktum hin, als hätte der Mensch sich früher eben einfach „geirrt“, während die anderen die Realität des Loches oder großen Schwundes einfach „unbeirrt“ bestreiten, sozusagen erfahrungsfrei oder auch geistesgeschichtlich unbeeindruckt.
Warum ist niemand darangegangen, dieses Loch, dieses Nichts als solches zu denken? Weil es Nichtsein hat und ein Nichtsein nicht gedacht werden kann? Aber es ist ja da – das Loch… Das Loch hat Dasein!?
Nun kenne ich wenigstens einen, der das Loch gedacht hat, das Loch ganz allgemein, Kurt Tucholsky. Zu Beginn seiner Glosse „Zur soziologischen Psychologie der Löcher“ sagt er:
„Ein Loch ist da, wo etwas
nicht ist. …. Loch allein kommt nicht vor…“
Externer Link zum Text: Kurt Tucholsky, Zur soziologischen Psychologie der Löcher, Projekt Gutenberg-DE - https://www.projekt-gutenberg.org/tucholsk/16satire/chap006.html, abgerufen am 23.03.2024
Tucholsky denkt das Loch, bezieht es sogar auf Philosophie und Religion, und denkt aber dann doch „daneben“ – bunt, vielfältig, pittoresk, literarisch, beiläufig, nicht ernsthaft, nur spaßeshalber. Er ist dicht dran an einer wesentlichen Erkenntnis und findet sie doch nicht, weil er - fälschlich - meint, sein Nachdenken und/oder sein Gegenstand sei etwas Unwesentliches, Unwichtiges, Unbedeutendes, daher nur zum Scherzen geeignet. Sein Gegenstand war aber wesenhaft, nur sein Umgang damit nicht. Er hatte eine wichtige und wesentliche Wahrheit vor Augen – und hat sie doch nicht gesehen…
23. Die Weisheit kam von selbst zum Menschen zurück
Nicht verwunderlich, dass die Problemlösung dann eine ganz andere war, als sie jemals von Menschen hätte gedacht werden können. Sie kam nämlich einige Jahrhunderte nach der klassischen Grundlegung der Philosophie von sich aus geistesgeschichtlich auf uns zu, in Form einer Botschaft an uns, aus dieser Geistwelt oder Weisheitswelt selbst heraus. Und das Merkwürdige ist, dass, obwohl die Problemlösung heute da ist, wir sie immer noch nicht als Problemlösung erkennen können, weil wir uns so schwertun, das eine mit dem andern zu verbinden, also die Dinge in rechter Weise zusammenzudenken, so dass ein "Reissverschluss" in Sicht käme.
Und deshalb muss uns jetzt auffallen, dass das, was im Physischen ein Klacks ist: das Zuziehen eines Reißverschlusses, im Geistigen die allergrößten Mühen bereitet, weil vor dem Schließen können erst einmal die Identifizierung der einen und der anderen Seite erfolgen muss, damit beide überhaupt aneinandergehalten und dann erst zugezogen werden können: Die archaische Weisheitssphäre kam mit dem „Evangelium“ aus der Geistwelt selbst heraus wieder auf den Menschen und die Menschheit zu. Und so ist die Bibel gegeben, um uns mit dieser (alten und ursprünglichen) Weisheit wieder zu verbinden.
Blicken wir nochmals auf Sokrates: Wenn er nicht nur den „Mann auf der Straße“ befragt hätte, sondern auch die „Frau in der Mysterienstätte“, dann hätte er vielleicht in Erfahrung bringen können, dass die den Menschen äußerlich umgebende Weisheitssphäre zuerst einmal verschwunden sein müsse, damit die Weisheit im Menschen wiedererstehen könne, aber nicht, um ihn erneut „zu umgeben“ wie früher, sondern um in ihn direkt einzuziehen, weil diese Weisheit zu seinem eigenen Geist werden soll, nicht ein Anderes bleiben, sondern sein Eigen werden.
Er soll innerlich Anteil bekommen, in gewisser Weise auch, um die Geistwelt zu entlasten, denn er kann dann das Ganze in rechter Weise aus sich selbst heraus mittragen, so dass er nicht mehr von ihr mitgetragen und mitgeschleppt werden muss, im Ewigkeitslauf der Dinge. Der Mensch soll keine Marionette des Seins sein, und er soll dies auch nicht sein wollen, er soll nicht kosmisch Kind bleiben – so die m.E. zu verstehende „Lektion des geistesgeschichtlichen Rückzuges der Weisheit“: Sie musste weichen, um den Menschen selbsteigen in sich mitaufnehmen zu können.
Warum nun hat Sokrates das Delphische Orakel über sich selbst nicht in Frage gestellt – nach seiner Manier, alles und jeden zu zerpflücken? Wäre es nicht „sokratisch“ gewesen zu fragen: „Wenn die Weisheit in der Menschenwelt nicht mehr da ist, wie kannst denn dann du – Orakel – noch weisheitsvoll darüber sprechen?“ - Wir tragen uns diese (von Sokrates nicht gestellte) Frage nun geistesgeschichtlich nach, und die Antwort liegt wohl darin, dass die Weisheit nicht zeitgleich und flächendeckend aus der Menschenwelt verschwand, sondern in sog. Mysterienstätten noch etwas länger Bestand hatte, indem die (religiösen) Dienerschaften der Orakel ganz bewusst noch solche anders gearteten Lebensbedingungen für sich selbst aufrechterhielten, mit welchen das archaische Hinauf- oder Hellsehen noch „länger als normal“ möglich blieb, zumindest eine Weile lang.
Umgekehrt wird dann auch der Einzug der Weisheit ins Menscheninnere nicht zeitgleich und flächendeckend erfolgen können, allein schon deshalb nicht, weil die Möglichkeit eines solchen Einzuges nun von den Individuen abhängt, von ihren je eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten, von ihrer jeweiligen Reife, auch von ihrer Bereitschaft und Empfänglichkeit. Und auch geistesgeschichtliches „Glück“ gehört dazu, nämlich den „Ort der Ankunft“ zu identifizieren. Und das ist der Geist, der – paulinisch gesprochen – nicht mehr unterscheidet zwischen Juden und Griechen, weil er beide gleichermaßen als zugehörig zu sich betrachtet. Alle menschlichen Individuen sind hier prinzipiell gleichberechtigt und gleichbegabt, auch wenn nicht alle an ein und derselben Raum-Zeit-Stelle stehen können, so dass faktisch eine individuelle – wohl auch gesellschaftliche - Ungleichzeitigkeit unvermeidlich sein wird, wobei die Begünstigteren auch die Verantwortlicheren sein werden und sind, die ihre größere „Macht zum Machen“ nutzen sollen, um nicht größere Schuld als die Anderen auf sich zu laden, indem sie die ihnen zugefallenen größeren gesellschaftlichen Handlungspotenziale vergeuden oder missbrauchen. Konkret ist es aber das eigene Denken des Individuums, das zum „eigenen Geist“ bereitet oder fortgeschritten sein muss, damit der Höhere Geist einziehen könne.
***
Und wenn wir nun auf diese "Botschaft" genauer hinblicken, auf ihr Gegeben-worden-sein, dann scheint sie gar kein „souveräner Selbstläufer des Himmels“ zu sein, und sie geht sogar einem möglichen Negativ-Schicksal entgegen, ihrer eigenen Nicht-Aufnahme, mit welcher sie im vorab aber schon rechnet; ansonsten wäre sie keine Weisheit. Zugleich hat sie eine ganze Reihe von Hürden des Irdischen zu nehmen, von denen wir uns einige vergegenwärtigen und listen wollen.
a) Die Weisheits-Botschaft wird die große Schwierigkeit zu meistern haben (auch heute noch), dass sie in das von ihr selbst verursachte geistesgeschichtliche Loch hineinsprechen muss, in der die direkte (hellseherische) Kommunikation zwischen himmlischem und irdischem Geist unterbrochen sein wird, so dass sich als Medium die Buchform, die Schriftlichkeit anbietet, mit welcher der Mensch geschichtlich rechtzeitig gelernt haben wird, umzugehen.
b) Dieses besondere Buch muss überhaupt gesellschaftlich-kulturell platziert werden, so dass es nicht ein Buch unter vielen sein wird, sondern von den Adressaten grundsätzlich richtig bzw. höherwertig gewürdigt werden kann, als ein erhaltener Schatz, nämlich als das allerwichtigste unter allen Büchern, als „das“ Biblion, als die Bibel.
c) Durch die Buchform ergibt sich beinahe zwangsläufig die schriftliche Fixierung eines Geistniveaus, doch soll der Mensch gerade in jenem „Zeitraum schriftlichen Geist-Wirkens“ eine geistesgeschichtliche Entwicklung seiner selbst durchlaufen können, so dass das Buch unmöglich „aus einem Guss“ sein kann, sondern eine Geistniveau-Dynamik in sich enthalten muss, ansonsten fehlte dem Menschen die Möglichkeit, durch die Lektüre geistig voranzukommen und in seinem Geiste Fortschritte zu machen (vgl. Lessings EdM).
d) Dieses besondere Buch kann also nicht plump einen Adressaten einer Zeit ins Auge fassen, sondern es muss die Potenz und Kraft enthalten, zugleich viele Adressaten vieler Zeiten und vieler Gesellschaften anzusprechen, so dass die Botschaft in der schriftlichen Form völkerneutral oder gesellschaftsoffen gefasst sein muss, damit mit gesellschafts- und staatenübergreifend fortschreitendem Reflexionsniveau des Menschen auch ein zunehmend tieferer Sinn der Bibel entnommen werden kann.
e) Als weitere Schwierigkeit ist zu meistern, dass damit zu rechnen ist, dass eine spirituelle Botschaft, selbst wenn sie in Buchform gegossen ist, bei den Menschen, die sich im materialistischen Loch befinden werden, kein Gehör mehr wird finden können, weil die Wirklichkeitswahrnehmung und Wirklichkeit der Menschen eine solche geworden sein wird, in der dieses Buch wertlos, unbrauchbar, überholt geworden zu sein scheint.
f) Die Botschaft muss also auch schon beizeiten losgeschickt werden, dann, wenn für den Menschen ihre Notwendigkeit noch keineswegs ersichtlich ist, weil das spirituelle Loch noch sehr klein ist und das Verschwunden sein der Geistwelt noch nicht als Faktum betrachtet werden kann (Philo-Sophia), um am Ende unter ihren fleißigen und kontinuierlichen Lesern doch noch ein paar Adressaten finden zu können, nämlich dann, wenn das Loch tief und groß und schier unüberbrückbar geworden sein wird – das ist hier und heute, bei uns.
g) Es muss also im Vorab ein geistesgeschichtlicher Kairos im irdischen Zeitenlauf für diese Botschaft bestimmt sein, der den menschlichen Geist in seiner Eigenentwicklung und Reifung zu kalkulieren vermag, so dass sich zwei geschichtliche Entwicklungen, die beide gewollt sind, noch überkreuzen und zusammentreffen können und sich nicht gegenseitig verfehlen wie Hyperbeln: Die „Entlassung“ des Menschen aus seinem Gehalten werden oder Gefangen sein in der Geistwelt einerseits, das ist die gerade dadurch ermöglichte Freiheitsbewegung des Menschen jenseits oder außerhalb der Geistwelt. Diese geschichtliche Passivbewegung der Loslösung aus der Geistwelt und Freilassung in die Sinnlichkeit muss mit der (zu erwartenden) geistesgeschichtlichen Aktivbewegung der Selbstständigwerdung des Menschen in seinem Denken und Geiste so abgestimmt sein, dass es dem Menschen möglich bleibt, im Zusammenhang mit seiner Denkentwicklung den absichtlich von ihm zurückgetretenen Spiritus in sein zunehmend abstrakt und tot werdendes Denken rechtzeitig wieder lebendig mitaufzunehmen, als kosmosoziale Verlebendigung seines Individuum- und Ich-geworden-Seins, für seinen vorgesehenen freien und bewussten (Wieder-)Eintritt in die Geistwelt. - Bildlicher gesprochen: Der geschichtliche „Rückzug“ der Geistwelt aus dem Irdischen muss mit dem geistesgeschichtlichen „Aufstieg“ des Menschen zum selbstständigen Geistwesen so getaktet sein, dass dem Menschen von der „öde gewordenen Erde“ aus gerade noch der Absprung in die sich bereits zentrifugal bewegende Geistwelt oder Geistgemeinschaft hinein möglich sein wird, ehe der Gedanke einer „Realität der Geistwelt“ irdisch vollends im Irrealen und Fiktiven „verpufft“ sein wird. Und wir sehen in unserer Gegenwart handgreiflich, wie ein solcher „Absprung in den Geist“ auch heute schon irrsinnig erscheint, also unmöglich geworden zu sein scheint, wenn das animal rationale die nötigen geschichtlichen und geistesgeschichtlichen Fäden und Zusammenhänge nicht zieht oder auch nicht mehr ziehen kann, weil sein Selbstverständnis schon allzu fern einem „Geistverständnis“ steht.
Meine Auflistung der Wenns und Abers ist nicht vollständig, reicht aber aus, um die himmlisch trübe Aussicht zu zeigen, die Vermittlung der Hoffnungs-Botschaft in die Menschenwelt könne faktisch ein hoffnungsloses Unterfangen werden, denn: Die Bibel baut auf die menschliche Vernunft! Sie setzt auf des Menschen Reflexions-, Urteils- und Selbstkritikfähigkeit, die zuletzt tief genug geworden sein muss, das spirituelle Loch in seiner Größe zu ermessen und dann auch in seinem „illusorischen Bestand“ zu durchschauen, um diesem falschen materialistischen Anschein, der eine ungeheure Sogkraft entfalten und den Menschen zunächst einmal erheblich seelisch schwächen und zurückwerfen wird, wieder entrinnen zu können.
Und ich will hier auf zwei Stellen im Werk des Anthroposophen verweisen, der aus seiner unzeitgemäß frühen Geistwahrnehmung heraus (sicherlich auch aufgrund seiner sog. Einweihung, aber wohl nicht nur) einen „Schreckens-Blick“ (so jedenfalls mein Eindruck) auf die Engel- und Erzengelwelt gegeben hat: Das neuzeitliche Heraufziehen des Materialismus im „Unterhalb des Himmlischen“ nahm und nimmt sich vom „Oberhalb des Irdischen“ aus betrachtet so aus, dass auch die Engel ihre „Wahrscheinlichkeitserwägungen“ oder „realistischen Einschätzungen“ anstellen müssen und zu großen Teilen zu dem Schluss kamen, die Menschheit werde wohl das vorgesehene Ziel ihrer Spiritualisierung doch nicht mehr erreichen können. Deshalb hat sich innerhalb der Engelwelt eine Spaltung ergeben. Die einen Engel sind „coelestisch“ geblieben, die anderen aber sind „terrestrisch“ geworden, soll heißen, die einen wollen nach wie vor den Menschen „heben“, die anderen haben entschieden, ihn „unten zu belassen“, nicht aus bösem Willen heraus, sondern um ihrer Aufgabe der Menschenbegleitung weiterhin gerecht werden zu können:
„Es ist jetzt so …, dass aus einem verhältnismäßig einheitlichen Reich der Angeloi ein zweigeteiltes Reich der Angeloi entsteht, ein Reich der Angeloi mit einem Zug hinauf in höhere Welten und mit einem Zug hinunter in tiefere Welten. Während sich hier auf der Erde die Bildung der Michael-Gemeinschaft vollzieht, können wir schauen über dem, was sich hier als Michael-Gemeinschaft vollzieht, aufsteigende Angeloi …, absteigende Angeloi … . Man kann eigentlich heute, wenn man tiefer hineinschaut in die Welt, diese Strömungen, die so etwas Herzerschütterndes haben, fortdauernd beobachten.“
(GA 237, S. 144, Neunter Vortrag Dornach vom 03. August 1924, dem man die Überschrift geben kann: Der karmische Einschnitt des Michael-Impulses mit Erstspaltung im Reich der Angeloi)
Diese Textwiedergabe
des Bandes GA 237 "Esoterische Betrachtungen karmischer
Zusammenhänge Bd. III" der Rudolf Steiner
Gesamtausgabe (deren Herausgabe dem Rudolf Steiner Verlag
obliegt) basiert auf der Werkbearbeitung einer älteren Ausgabe
dieses Bandes GA 237 (externer Link: https://steiner.wiki/GA_237), durch die freie
Literaturdatenbank SteinerWiki (externer Link:
https://steiner.wiki/Hauptseite), zum Zwecke der
kostenfreien Zugänglichmachung des Werkes Rudolf Steiners, und
steht unter der Lizenz "Creative Commons CC-BY-SA 4.0"
(externer Link: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/legalcode.de).
In SteinerWiki ist eine entsprechende Liste der Werkbearbeiter
zu GA 237 verfügbar, dort unter dem Reiter
"Versionsgeschichte". Näheres zur kostenfreien
Zugänglichmachung vgl. unter "Unser Anliegen" auf der
SteinerWiki-Hauptseite, abgegriffen am
03.06.2024.
Auf der Erzengel-Ebene nimmt sich dieselbe Angelegenheit, die der Anthroposoph auch „große Scheidung“ nennt (GA 237, S. 144) oder „die Zeit der großen Entscheidungen, jene große Krisis, von der eigentlich die heiligen Bücher aller Zeiten sprechen und die für unser Zeitalter im Grunde gemeint ist“ (GA 237, S. 140), so aus:
„Von allen diesen Engeln, deren sieben an der Zahl sind, haben sechs sich zwar nicht ganz – am meisten Gabriel, auch er nicht ganz -, aber doch sechs verhältnismäßig sehr stark sich abgefunden mit der Tatsache, dass die Menschen vor der Maja, vor der großen Illusion stehen, weil sie durch ihre Qualität, die nicht dem entspricht, wozu sie ursprünglich bestimmt waren, herabgestiegen sind von dieser ihrer ursprünglichen Gestalt. Einzig und allein Michael ist derjenige, der eben – ich muss mich, ich möchte sagen, banal ausdrücken – nicht nachgeben wollte und der mit denen, die Michael-Geister sind auch unter den Menschen, auf dem Standpunkte steht: Ich bin der Verwalter der Intelligenz. Die Intelligenz muss so verwaltet werden, dass in sie nicht eintritt die Illusion, die Phantastik, das, was den Menschen nur dunkel und nebulos in die Welt hineinschauen lässt.
Meine lieben Freunde, zu durchschauen, wie da Michael dasteht als der größte Opponent in der Erzengelschar, das ist ein ungeheuer erhebender Anblick, das ist etwas überwältigend Grandioses. Und jedesmal, wenn eine Michaelzeit da war, geschah auch auf Erden dieses, dass die Intelligenz als Mittel zur Erkenntnis nicht nur kosmopolitisch wurde, wie ich es schon dargestellt habe, sondern so wurde, dass die Menschen sich durchdrangen mit dem Bewusstsein: Wir können doch zur Gottheit hinauf.
…
Das war damals das Michael-Wort: Der Mensch muss zur Pan-Intelligenz kommen, zur Erfassung des Göttlichen auf der Erde in sündloser Form. Es muss verbreitet werden überallhin das Beste, was gewonnen worden ist, über die entmutigten Mysterienstätten hin, mit dem Mittelpunkte in Alexandrien. Das war der Impuls des Michael. Und dies ist eben das Verhältnis des Michael zu den anderen Archangeloi: dass er in der stärksten Weise protestierte gegen den Fall der Menschen.
Das ist aber auch dasjenige, was der wichtigste Inhalt seiner Lehre ist, wie er sie in jener übersinnlichen Lehrschule, von der ich letzten Montag gesprochen habe, den Seinigen beigebracht hat. Dieser wichtigste Inhalt ist der: Wenn nun die Intelligenz unter den Menschen sein wird, wenn nun die Intelligenz, entfallen dem Schoße der Michaeliten, unten auf der Erde sein wird, dann müssen die Menschen in diesem Michaelischen Zeitalter spüren, empfinden müssen sie, dass sie sich da zu retten haben, weil die Intelligenz nicht befallen werden darf von der Sündhaftigkeit, weil dieses Zeitalter der Intelligenz benutzt werden muss, um in reiner Intelligenz, frei von der Illusion, zum spirituellen Leben aufzusteigen.“
(GA 237, S. 125, 126f., Achter Vortrag Dornach vom 01. August 1924, dem man die Überschrift geben kann: Michaels interner und externer Kampf um die Sündlosigkeit der Intelligenz)
Diese Textwiedergabe
des Bandes GA 237 "Esoterische Betrachtungen karmischer
Zusammenhänge Bd. III" der Rudolf Steiner
Gesamtausgabe (deren Herausgabe dem Rudolf Steiner Verlag
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03.06.2024.
Mit diesen Zitaten durchbreche ich meine unausdrückliche Regel einer sachten Vorbereitung neu einzuführender Begrifflichkeit, jedoch aus gutem Grund, um über diese „höheren Blitzlichter“ zu zeigen, wie „kritisch“ heute über den Himmel „gedacht“ werden kann (und sollte!), wenn man ernsthaft in Erwägung zieht, Erkenntnisquellen heranzuziehen, die der eigenen Geistentwicklung weit voraus liegen. Auch will ich damit zeigen, wie leicht und schnell es passieren kann, den Anschluss an ein vom Menschen erreichtes Geistniveau zu verlieren, indem man mit dessen vorauslaufenden Begrifflichkeiten (und Selbstverständlichkeiten) nichts mehr oder noch nichts anfangen kann. Dieses Geistniveau entwickelt sich aber in sich weiter und entfernt sich damit zusehends von den eigenen Selbstverständlichkeiten. Und auf diese Weise kann es zu einer tiefen geistigen und kulturellen Spaltung der Menschheit kommen, wobei der eine Teil den inneren Anschluss an den anderen Teil verlieren und nicht mehr geistig folgen und nicht mehr mitgehen können wird; der Teil kann nicht mehr "mitkommen", und so muss er welt-, heils- und seinsgeschichtlich "sitzenbleiben" (wofür der Anthroposoph den Terminus "zurückgebliebene Wesenheiten" benutzt, die es wohl auf allen Lebensebenen oder Planen innerhalb der Geistwelt gibt - in der Zukunft dann auch auf dem Menschen-Plan).
In meinen „94 Thesen“ ist dies folgendermaßen ausgesprochen:
74. Die jeweils wahrhaftige oder eigentliche Gegenwart bewegt sich in die Zukunft hinein von uns fort, weshalb alle faktischen Teilkirchen sich auf die eine Gegenwart einlassen sollten, solange es zum Anschluss an den die Zeiten hinter sich lassenden Heiligen Geist noch nicht zu spät ist.
75. Traditionsauflösung ist notwendig, damit der Ankunft des Herrn Platz geschaffen wird.
76. Und sie wird die Schattenseite oder den Preis haben, daß überall dort, wo der Glaube nicht Bestand [Substanz?] hat, auch noch alle alte, interime Gottesbeziehung verlorengehen wird.
77. Die civitas terrena wird geprägt sein durch radikalen Verlust der re-ligio.
78. Der Mensch der Erde wird in völliger Traditionsvergessenheit leben, in einem blanken Hier und Jetzt, abgeschnitten von seiner geschichtlichen Wirklichkeit.
79. Weil er sich selbst nicht mehr geschichtlich relativieren können wird, wird er sich in seiner Gegenwart absolut setzen.
Ich fahre fort.
Und wenn wir uns dieses Engelhandeln auf unsere Menschheitsebene herunterübersetzen wollen, so besagt es: Nur ein Teil der Engel glaubt überhaupt noch an eine spirituelle „Rettung des Menschen“, der andere Teil hat – …das Evangelium aufgegeben! Er ist dazu übergegangen, den irdischen Materialismus als irreversibles Faktum zu betrachten. Und so begleiten diese Engel „ihre Menschen" dahingehend, ihre Ungeistigkeit und ihre Über-Iche beizubehalten und sie im Status geistiger Unfreiheit zu belassen, wodurch diese bis auf weiteres nicht zu Geistwesen werden aufsteigen können.
Man müsste hier eingehender die Kausalitätenfrage aufwerfen. Die Bibel spricht ja auch schon von einer kommenden Scheidung, von einem Mitgenommen und Zurückgelassen werden, ebenso wie von der Macht des Irrtums. Diese Entwicklung ist daher nicht als ein Versehen, nicht als Irregularität anzusehen. Dann kann aber auch die Spaltung der Angeloi keine „kurzfristige“ Entscheidung (ab der beginnenden Neuzeit) sein, sondern sie muss eigentlich als „regulär“ bezeichnet werden, als in der Ordnung befindlich… Auch die Bemerkung des Anthroposophen, von der großen Krisis sei von jeher in allen Religionen die Rede gewesen, weist in diese Richtung.
Wir halten fest: Der Himmel hat sich (inzwischen) so sehr von der Menschenwelt entfernt (oder auch umgekehrt die Menschenwelt vom Himmel), dass es nun faktisch in die Hände des Menschen gelegt ist, diesen Himmel als Realität zu erweisen und in seine eigene Welt wieder hereinzuholen, und im selben Akt holt der Mensch sich selbst in die Geistwelt hinein und holt er sich selbst überhaupt erst in seiner grundsätzlichen Geistigkeit ein.
Man kann das Evangelium daher auch ein Experiment der Geistwelt mit dem Geiste des Menschen nennen: Hineingeführt werden in ein irdisches Wirklichkeits-Loch (Macht des Irrtums oder Materialismus), mit der Intention, der Mensch möge darin geistig zu sich selbst finden, unter Zuhilfenahme der ihm mit auf den Weg gegebenen Denk-Gebrauchsanleitung, mit der Intention, der Mensch (oder wenigstens ein Teil der Menschheit) möge die Kraft und den Mut und den Willen finden, aus seiner Isolation und Vereinzelung heraus seine Wiederverbindung mit der kosmischen Wirklichkeits-Fülle (Sogkraft des Wahrheitsstrebens oder Spiritualismus) zu suchen und zu finden.
Grundsätzlich gilt hierbei: Der Mensch muss dies nicht gänzlich aus eigener Kraft leisten, aber es wird eine Zeit kommen, in der er dies von sich selbst glaubt oder gar zu wissen meint. Es wird ihm aber geholfen werden, und so soll ihm dies auch schon im vorab gesagt sein, damit die menschliche Vernunft – wenn sie entwicklungskonform so weit und zu „ihrer Reife“ oder „Prüfungszeit“ gekommen sein wird - ihr eigentliches Ziel erreichen kann (und nicht verfehlen muss), den Menschen in ein in sich selbst gründendes Geistwesen umzuwandeln, das dann, obwohl es noch der irdischen Schwerkraft unterliegt, zu einer freischwebenden, kosmischen Existenz übergehen wird und seinen vorgesehenen Platz unter den himmlischen Hierarchien einnehmen können wird: die Menschen und Menschheit als neu hinzugekommene, souveräne oder autarke Geistes-, Handlungs-, Wirklichkeitsebene in der hierarchischen Vielfalt des kosmischen Seins.
Denn dies ist auch schon das Ziel der vorübergehenden Entfernung der Geistwelt vom Menschen: Er soll substanziellen Zugang zu ihr finden, nicht länger bloßes Anhängsel anderer, höherer Geistwesen bleiben und nicht länger ein religiöses Rockzipfeldasein führen. Er soll in ihren hierarchischen Reihen zu einem subsistierenden Dasein aufsteigen und seinen relativen Platz im Ganzen des Seins finden und einnehmen, nicht länger einfach nur ontologisch mitgeschleppt werden, als sei er einer menschlich-menschheitlichen Eigenaufgabe und selbstständigen Wirkens- oder Wirklichkeits-Ebene nicht würdig oder auch nicht fähig.
***
Diesen Abschnitt zusammenfassend: Der Mensch muss also gar nicht einen Weg aus seiner Menschensphäre gehen, sei es hinaus in den Kosmos oder hinein in die Sinnlichkeit, sondern er muss den vielfältigen Wegen der Weisheit zurück in seine Menschensphäre aufmerksam folgen, und er kann ihnen sogar geistesgeschichtlich zusehen, wenn er die angedeutete Reißverschluss-Problematik mitbedenkt und wenn er kein naives Bild des Spiritualismus hat, sondern ihn geschichtsdialektisch zu denken versucht (und alle Erkenntnisquellen nutzt, die ihm zur Verfügung stehen).
Dieselbe Nichtnaivität gilt auch für den Umgang mit der Bibel, denn wer mit einer naiven Geistigkeit hineinblickt, muss sich nicht wundern, wenn sich auch eine naive Geistigkeit herausspiegelt. Dann ist aber nicht die Bibel in ihrem Geist erfasst, sondern nur der eigene Geist, dessen Denkbemühung und Reflexionsvermögen sich durchaus in „bescheidenen“ (bis unseriös-unernsthaften) Grenzen hält, wie der halbherzig reflektierende Mensch ja im Grund genommen selbst weiß, oder zumindest wissen kann, wenn er Intensität, Fleiß und Wert seiner diesbezüglichen „Denkbemühung“ selbstkritisch und realistisch ermisst. Allerdings muss man dann auch den Erkenntnismut haben zu sehen, dass Theologien und Kirchen weit, weit hinter dem Gehalt der Bibel zurückstehen, und so darf man nicht den Fehler machen, hypothetisch anzunehmen, Theologien und Kirchen seien imstande, die Bibel in ihrer vollen Tiefe (jetzt schon) zu ermessen. Diese Annahme wird aber weithin gemacht, und deshalb kommt das Urteil heraus: "Die Bibel kann unmöglich Wahrheit enthalten." - Und was ist die Lösung dieses Dilemmas? Ganz einfach: sola scriptura, soll heißen: "Schau lieber selbst hinein" (womit wir freilich auf theologischer Ebene beim von mir zuerst angeprangerten "Misstrauenskriterium der Nachprüfbarkeit" herauskommen, welches ich dann aber doch noch zurückgenommen habe, in der Anmerkung, es könne schlicht Ausdruck einer Nichtanerkennung von Geistautorität sein).
Alle philosophischen Rückholversuche der Weisheit mussten solange zum Scheitern verurteilt bleiben, bis der Kosmos selbst diese Rückholung in die Hand nahm und initiierte, was wenige Jahrhunderte nach dem eigentlichen Denkbeginn tatsächlich erfolgte. Leider ist die Problemlösung bis heute nicht erkannt, weil der (geistig-spirituelle) Lösungsweg als solcher bestritten wird oder nicht gesehen werden kann.
Es scheint nämlich, von unserer derzeitigen Misere-Situation aus gesehen, als müsse die Vernunftebene nun Zuflucht zum Glauben nehmen, um weiterhin ein höher Wirkliches überhaupt annehmen zu können (dies sei nun die "Kant-Doktrin" genannt, die Negativ- oder Ideologie-Konnotation versteht sich von selbst, resultierend aus seinem - zweckdienlich formulierten und eingeführten - Wissens-Glaubens-Slogan). Doch ist eine derartige Zuflucht seit der Aufklärung (in Verbindung mit Religionskritik und Psychoanalyse) nicht mehr akzeptabel, nicht mehr möglich.
Was kann in dieser Verdrehungs-Situation getan werden? Richtig wäre nun, den Terminus „Glauben“ zu überprüfen, was er denn eigentlich besage, um nicht einen „halb verstandenen Glaubensbegriff“ als Argumentation bzw. Gegenargumentation zu benutzen und aus diesem Irrtumswissen heraus falsche Schlüsse zu ziehen, wie ja auch unter "0. Einleitung - 1. Die Philosophie in der Existenzkrise" formuliert wurde, es bestünde die Möglichkeit, dass die Philosophie gar nicht gesehen werde, indem man sich mit einem falschen Bild von ihr begnüge, von welchem man zugleich glaube, es sei das wahre Bild?
Was ist das – der Glaube, und zwar im biblischen Sinn? Er ist ein uns vorweg genommenes Wissen, also ein Wissen, das uns als Wissen zunächst noch nicht zugänglich ist, und trotzdem wird es uns gleichsam im Vorab gegeben, damit unsere Vernunft und unser Denken einen rechten Anhaltspunkt, eine wahrheitsgemäße Orientierung, eine richtige Reflexions-Haltestelle habe. Freilich kann der Glaube nur dann so aufgefasst werden, wenn man anerkennt, dass es uns überlegene Geistwesen gibt, die ein fortgeschritteneres, höheres Wissen besitzen als wir.
Und da dies philosophisch gesehen offenbleiben soll und muss, kann dann auch aus der Philosophie heraus in den Glauben hineingedacht und denkanleitungstechnisch darüber hinausgedacht werden.
Und dieses höhere Wissen, das wir der kosmischen Weisheit zuordnen können, ist in der Bibel bereits enthalten, aber in einer solchen Form, die unserer Vernunft gemäß ist bzw. auf unser Vernunftvermögen eingehen will und zugeschnitten ist, um es in sich selbst herauszufordern oder zu entwickeln. Deshalb unterscheidet Lessing zwischen „Vernunftswahrheiten“ und „geoffenbarten Wahrheiten“, weil die in der Bibel enthaltene Übervernunft von uns erst eingesehen werden muss, damit sie zu einem späteren Zeitpunkt in „unser Wissen“ überführt werden kann und nicht oberhalb unseres Verstehens bestehen bleiben muss.
„…die Ausbildung geoffenbarter Wahrheiten in Vernunftswahrheiten ist schlechterdings nothwendig, wenn dem menschlichen Geschlechte damit geholfen seyn soll. Als sie geoffenbaret wurden, waren sie freylich noch keine Vernunftswahrheiten; aber sie wurden geoffenbaret, um es zu werden. Sie waren gleichsam das Facit, welches der Rechenmeister seinen Schülern voraus sagt, damit sie sich im Rechnen einigermaassen darnach richten können. Wollten sich die Schüler an dem voraus gesagten Facit begnügen: so würden sie nie rechnen lernen, und die Absicht, in welcher der gute Meister ihnen bey ihrer Arbeit einen Leitfaden gab, schlecht erfüllen.“ (EdM § 76)
Externer Link zum Text: G.E. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, § 76, Projekt Gutenberg-DE - https://www.projekt-gutenberg.org/lessing/erziehng/erziehn2.html, abgerufen am 23.03.2024
Was meint Lessing damit: sich mit dem „vorausgesagten Fazit begnügen“? Eine theologische oder kirchliche „Dogmatik der Offenbarung“ zu entwickeln, die es versäumt, mit der eigenen Vernunft in das Geoffenbarte hineinzugehen und es verständnisvoll zu durchdringen. Mir scheint, deshalb ist das scholastische Programm eines „fides quaerens intellectum“ kirchlich und theologisch unerfüllt geblieben. Und nur die Philosophie, die das menschliche Vernunftprinzip in sich trägt und entwickelt, vermag diese Auflösung zu geben, nur dass man das Schlagwort dann umdrehen muss – „intellectus quaerens fidem“. Oder man sagt, die Philosophie frage aus einem anderen Glauben heraus, nämlich der in sich offen gehaltenen Möglichkeit, aus sich selbst heraus zu höherem Wissen kommen zu können, weil eine innerlich-ursprüngliche Verbindung zu Gott die menschliche Existenz bereits konstituiert und die Offenbarung dann lediglich als Explizierungshilfe anzusehen ist, so dass der Mensch sich aus sich selbst heraus sehen lernen und entfalten kann.
24. Europäische Entkolonialisierung (Genesis 1) und menschheitliche Entnominalisierung (Genesis 2)?
Wenn wir nochmals auf den biblischen Herrschaftsauftrag an den Menschen in Genesis 1 hinblicken, so scheint er mit der neuzeitlich-europäischen Epoche der Menschheitsgeschichte nicht nur erfüllt worden zu sein, sondern im Nachgang hat sich Europa (mit seinen außereuropäischen Ausläufern) politisch gesehen – und dies scheint mir bemerkenswert – als besonnen erwiesen, durch eine weltweit praktizierte Entkolonialisierung, die das Ende eines national-imperialistischen politischen Handelns und kolonialen Herrschens (von Menschen über Menschen bzw. Staaten über Staaten) einleitete, in welchem sich insbesondere der europäische Nachzügler „Deutschland“ nationalistisch-negativ, auch überheblich und schlimmer hervorgetan hatte („Deutschland, Deutschland über alles in der Welt“). Als Zäsur kann der Zweite Weltkrieg betrachtet werden, von den Deutschen angezettelt, zugleich ehrlos-lügenhaft vor sich selbst verleugnet (Stichwort: „Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!“), und – glücklicherweise - verloren.
Der Ausspruch "Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!" fiel im Rahmen einer Rede von Adolf Hitler vor dem Berliner Reichstag am 1. September 1939, mit welchem der deutsche Angriffskrieg als Verteidigungskrieg ausgegeben wurde. Externer Link zum Kontext: https://www.lpb-bw.de/beginn-zweiter-weltkrieg, abgerufen am 13.06.2024.
Damit scheint der Weg freigegeben für ein angemesseneres, wahreres Verständnis des biblisch ergangenen Herrschaftsauftrages, der explizit nur auf die Tier- und Pflanzenwelt bezogen ist (Gen. 1,28ff), wobei uns heute bewusst geworden ist, dass Gott vielleicht auch das „Klima“ als schützenswert hätte kennzeichnen sollen? Aber das Klima gehört zur Lebensgrundlage sowohl der Tiere als auch der Pflanzen und auch unserer selbst, so dass seine „Schutz-Würdigkeit“ – so mag Gott gedacht haben – sich für ein animal rationale schlichtweg von selbst verstehen muss, also nicht eigens zu erwähnen sei, wenn anders der Mensch doch nicht ernsthaft jemals so dumm werde sein können, dass…
Gen. 1,28ff:
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abgerufen am 04.04.2024.
Nach meiner Überzeugung haben die Europäer erkannt, dass im Verlaufe des 20. Jahrhunderts ein „Ende“ eingetreten ist. Und seither wird eine politische Haltung des Innehaltens praktiziert, ein verhaltenes Handeln auf Sparflamme, ein Tun der Ratlosigkeit, gleich einem Wissen des Sich Befindens in einem weltgeschichtlichen Interim, dem der Blick für ein Neues, konstruktiv Weiterführendes noch fehlt. Die Globalisierung ist europäisch-neuzeitlich zwar erreicht, aber – „Wie soll es denn nun weitergehen?“
In Genesis 2 sehen wir dem Menschen eine Benennungserlaubnis zuerkannt (Gen. 2,19f), die allerdings auf die Tierwelt beschränkt ist, und Gott interessiert sich ausdrücklich dafür, so wird dort berichtet, wie der Mensch denn nun dieses Benennen praktizieren werde? Und wir können uns heute, im Nachgang, auch hier wiederum die Frage stellen, ob wir nicht auch diese Benennungserlaubnis, die sich auf unseren unmittelbaren Lebensumkreis zu beziehen scheint, maßlos, geistimperialistisch übertrieben haben, nicht anders als den Herrschaftsauftrag?
Gen. 2,19f:
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Wir haben inzwischen auch die Erfahrung gemacht, dass unser „Wissen“ sich faktisch als Störfunktion auf die „Weisheit“ der Natur und des Kosmos auswirkt. Worin besteht aber dieses unser Wissen? Es besteht in einer begrifflich-sprachlichen Ausdifferenzierung sowohl unseres näheren als auch unseres ferneren Umkreises, also in einem „wissenschaftlichen“ Benennen der Dinge.
Und deshalb können wir nun weiterfragen, ob nicht der bereits vollzogenen Entkolonialisierung auf politischer Ebene auch noch eine Entnominalisierung auf wissenschaftlicher Ebene entsprechen sollte? Indem unsere wissenschaftliche Inbesitznahme der Dinge auch nichts anderes gewesen ist als eine Imperialisierung und Überfrachtung der Dinge, Überlagerung der „Weisheit“ durch unser „Wissen“, insbesondere durch seine rücksichtslose Anwendung, im Schlagen von Wunden, von ausprobierenden Wissens-Breschen in den in sich rund laufenden Weisheits-Organismus hinein?
25. Vom Untergang des wissend gewordenen, aber weisheitslos gebliebenen Menschen
Und nun kann ich an den Anfang dieses Textes zurückkommen, in welchem ich zu zeigen versuchte, wie jene „Erkenntnis-Unternehmung“, welche ursprünglich die verloren gegangene Weisheit wieder zu erlangen versuchte, nämlich die Philo-Sophie, bald schon ins Abseits geriet durch die mit großem Impetus und gewaltiger Dynamik aufstrebenden Wissenschaften, die die Philosophie-Mutter als ihren Ursprung und Mittelpunkt aus dem Auge verloren und schließlich ganz vergaßen und hierbei ihre je eigenen Begrifflichkeiten und Fachsprachen entwickelten, von welchen sie – ungebrochen bis heute – glauben, dass sie nicht nur etwas Wichtiges und Wesentliches zutage fördern, sondern sich auch auf der Höhe der Zeit oder am Pulsschlag des Seins bewegen und damit nicht bemerken, dass es nur ihr übertriebener, vor dem Infarkt stehender eigener Pulsschlag ist, der heute hitziger denn je ist, wenn man mit ansieht (oder ansehen muss), wie sich Studenten oder Studentinnen heute in ihr Studium hineinstressen müssen, um ein ihnen – irrsinnig – abverlangtes Arbeitspensum erledigen zu können, das ernsthaft kaum mehr Zeit zum bloßen Durchschnaufen lässt, geschweige denn Zeit zum Nachdenken (und Überprüfen der Richtigkeit und Sinnhaftigkeit des eigenen Handelns) lässt? Und bloß, weil vielleicht ein enthusiastisch aufstrebender Doktorand möglichst viel (andere) Kräfte in „Sich und das Seine“ einzubinden gewillt ist, um möglichst viel für „Sich und das Seine“ aus dem sozialen Gesamtorganismus „herauszuschlagen“, rücksichtslos gegenüber den Anderen? Weil es doch schließlich auf „das Seine“ ankommt und ankommen wird, nicht auf das der Anderen?
Ist es heute nicht noch mehr indiziert, diese „zeitlich-terminliche Pressung des Menschseins“ besser zu verlassen und nicht mehr mitzumachen? Denn es soll doch der Mensch sein, der die Wissenschaft betreibt, nicht umgekehrt? Wird hier nicht sowohl die „Zeit“ als auch die „Wirklichkeit“ in Wahrheit abgrundtief verfehlt und ignoriert – und dies methodisch-systematisch, weil irgendwelche „Wissenschafts-Individuen“ sich vorgenommen haben, in ihrem kurzen Leben viel erreichen zu wollen? In Klammern: Sie haben das Ganze des Seins bereits im Prinzip durschaut und verstanden und sich selbst und ihr eigenes Arbeits- und Lebensziel darin punktgenau positioniert, bis ins anvisierte Ziel ihres Eigenruhms und Eigenansehens und Eigen-Gutstehens und Eigen-Wohlstandes hinein?
Die heute resultierende Überlagerung der (unbekannten) Weisheit durch unser (bekanntes) Wissen ist spiegelbildlich abgebildet in der Überlagerung der Philosophie durch die Wissenschaften.
Und damit kann die Philosophie konstatieren, dass unserer Wissenschaft nach wie vor dasjenige fehlt, was im politischen Bereich längst eingetreten ist: Besonnenheit, Zurücknahme ihrer selbst, Innehalten, Raum finden zum Nachdenklich sein und - Nachdenken über sich selbst in ihrem Gegenwartsweg, über die Richtigkeit oder aber Fragwürdigkeit des eigenen geschichtlich und geistesgeschichtlich gegangenen Weges.
Vor allem auch deshalb spreche ich von einem „ABC-Versuch“ und halte eine solche europäisch-menschheitliche Entnominalisierungs-Unternehmung für dringlicher als alles andere in der Welt, denn:
„Die Praxis sollte das
Ergebnis des Nachdenkens sein, nicht umgekehrt.“
(Hermann Hesse,
Lektüre für Minuten, hrsg. Volker Michels,
suhrkamp taschenbuch 7, 16. Auflage, Frankfurt am Main 1971, S.
63, Nr. 153)
Und ein Geistwesen wie der Mensch hat eine doppelte Handlungspraxis, die er aber als solche erst einmal zu erkennen hat: Die übliche Handlungs- und Lebens-Praxis, die im Großen zur Politik wird, und darüber hinaus sein Handeln im Erkennen, das im Großen zur Wissenschaft wird.
Und hier scheint mir der blinde Fleck unserer Wissenschaft zu liegen, den sie auch wissenschaftstheoretisch nicht füllen und nicht wegbekommen kann, weil sie ihn in ihrem wissenschaftstheoretischen Blick ja beibehält und einfach nur wiederholt, so dass er als Fleck oder Loch gar nicht in Erscheinung tritt.
In diesem blinden Fleck sitzt nun aber die Philosophie, zusammen mit dem langsam, aber sicher untergehenden Menschen, von den glorreichen, ungebrochen-selbsterfahrungsfrei, hoffnungsvoll-neuzeitlich gebliebenen Wissenschaften ins Abseits ihrer selbst verstoßen, in ihren hochdringlichen Hochgeschäftigkeiten resp. ihren völlig übertriebenen Wichtigtuereien, womöglich solange, bis diese unsere Menschheit vollends aufgehört haben wird, Puls zu haben…
26. Der „Name“ als äußerliche und innerliche Benennung
Warum interessiert Gott sich von Anfang an mehr für das Wissenschaftshandeln des Menschen (Benennungserlaubnis), dem er zusehen will, als für sein politisches Handeln (Herrschaftsauftrag)? Weil der Mensch als animal rationale den Grundsatz-Auftrag der Selbsterkenntnis hat, der ihm aber nicht gesagt werden kann, weil es ansonsten ja keine Selbsterkenntnis mehr wäre. Die Selbsterkenntnis betrifft den Menschen nicht nur selbst, sondern sie muss von ihm auch selbst gewollt und zustande gebracht werden. Sie muss automatos erfolgen – ganz von selbst, aus sich selbst heraus. Niemand mischt sich hier in den Menschen hinein, entweder kommt er zu ihr aus sich selbst heraus, oder aber sie kommt einfach nicht zustande.
Gott beobachtet den Menschen interessiert in seiner Benennungstätigkeit, denn benannt wird ja nicht nur das Andere, die Welt, sondern der Mensch benennt auch sich selbst, und auch Gott. Die Frage ist also – bezogen auf den stillschweigenden Selbsterkenntnisauftrag -, ob es dem Menschen gelingen werde, sich selbst beim Namen zu nennen?
Und in der Entkolonialisierung zeigt sich, dass der Mensch in seinem politischen Handeln erkannte, sich selbst verfehlt zu haben. Und in der fehlenden Entnominalisierung zeigt sich, dass der Mensch in seinem wissenschaftlichen Handeln immer noch nicht erkannte, dass er sich selbst verfehlte; hier muss erst die Philosophie (zurück-)kommen und der Wissenschaft sagen, dass sie das Selbst aus sich selbst gänzlich eliminierte, also ihre eigene Möglichkeitsbedingung einer Selbsterkenntnis in sich aufhob.
Diese stillschweigende Aufgabe, sich selbst beim Namen zu nennen, kann nicht schon in der Genesis abgehandelt werden, sondern sie erstreckt sich über unsere komplette Geistesgeschichte, ja, auch über die Gegenwart hinaus, bis in die Zukunft der Offenbarung des Johannes hinein.
Und so ist es der Terminus „Name“, biblisch verwendet, mit dem etwas Geheimnisvolles und zugleich ganz und gar Wesenhaftes verknüpft zu sein scheint. Und wir könnten die Bibel nun durchstöbern, wo sie wie diese Thematik aufgreift, z.B.:
„Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöset; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“ (Jes. 43,1, von mir entnommen der Bach-Motette „Fürchte dich nicht“)
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externer Link: https://www.bibleserver.com/LUT.EU/Jesaja43,
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Beim Namen gerufen zu werden, ist normalerweise eine unproblematische, eine sofort zu erledigende und eine schnell erledigte Sache: Ich werde gerufen -> Ich reagiere und antworte. – Hier aber, in der biblisch gemeinten Existenzialität des Menschen, ist die Situation eine ganz andere und kompliziertere: Abgesehen davon, dass im obigen Zitat Israel als Ganzes gerufen wird, liegt eine Störungs- oder Bedrängnissituation zugrunde, die den Pol „Israel“ betrifft, die aber der Pol „Gott“ als prinzipiell bereits gelöst kennzeichnet: Furcht ist nicht erforderlich, denn die Lösung oder Erlösung ist bereits geplant bzw. göttlich vorgesehen. Und nun folgt der Satz „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen“, der als solcher in die Zukunft verweist, auf ein Wirkliches, das noch nicht da ist, von Israel selbst noch nicht erkannt und noch nicht umgesetzt. Die Aussage wird an späterer Stelle präzisiert:
„Und du sollst mit einem neuen Namen genannt werden, welchen des HERRN Mund nennen wird.“ (Jes. 62,2)
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externer Link: https://www.bibleserver.com/LUT.EU/Jesaja62,
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Dieser „neue Name“ bezieht sich auf das Gelöst sein der „nationalen“ Bedrängnissituation, indem Israel nun „international“ anerkannt ist (V. 1-12).
Die Namensproblematik hat damit sozusagen eine interne und eine externe Bedeutung, und die Zukunft weist in Richtung Auflösung einer solchen Innen- und Außen-Unterscheidung, indem der interne gute Name Israels vor dem HERRN auch zu einem externen guten Namen vor den Völkern werden wird, der zunächst einmal aber ein solcher ist, dass Israel Furcht haben muss. – Das soll hier genügen, der Text ist damit noch nicht erschöpft.
Betroffen von dieser Namens-Problematik ist auch der Gottesname selbst, von dem wir im Alten Israel wissen, dass er nicht ausgesprochen werden durfte. Gott ist eine Grenze hinsichtlich des Benennens und Aussprechens.
Interessant ist auch, dass in der Genesis die Gottesbezeichnung Pluralform besitzt: nicht der El handelt, sondern die Elohim – ein Indiz dafür, dass ein „historisch authentischer“ Text zugrunde liegt, in welchen noch kein Monotheismus „hineingelehrt“ ist, in unseren Übersetzungen dann freilich schon.
אֱלֹהִ֑ים :
drittes Wort von rechts gelesen - externer Link: https://www.bibelwissenschaft.de/bibel/BHS/GEN.1.
Quelle: Biblia Hebraica Stuttgartensia, hg. v.
Karl Elliger und Wilhelm Rudolph, fünfte, verbesserte Auflage,
hg. v. Adrian Schenker, © 1977 und 1997 Deutsche
Bibelgesellschaft, Stuttgart, abgerufen am
04.04.2024.
Alle Erzengel tragen die Gottesbezeichnung im Namen: Micha-El, Gabri-El usw., und jeder hat seine eigene Bedeutung und Aufgabe; es wäre aber falsch, daraus den Schluss ziehen zu wollen, die Erzengel seien die Elohim.
Oder die Benennung des angeblich ersten Menschenpaares: Adam bedeutet als „Adamah“ die Menschheit, und Eva bedeutet als „Hawwa“ das Leben, so dass wir uns möglicherweise die tiefere Weisheit der Bibel mit einem „Adam und Eva-Märchen“ verdorben und unzugänglich gemacht haben – durch falsche Benennung. Man sollte daran sehen, dass eine Ent-Nominalisierung überfällig ist. Wir lesen falsch und verkürzen dadurch die biblischen Aussagen. Wir müssten sie in dem Geist lesen können, in dem sie verfasst wurden. Solange wir diesen Geist nicht wiederfinden, werden wir die Bibel aber nicht richtig lesen können. Wie lässt er sich finden?
Moses soll dem Volk einen merkwürdigen Gottesnamen kundtun: „Ich werde sein (, der ich sein werde)“ (Exodus 3,14 - Lutherübersetzung).
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אֶֽהְיֶ֖ה אֲשֶׁ֣ר אֶֽהְיֶ֑ה: ejeh asher ejeh - externer Link: https://www.bibelwissenschaft.de/bibel/BHS/EXO.3, Quelle: Biblia Hebraica Stuttgartensia, hg. v. Karl Elliger und Wilhelm Rudolph, fünfte, verbesserte Auflage, hg. v. Adrian Schenker, © 1977 und 1997 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart, abgerufen am 04.04.2024.
Und die Offenbarung des Johannes äußert sich wiederum sehr merkwürdig in Bezug auf Gott:
„Es soll hinfort keine Zeit mehr sein, sondern in den Tagen, wenn der siebente Engel seine Stimme erheben und seine Posaune blasen wird, dann ist vollendet das Geheimnis Gottes,...“ (Offb. 10,6f)
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externer Link: https://www.bibleserver.com/LUT.EU/Offenbarung10,
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Auch in der Offenbarung (die starke Bezüge zu Jesaja aufweist) ist von „neuen Namen“ die Rede, die nur die kennen, die sie empfangen (Offb. 2,17; vgl. oben die Zitate in Kapitel „F. Unser“, Unterabschnitt 12a). Und Jesus Christus, der diese Offenbarung gibt, spricht auch von seinem neuen Namen (Offb. 3,12), der in Verbindung gebracht ist mit dem Namen Gottes (der nachmalig – auch neuartig - ‚unter den Menschen wohnt‘) und mit dem Namen des neuen Jerusalem.
So scheint die Namensgebung und Benennungsproblematik fundamental das Ganze des Seins zu betreffen, alle darin befindlichen Wesen, und infolgedessen muss der Terminus „Identität“ (lat. idem – ebendasselbe) näher hinterfragt werden. Der Name – als Benennung einer Person - bezieht sich grundsätzlich auf ein und dieselbe Person; sie wird durch ihren Namen identifiziert, erkannt. Es ist aber ein äußerliches Erkennen, ein Identifizieren von außen, ein Unterscheiden des Einen vom Anderen. Kann Einer von allen Anderen unterschieden werden, so ist er damit „identifiziert“, aber streng genommen ist er dadurch noch nicht „erkannt“, lediglich unterschieden von allen Anderen oder aus allen Anderen herausgefunden.
Deshalb müssen wir auch von einem innerlichen Erkennen sprechen, und hier reicht das Unterscheidenkönnen nicht mehr aus, weil es nicht mehr auf das (von außen betrachtete) Anderssein ankommt, sondern auf das (von innen betrachtete) Eigensein.
Benennung und Name sind damit nicht nur eine Frage der Sprache, sondern auch eine Frage des Denkens und Erkennens, des Geistes in seiner „Identitätssetzung“. Und wenn wir das Ganze des Seins zusammennehmen, so hat eine falsche Identitätssetzung hier auch eine falsche Identitätssetzung dort zur Folge. Und betrachten wir den (stillschweigenden) biblischen Selbsterkenntnisauftrag als fundamentalkosmische Angelegenheit, so können wir – im Spiritualismus-Fall – unschwer erkennen, dass in falschen Selbst- oder Identitätssetzungen eine „Sünde wider den Geist“ begangen ist, die nicht vergebbar ist, weil das individuell handelnde Geistwesen hierbei sowohl sich selbst als auch alles Andere resp. alle Anderen in falschen Identitäten festhält, durch sein eigenes Urteil im eigenen Geist festgezurrt hat, ein Entscheiden und Handeln, in welches von außen nicht mehr eingegriffen werden kann! Das Individuum selbst hält falsche Seinsverhältnisse als wahr fest, und sie können ihm nicht berichtigt werden, weil es hierbei ja zugleich auch „seine Identität“ sich selbst gegeben hat, und zwar in seinem Geiste oder aus seinem Geiste heraus, und diese als sein Ich-Sein (inmitten des – korrespondierenden – Anderen der Welt), als seine Ich-Identität behauptet und lebt.
***
Betrachten wir unser (selbstverständliches) deutsches Wort „Gott“, so ist es abgeleitet vom germanischen „*g̑hū̌to- ‘angerufen’, zur Wurzel ie. *g̑hau-, *g̑hau̯ə- ‘rufen, anrufen’“ (siehe DWDS unten).
"Gott", in:
Wolfgang Pfeifer et al., Etymologisches Wörterbuch des
Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang
Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch
der deutschen Sprache, externer Link: https://www.dwds.de/wb/etymwb/Gott, abgerufen am
23.03.2024.
Gott ist also nicht primär eine (oberste) Person mit fester Identität, kein oberstes, allermächtigstes „Personen-Ding“ unter allen Dingen der Welt, sondern ein kommunikativer Bezug eines (niederen) Geistwesens zu einem (höheren) Geistwesen, welches nicht zugleich auch schon das „allerhöchste Wesen“ sein muss, es kann auch ein Engel sein, ein Bote Gottes, der angerufen wird.
Nehmen wir dazu eine Aussage oder Feststellung Franz Kafkas:
„Das Wort „sein“ bedeutet im Deutschen beides, Dasein und Ihm-gehören.“
Externer Link zum Text: Franz Kafka, Aphorismen - Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg, Projekt Gutenberg-DE - https://www.projekt-gutenberg.org/kafka/aphorism/chap003.html, Schnellsuche: kurz vor Mitte der Website, abgerufen am 23.03.2024
Betrachten wir diese Sprachbeobachtung bezogen auf den Menschen in seiner Existenz, so besagt sie: Im selben Moment, wo der Mensch im Sein steht, steht er auch schon im Bezug zu Gott. In Luthers Bestimmung der „Theologie“ ist dies zwar auch zum Ausdruck gebracht (vgl. insbesondere die sog. Coram-Relation bei Gehard Ebeling), allerdings mit der aus dem christlichen Glauben (und der lutherischen Ungnädigkeits-Befürchtung) resultierenden näheren Spezifizierung des Sünderseins des Menschen und seines Gerettet werdens durch Gott.
Dieser Text basiert auf dem Artikel "Coram-Relation" (externer Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Coram-Relation) aus der freien Enzyklopädie "Wikipedia" (externer Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Hauptseite) und steht unter der Lizenz "Creative Commons CC-BY-SA 4.0" (externer Link: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/legalcode.de). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren des Artikels "Coram-Relation" verfügbar, dort unter dem Reiter "Versionsgeschichte". Abrufdatum des Artikels: 23.03.2024.
Sie ist somit eigentlich unfähig zur „sachlich-beschreibenden“ resp. angstfreien Beobachtung, die dem AT insgesamt - natürlicherweise - näherliegt und so hier auch Kafka.
Nun können wir unsere Aufmerksamkeit diesem „Gehören“ zuwenden, das dreifach unterschieden werden kann: Ihm gehören – zu Ihm gehören – Gehör haben für Ihn.
a) Ihm gehören
… im Sinne von: sein Eigentum sein. Der entsprechende Gottesbegriff ist „der Mächtige“. Ihm steht der Mensch als ohnmächtig, hilflos, gänzlich abhängig gegenüber. Die adäquate Religiosität ist das Sich-in-den-Staub-werfen-vor-Gott. Ich bin nichts, Gott ist alles. Die menschliche Existenz ist in sich nichtig.
Allerdings finden wir auch im Neuen Testament eine solche Formulierung, im Johannesevangelium:
„Er kam in sein Eigentum, und die Seinen nahmen ihn nicht auf.“ (Joh. 1,11)
Lutherbibel,
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externer Link: https://www.bibleserver.com/LUT.EU/Johannes1,
abgerufen am 04.04.2024.
Der Satz rekurriert auf die zweite von Kafka genannte Bedeutung des Wortes „sein“, die ebenso schon in der genannten Jesaja-Stelle aufzutreten scheint: „Du bist mein“ (Jes. 43,1). Der zweite Satzteil des Johannes-Satzes zeigt aber auch, dass der Machtbegriff als solcher nicht angemessen ist, denn der Aussageschwerpunkt liegt auf der Beobachtung des Handelns resp. Nichthandelns der Menschen, womit gleichsam der Ausfall einer zu erwartenden menschlichen Reaktion festgestellt ist, die nicht nur "erlaubt", "zugelassen", sondern geradezu gewünscht oder sogar erhofft ist. - Der Ausdruck „in sein Eigentum kommen“ ist bemerkenswert und sollte näher erforscht werden (den diesbezüglichen theologischen Forschungsstand kenne ich freilich nicht).
b) Zu Ihm gehören
Dieser Sinn ist wohl gemeint in der betreffenden Jesaja-Stelle: „Du bist mein“ (Jes. 43,1), was nämlich besagen soll: Du bist mir wichtig, ich kümmere mich um dich und bin für dich da, denn du gehörst zu mir. Und dies ist ja auch die Hauptbedeutung des israelitischen Gottesbegriffs: „Ich-bin-da“, ein Satz, der als Existenzaussage auf jeden einzelnen Menschen zutrifft, wobei in der Gottesäußerung das „da“ wohl als „bei dir“ zu verstehen ist, während es als Menschenäußerung lediglich besagt: „Ich habe Dasein.“ Und daher können wir uns den Menschen in seiner Existenz nach der Kafka-Aussage gewissermaßen auch übersetzen in: „Indem wir da sind (= Dasein haben), ist ER auch schon für uns da (= zu Ihm gehören).
Der entsprechende Gottesbegriff ist „der Sorgsame“ usw. Und mir scheint, damit haben wir das gegenwärtige (auch christliche) Religionsverständnis vor uns, so, wie es in der „zeitgemäßen“ Predigt wieder und wieder und wieder, und nochmals und nochmals und nochmals wiederholt wird – warum? Weil man Gott offensichtlich nicht anders verstehen kann, oder auch nicht verstehen will: Gott ist der Sorgsame – dies ist das Ende und die Quintessenz aller Gotteserkenntnis…? - Es sollte der Theologie und Kirche der Gegenwart schon zu denken geben, dass ich sie hier unter b) subsumiere und noch ein c) in petto habe…
Wenn die lutherische Frage „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“ authentisch ist, so ist Luther in seinen Anfängen hinter das alttestamentliche Gottesverständnis zurückgefallen, denn dort ist von einem helfenden, rettenden Gott die Rede, für Israel, als für „die Seinen“, während sein Zorn „die Anderen“ betrifft. Und folglich kommen wir in der Gegenwart in einem alttestamentlichen Gottesverständnis der Sorgsamkeit Gottes heraus. Diese wird gepredigt, und nach meiner Auffassung bedeutet dies, dass unsere Theologie(n) und Kirche(n) das Neue Testament auch heute noch nicht angemessen lesen resp. verstehen können.
c) Gehör haben für Ihn
Im Wort „gehören“ steckt neben den beiden genannten auch noch die dritte Bedeutung des „Gehör habens“ im Sinne von „hören können“ und „wahrnehmen können“.
Vgl. "gehören" und
"hören", in: Wolfgang Pfeifer et al.,
Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993),
digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version
im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache,
externe Links: https://www.dwds.de/wb/etymwb/geh%C3%B6ren,
und https://www.dwds.de/wb/etymwb/h%C3%B6ren,
abgerufen am 23.03.2024.
Und wir erinnern uns an den ostinaten Satz der Offenbarung „Wer Ohren hat, der höre“. Da der Mensch natürlicherweise sinnliche Ohren zum sinnlichen Hören hat, muss dieser Satz etwas anderes meinen: ein geistiges Hören, das der Mensch nicht schon natürlicherweise besitzt, sondern das er sich im Geiste erst erwerben muss, als neues geistiges Organ der Wahrnehmung eines Neuen oder einer neuartigen Wahrnehmung. Und wir sind auch bereits auf Bibelstellen gestoßen, die anzeigen, dass die Entwicklung der Menschheit in die Zukunft hinein nicht automatisch wahrnehmbar ist, sondern auch unwahrnehmbar bleiben kann, dann nämlich, wenn die Individuen die Entwicklung des neuen geistigen Organs in sich versäumt haben, so dass sie die von ihnen durchlaufene Geschichtsentwicklung nicht adäquat verstehen können, weshalb für sie scheinbar „Alles beim Alten“ bleibt, obwohl dieser Schein trügt („Wirklichkeits-Anschein"; 2 Thess. 2,11).
Der himmlische Koordinationspunkt ist das neue Jerusalem, das von Gott her aus dem Himmel herabkommt, und wir dürfen annehmen: unsichtbar herabkommt, soll heißen nur im Auge des Geistes ersichtlich, nicht sinnlich mit den Augen. Darauf muss der Kompass der Christlichkeit, oder besser: der Kompass christlicher Geistigkeit ausgerichtet sein. Dann wird dieses Geschehen – es ist ja ein Agieren – „himmlisch beobachtbar“ sein. Das Jerusalem kommt geistesgeschichtlich auf die Menschheit zu, und zugleich haben die Individuen auf es zuzugehen, was in der Entfaltung spiritueller „Geistesgegenwart“ praktisch umgesetzt wird.
Auf diese Weise ereignet sich, so kann man abgewandelt auch sagen, „Gottes Sein unter den Menschen“, aber nicht in allen, sondern nur in demjenigen Teil, der „geistesgegenwärtig“ geworden ist und die Ankunft oder Wiederkunft Christi als Umwandlungsereignis menschlicher Wirklichkeitswahrnehmung in der Geisterfahrung realisieren kann.
***
Ich lasse diese Andeutungen so stehen und werde im Schlusskapitel noch die Frage rechter Christlichkeit aufwerfen, indem ich der Frage nachgehe, inwiefern die Bibel Anhaltspunkte dafür bietet, dass zwischen einer Petrus-Wahrnehmung und einer Johannes-Wahrnehmung zu unterscheiden sei, mit der zu ziehenden Konsequenz, ob neben einer (sinnlich-sichtbaren) Petrus-Tradition auch noch eine (unsichtbare, kaum greifbare) Johannes-Tradition ins Auge gefasst werden müsse – eine „Tradition“ des „Geistes“, deren Kontinuität erst noch zu suchen und zu finden ist, über das nun spirituell zu verstehende heilsgeschichtliche Reißverschlussverfahren.
Die c)-Variante der Religiosität kann eigentlich nur philosophisch gefunden werden, denn a) und b) haben Gott zum Gegenstand und Haltepunkt der Reflexion, indem hier der Mensch als Mensch dem Gott als Gott gegenübersteht. Die Philosophie aber interessiert sich gar nicht so sehr für das Gott-sein Gottes und mehr für das Sein Gottes. Im Gott-sein Gottes steht der Mensch Gott gegenüber, so dass hier ein Unterscheidendes betrachtet wird, eine Differenz.
Der Philosoph kann über diesen "Standpunkt" hinauskommen, indem er Gott "entnominalisiert", gemäß dem Universalgegenstand der Philosophie, der das Sein ist, das Sein selbst, das alles und alle umfasst. In ihr wird also ein Gemeinschaftliches zwischen Mensch und Gott betrachtet, eine Identität, auch wenn eine Analogia entis problembehaftet sein mag.
Damit beraubt der Philosoph Gott nicht seines Herr-Seins und seines All-Mächtig-Seins, sondern tut im Grunde das, was Gott im altisraelitischen Verständnis selbst haben will: nicht beim Namen genannt zu werden. Durch die Entnominalisierung ist die Benennung Gottes resp. der existenzielle Abstand des Menschen zu Gott "aufgehoben" - und so kann "Gott" erst eigentlich in den Blick genommen werden, als der oder das Wesen, das er in sich selbst ist.
Den entscheidenden Punkt und Unterschied haben wir bereits zu sehen bekommen bzw. durchlaufen: In der Theologie muss der Mensch vor Gott haltmachen, in der Philosophie kann er – „ihn“ begreifend (und entnominalisierend) als „das Sein selbst“ – in ihn hineingehen, durch ihn hindurchgehen und in seiner Schöpfung dann – im Durchgang durch ihn und das Verständnis für ihn – wie auf „seiner anderen Seite“ herauskommen, bei sich selbst in seinem Hier-und-Jetzt-Sein als Mensch der Moderne, für welches in der Philosophie ja eine plausible Erklärung gesucht ist. Ziel der Philosophie ist die Seinserkenntnis, und weil Sein zugleich auch Existenz oder Selbstsein ist, auch die Selbsterkenntnis. Der Mensch sucht in und mit ihr also eine Erklärung seiner selbst in seinem Dasein, ein Verstehen seiner selbst, ein Selbst-Verständnis. Existenz und Dasein sollen verständlich sein, sollen selbstverständlich werden, sollen sich von selbst verstehen können. Einen solchen universalen Erkenntnisversuch unternimmt keine Wissenschaft und keine Theologie, einzig die Philosophie. Nur in der Philosophie kann der Mensch eine Erklärung seiner selbst finden, und darin ist ihr Beginn, das existenzielle Fragen nach dem Ganzen des Seins (inkl. dem Menschen) mitenthalten und „in sich aufgehoben“.
***
Es sei offengelassen, welchen Sinn Kafka selbst mit seinem Satz verbindet. Ich betrachte ihn als den Schriftsteller der „gespaltenen Verhältnisse“, die sich bis in den Erhalt seines Werkes hineinziehen, indem sein letzter Wille der Werksvernichtung unerfüllt blieb. Sein literarisches Hauptthema ist die „Störung“, die er wohl perfekt inszenierte. Er thematisiert das, was für gewöhnlich übergangen bleibt, als existierte es nicht – dieses Existieren in der Un-heimlichkeit, Un-geborgenheit, Befremdlichkeit, das ist ja selbst die große Schwebe, die man nicht leichtfertig in einem Willkür-Meinen zur Seite (des Lebens) legen, beseitigen und sich im Unbewussten verlieren lassen darf, sondern unbedingt zur Sprache bringen muss, sich vor Augen führen und aushalten.
Es ist der notwendige Moment des Innehaltens, der vollbewussten Selbstwahrnehmung des eigenen Verstört seins inmitten der gewordenen Verhältnisse, ein Anstoßnehmen am „Lauf der Dinge“, ein Stutzig werden am Sich-in-der-Ordnung-befinden, ein Gespür haben oder auch erst Ohr bekommen für den Anschein des In-der-Ordnung-Seins-der-Dinge, welches ein Eintreten können einer (künftigen) Besonnenheit vorbereitet und überhaupt erst möglich werden lassen kann.
Und dieses „Störungsbewusstsein“ fehlt in unserem Wissenschaftsbetrieb noch gänzlich, scheint mir, und so läuft sich bei uns hier und heute eine hyperaktive Wissenserzeugungsmaschinerie in sich tot, - wir betrachten sie jetzt befremdlich, mit Kafka-Augen -, und trotzdem rattert sie weiter, immer weiter, und ist einfach weder „tot“ noch „besonnen“ zu kriegen, ein gespenstisches Perpetuum mobile...
...und die Menschheit steht dumm und fassungslos ihrem eigenen Hyper-Riesen und Intelligenz-Monstrum gegenüber, das ein abstraktes, von ihr abgetrenntes, virtuelles Dasein führt, und von welchem sie sich dennoch bestimmen und führen lässt...
Noch niemals wurde von so Vielen so viel gewusst wie heute, und noch niemals war der Eindruck, die Menschheit sei komplett irre geworden, so groß wie heute, was aber nur jener Teil bemerken kann, der ein solches Störungsbewusstsein in sich entfaltet, wie Kafka es vorgemacht hat - und wie viele oder wie wenige Wissenschaftler jeweils darunter sind, vermag ich nicht zu sagen. – Analog habe ich oben versucht, ein Störungsbewusstsein bzgl. unseres Wirtschaftsbegriffes zu erzeugen, dem dann ein Störungsbewusstsein unserer eigenen Vernunft, also unseres „Vernehmens oder Wahrnehmens der Dinge“ auf dem Fuß folgen muss, müsste, hätte erfolgen müssen...
***
Wie soll man nun auf ein so großes und aufmerksames Sprach-Kompliment, wie Kafka es in seinem deutschen Satz gibt, erwidern können? Ich will es – notdürftig – über ein hebräisches Verb versuchen, welches einerseits zum sprachlichen Allgemeingut geworden, anderseits ein reiner Ausdruck der Freude ist: „Halleluja“ leitet sich ab von „hillel“ = „jubeln“ und bedeutet „Preisen lasst uns Gott“, bei uns liturgisch gebräuchlich als „Lobe den Herren“ (Te Deum) oder als „Ehre sei Gott in der Höhe“ (Gloria). Und dann kann man daraus ableiten und wissenschaftlich formulieren: Die hebräische Gottesbezeichnung (JHWH = Jahwe, hier in der Kurzform Ja: Hallelu-Ja) hat dieselbe Lautung wie die deutsche Partikel der Affirmation. - Besser, aus der Wissenschafts-Fremdsprache in die literarisch-allgemeinverständliche Muttersprache übersetzt, zugleich in Formulierungs-Anlehnung an Kafka: Das Wort „Ja“ bedeutet beides, im Hebräischen Gott und im Deutschen den Akt der reinen Zustimmung.
Als Geste entspricht dem „Ja“ das Kopfnicken (wenngleich nicht überall), also eine Vertikalbewegung des Kopfes, das die Verbindung zwischen Oben und Unten herstellt. Umgekehrt entspricht dann das Kopfschütteln dem „Nein“, das sich etymologisch von „nicht eins“ ableiten lässt, so dass die Horizontalbewegung des Kopfes einen Schnitt zwischen Oben und Unten symbolisiert. Dann steht das Ja (= Nicken) für ein Sich-verbinden-wollen mit dem Ganzen des Seins, das Nein (= Kopfschütteln) hingegen für ein Sich-abtrennen-wollen.
ZWISCHENÜBERBLICK A-H
A. EINLEITUNG
1. Braucht die Philosophie auch eine Wissenschaftsform oder sollten vielmehr unsere Wissenschaften sich zur Philosophie reformieren?
a) Die Wissenschaften haben die Philosophie
überholt
b) Das unüberholbare existenzielle Wesen der
Philosophie
c) Die Philosophie überholt die in ihrem Fachwissen
unbeweglichen Wissenschaften wieder
2. Thema und Methodik dieses Textes
a) Vergegenständlichung unseres modernen
Selbstverständnisses in der Philosophie
b) Philosophische Umformung unseres Selbstverständnisses im
terminologischen Thema-Durchlauf
B. MODERNE
3. Warum überblicken wir unsere eigene Geschichte nicht?
a) Europäische Geschichtseinteilung und Raumeroberung des
gemeinsamen Globus
b) Halbheit unserer Geschichtserkenntnis und
subjektive Gegenwarts-Monopolisierung
c) Gibt es die „Gegenwart“ schon immer?
C. ALTES SEIN
4. Sind wir in unsere eigene Geschichte geistesgeschichtlich erst eingetreten?
a) Die Philosophie entspringt als Verlustausgleich einer
Defizitentwicklung
b) Sokrates ist die geistesgeschichtliche Schnittstelle
zwischen Sophia und Philo-Sophia
c) Inhalt der altgriechischen Naturbetrachtung: Das Erwachen
des Europäers zum Mit-Sein
d) Mit Sokrates zieht der Logos als (Nicht-)Wissen in den
Menschen ein
e) Die Vorsokratiker nehmen sich selbst inmitten des
Ewigkeitshorizontes wahr
f) Der Europäer beginnt, sich als „kleine Ewigkeit“ aus der
„großen Ewigkeit“ herauszulösen
D. GEGENWART
5. „Gegenwart“ ist die Sammlung menschlicher Individuen in ihr gemeinsames, menschheitsgeschichtliches Wesen
a) Terminologisch gesehen ist „Gegenwart“ kein Warten und
kein Ausschau halten
b) Der Geschichtsstau zeigt
unsere historische Anthropozentrik und immer noch fehlende
zeitliche Objektivität oder Selbstrelativierung
an
c) Das „Gegen“ der Gegenwart ist die Bewegung
der Geschichte
d) Liegen auch den Naturdingen
Ideen zugrunde?
e) Ist das Auffinden der „Idee
unserer selbst“ ein Ereignis unserer
Geistesgeschichte?
f) Das „Wart“ der Gegenwart
ist unser Gewahr werden unseres geschichtlichen Bewegt
werdens
6. Mit der „Gegenwart“ sind wir ins Zentrum der Seinsveränderung gelangt
a) Ist das Ich eine Konstante oder eine
Variable?
b) „Zukunft“ und „Vergangenheit“ sind
Außenansichten werdender oder gewesener
Ich-Gegenwart
c) „Gegenwart“ ist die „kleine
Ewigkeit“ des Ich, die sich in die universale „Anderswerdung“
schwer hineinfindet
E. ANGENOMMENE MISERE-SITUATION
7. Wir müssen unsere prekäre Geistessituation in der Gegenwart sehen wollen
a) Einleitend: Gehen lernen im Geiste
b)
Warum denn „Misere“?
c) Wir müssen unsere Misere
„annehmen“, um sie „denken“ zu können
8. Beruht unsere Isolationssituation auf einer kosmischen Interaktion mit uns?
a) Wir haben zwei kosmische Denkmodelle, wobei unsere
Aufzählung falsch ist
b) Zur methodischen
Erinnerung
c) Kann eine Verkehrung des Seins
spiritualistisch gesehen Sinn machen?
F. UNSER
9. Warum lebt die Menschheit nicht in ihrer Idee?
a) Wir sind noch gar kein Wir geworden
b) Ist
„die Menschheit“ eine Idee, die die Individuen aus sich heraus
erst noch zu gebären haben?
10. Sind wir werdende Geistwesen mit noch schlechter
Selbstwahrnehmung?
a) Der Geisteswissenschaftler sieht, was der
Naturwissenschaftler übersieht
b) Gründet unser
Eindruck der Nichtexistenz der Geistwelt im vergessenen
„Kali-Yuga“?
c) Ist die Geisteswissenschaft die
unbedarfte Stiefschwester der im Leben stehenden
Naturwissenschaft?
11. Liegt eine „Idee unserer selbst“ in uns, die wir annehmen müssen und zugleich nicht können?
a) Die Vergänglichkeit des Seins und unser Wille zu
bleiben
b) Ist unser Lebenswille
unvernünftig?
c) Wir haben eine doppelte, in sich
zweifelhafte Wirklichkeitsausrichtung
12. In der Philosophie ist der Tod methodisch in Kauf zu nehmen
a) Kann der Wahrheitswille den Zweifel des Lebenswillens ent-scheiden?
13. In der Religion wird Gott vom Menschen nicht sein gelassen
a) Ist Gott nur eine anthropozentrische Rolle und
Hilfsfunktion?
b) Religion ist das Unvermögen,
den Lebenswillen mit der Vernunft zu
durchdringen
c) Ist Gott absichtlich in seine
Nichtexistenz, in den „Wirklichkeits-Anschein“
verschwunden?
d) Anmerkung: Wie die Bibel gelesen
werden muss
e) Was hat Gott sich bei seiner
Schöpfung gedacht?
G. NEUE WAHRNEHMUNG
14. Zu meiner Person
15. Zu meinem Denken
a) Ursachen oben: Das Gestoßen werden meines Denkens - Einschläge des Außerirdischen
a1) Richtungsstoß 1: Ein Schlüsselerlebnis mit einem Schlüssel (im Vorschulalter)
a2) Richtungsstoß 2: Eine Präexistenz-Erinnerung mit einer
himmlisch-irdischen Auftragserteilung (im begonnenen
Grundschulalter)
a3) Richtungsstoß 3: Neue Leiberfahrung durch
Strömungsbewegungen (seit den ersten Studienjahren)
b) Wirkungen unten: Mein Denken in Richtung Vergeistigung
des menschlichen Lebens
b1) Ein neuer Blick in die Bibel: Relative Gültigkeit des Wortes Gottes?
b2) Noch ein neuer Blick in die Bibel: Biblisches
Hinaufhören und In-Sein führt in die
Geistwelt
16. Zum Wissenschaftskriterium der Nachprüfbarkeit
17. Rechenprobe „Geburtshoroskop“: Nachweis
einer kontinuierlichen Verbindung des Unten mit dem Oben?
18. Offene Frage
H. ABC-VERSUCH
19. Warum ein „ABC-Versuch“?
20. Der weisheitslose Weg unserer Erforschung des Universums
21. Sokrates – Platon – Aristoteles: Das Scheitern einer
auf sich selbst gestellten Suche nach Weisheit
a) Der Sokrates-Weg der Suche der Weisheit unter den Menschen erwies sich als unmöglich
b) Der Platon-Weg der Suche der Weisheit in kosmischen
Weiten erwies sich als unmöglich
c) Der Aristoteles-Weg der Suche der Weisheit im Irdischen erwies sich als unmöglich
22. Die Philosophie suchte nach der verlorenen Weisheit, anstatt deren Verloren sein zu ergründen
23. Die Weisheit kam von selbst zum Menschen zurück
24. Europäische Entkolonialisierung (Genesis 1) und menschheitliche Entnominalisierung (Genesis 2)
25. Vom Untergang des wissenden, aber weisheitslos gebliebenen Menschen
26. Der „Name“ als äußerliche und innerliche
Benennung